Akris wird 100! Albert Kriemler, Chefdesigner der dritten Generation des St. Galler Familienunternehmens, ist ins Archiv gestiegen – und hat Zeitlosigkeit gefunden.

Er ist frisch vom Wandern im Engadin zurück. Und aus Nordspanien, wo er ein paar Tage mit Freunden verbracht hat, bei Ebbe am Strand joggen ging – und ja, auch ein paar Telefonate erledigen musste. Jetzt, da der Sommer sich langsam davonschleicht, fühlt sich Albert Kriemler belebt von den Ferien und inspiriert von der rauen Landschaft am Atlantik («Ich liebe das intensive Grün der an den Strand gespülten Algen!») und freut sich, seine fünfzig engen Mitarbeiter von Akris wiederzusehen. Nur noch wenige Wochen sind es bis zur Fashion Week in Paris, wo am 1. Oktober zum 100-Jahr-Jubiläum der Marke die Kollektion für Frühjahr/Sommer 2023 präsentiert werden soll.

Albert Kriemler empfängt uns dort, wo er sich am wohlsten fühlt: in jenem historischen Backsteinhaus im Zentrum von St. Gallen, dessen halbes Parterre seine Grossmutter Alice einst erworben hatte. Der Estrich ist heute ein Studio, wo an der Wänden Entwurfskizzen hängen, jeweils mit einem Muster des Stoffes, aus dem das Teil dereinst gefertigt werden soll. Diese Liebe fürs Handwerk, diese Freude an der Sinnlichkeit von Wolle, Seide und Taft: Sie ist eines der Markenzeichen von Akris. Das Studio ist so etwas wie ein Lichtmagnet, ein Ort, an dem die Ideen fliessen: «Inzwischen breitet sich die Firma auf drei nebeneinanderliegende Gebäude aus», erzählt Albert Kriemler. «Ich hatte mein Atelier auch schon in der Nähe der Konfektion oder der Schnittmusterherstellung, aber ich komme letztlich immer wieder hierher zurück, unters Dach.»

Zusammen mit seinem jüngeren Bruder Peter, dem die kaufmännische Leitung unterliegt, repräsentiert Albert Kriemler die dritte Generation am Ruder des 1922 gegründeten Familienunternehmens, das in der Anfangszeit Schürzen und Arbeitsbekleidung herstellte. Seit 2004 ist Akris im Kalender der Fédération Française de la Haute Couture et de la Mode verzeichnet; die saisonalen Zusammenkünfte in Paris untermauern den internationalen Aufstieg der Firma, der sie vom beschaulichen St. Gallen in die Top-Etagen von Showbiz und Politik geführt hat. Modeaffine Serienfans erkennen den V-Ausschnitt made in Switzerland an «House of Cards»-First Lady Claire Underwood (alias Robin Wright). Wer regelmässig in der «Gala» blättert, weiss, dass Charlène von Monaco selten in etwas anders gekleidet aus dem Haus geht (dieses sonnengelbe Spitzenkleid, das sie Juli ausführte, ein Traum!). Weitere Akris-Stammkundinnen sind Condoleeza Rice, Angelina Jolie, Doris Leuthard – und sogar Michelle Obama! Frauen, die genau wissen, welche Kraft Mode hat. Und kraftvoll, das beherrscht Akris perfekt: disziplinierte, schlichte Schnitte treffen auf allerbeste Materialien und umwerfende Muster. 

Albert Kriemler geht voraus zu einem Kleiderständer, an dem die neuesten Modelle hängen. Er streicht mit den Fingern über einen Seidenmantel, der so leicht ist wie der Luftzug, vor dem er schützen soll. Wer ihn anprobiert, fühlt sich wie in einem Kokon, dem man nie wieder entsteigen will. «Aber bitte fotografieren Sie ihn bloss nicht», sagt Kriemler. «Die Modenschau soll eine Überraschung sein!» Okay, statt sein neuestes Meisterwerk zu zeigen, lassen wir ihn erzählen. 


Die Herbst-/Winter-Kollektion 22/23 ist von den Werken des deutschen Malers Reinhard Voigt (*1940)inspiriert: Ihre auf der Quadratform basierende geometrische Ästhetik hat Voigt zu einer Art Vater der Pixelkunst gemacht. 

Wie fühlt es sich an, ein Unternehmen zu leiten, das heuer 100 Jahre alt wird?

Es ist natürlich eine Mischung aus ganz unterschiedlichen Gefühlen.  Da ist die Verantwortung gegenüber der Geschichte unseres Hauses, gegenüber meinem Team und unseren Kundinnen. Aber die Freude ist gross, dieses Jubiläum ist ein wahres Fest! Ich freue mich besonders, dass ich diesen Erfolg mit meinem Bruder Peter feiern kann: Er ist mein Sparring-Partner, visionär und immer bereit «for the next». Es war ein Glücksfall für mich, dass er sich nach seinem Studium für die Modebranche entschied. So sind wir heute ein kleines Familienunternehmen, das in der Mode seinen Platz unter den Grossen gefunden hat. 

Die Firma – die erst seit den 1960ern Akris heisst, als Ihr Vater Max dieses Anagramm erfand – wurde von Ihrer Grossmutter Alice Kriemler-Schoch gegründet. Wo ist ihr Geist heute noch spürbar? 

Überall. Alice war das achte Kind unter elf Geschwistern. Sie war unglaublich zielstrebig, unabhängig und bescheiden, aber in dieser Bescheidenheit anspruchsvoll. Sie wäre gern die Nachfolgerin ihrer Tante in deren Schneideratelier in Flawil geworden, doch so kam es nicht. Egal! Alice kaufte sich eine Nähmaschine und gründete ihr eigenes Unternehmen, in das schliesslich auch mein Grossvater einstieg. Ihre Vision ist heute immer noch relevant: Die Kriemler-Schürzen waren die einzigen, die Abnäher hatten, die sie gekonnt platzierte. Die Schnitte waren nicht nur logisch ausgearbeitet und modern, sie hatten Klasse. Wer ihre Schürzen trug, wollte diese Art von Qualität nicht mehr missen. Sie kleidete damit schon bald zahlreiche berufstätige Frauen zuerst in der Ostschweiz und dann in der ganzen Schweiz ein, Bäckerinnen, Krankenschwestern … 

Aktive Frauen, also. 

Genau! Alice hat die Philosophie eingeführt, die uns bis heute begleitet: Kleidung, in der man sich von morgens früh bis abends spät gut fühlt. Ausserdem war meine Grossmutter eine wunderbar aktive und moderne Frau: Sie lernte mit 60 Englisch, machte mit 62 ihren Führerschein und sie war Mitglied im ersten Club für St. Galler Geschäftsfrauen. Ich habe sie als schöne, dynamische Frau in Erinnerung, die schon damals ihren eigenen Weg gegangen ist. 

Haben Sie sie gut gekannt? 

Ja, denn sie wohnte bis zu ihrem Tod, als ich zwölf war, in der unteren Wohnung unseres Mehrfamilienhauses. Ich schaute jeden Abend bei ihr vorbei und übernachtete auch regelmässig dort. Wir gingen zusammen laufen, fuhren Ski und wanderten, ich liebte jeden Moment mit ihr! 

Vor 100 Jahren war St. Gallen eine Textilmetropole, die direkten Anschluss zur Modehauptstadt Paris hatte. Heute ist das anders, aber es scheint, als würden Sie und die Firma St. Gallen treu bleiben wollen. Wieso? 

Zu Zeiten des Stickerei-Booms im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war St. Galler Stickerei das wichtigste Exportprodukt der Schweiz. Zu dieser Zeit wurden die Fundamente der heutigen Stadt gelegt, einer Kleinstadt mit Anspruch, mit einem unglaublich reichen Kulturangebot und mit Weltausstrahlung in malerischer Natur. Als junger Mann war ich manchmal versucht, auf Leute zu hören, die angeblich genau wussten, was richtig für uns ist. Aber nur in St. Gallen konnte ich den Mut entwickeln, genau das zu tun, was ich selbst für Akris als richtig empfand. Als wir 2004 in den offiziellen Schauenkalender der Fédération de la Haute Couture und de la Mode aufgenommen wurden und unser erstes Defilee in Paris zeigten, war das ein sehr wichtiger Schritt für Akris. Paris brachte uns eine internationale Anerkennung und wir freuen uns, dass wir nach drei Saisons, in denen wir unsere Kollektionen aus St. Gallen als Film der Welt präsentiert haben, jetzt zum 100-Jahr-Jubiläum mit unserem Defilee nach Paris zurückkehren, um in ein neues Jahrhundert aufzubrechen. 

Und? Wie sieht die Kollektion zum Hundertjährigen aus? 

Die Inspiration für die Kollektion sind meine Vintage-Kleider aus den späten 70ern, den 80ern und frühen 90er-Jahren. Die Frage, die uns umtrieb, war: Was macht Akris einzigartig? Dazu sind wir ins Archiv gestiegen und haben Modelle herausgesucht, die uns besonders wichtig schienen. Als Kulisse für das Shooting der Archiv-Kleider für das Jubiläumsbuch haben wir mit einem der besten Architektur-Fotografen unserer Zeit, Iwan Baan, den ersten Trakt der Uni St. Gallen gewählt: Walter M. Förderers grossartigen brutalistischen Bau von 1963, bestückt mit visionären Kunstwerken, die damals Mut erforderten, um sie zu installieren: eine Skulptur von Hans Arp, ein Mobile von Alexander Calder, ein wunderbarer Wandteppich von Pierre Soulages … Bei diesem Shooting wurde mir klar, wie zeitlos unsere Kleider aus diesen Jahren sind. Ich finde, eine Frau sollte das Recht haben, ein Kleid über Jahre tragen zu können, ohne dass es seinen Bezug zur Aktualität verliert. 

Moment: Sie haben jedes Modell aus sämtlichen Kollektionen noch im Archiv?

Nicht alle. Von der Ära meiner Grossmutter und meiner Eltern gibt es fast keine Archivteile, aber aus den mehr als vierzig Jahren meines kreativen Schaffens ist vieles da. Hier: Probieren Sie diesen nachtblauen Kaschmirmantel aus dem Jahr 1979 an! Er war Teil meiner allerersten Herbst-/Winterkollektion, da war ich knapp 20 Jahre alt! Ist er nicht wunderbar modern, mit den breiten Schultern und seiner weichen Drapierung? 

Stimmt! Und er sitzt, als wäre er am Körper gewachsen. 

Wir werden ihn für die Jubiläumskollektion neu auflegen. Er ist so gut gealtert. Oder eher: Er wirkt heute in seinem Volumen fast moderner als damals. Zu dieser und weiteren Neuauflagen von Modellen aus den Jahren 1979 bis 1992 werden natürlich neue Entwürfe stossen. Ich muss sagen, das Eintauchen in die Archive hat mir grossen Eindruck gemacht und auch mein Team sehr beflügelt. Derzeit lassen wir in Calais einen Spitzenstoff von 1983/84 nachproduzieren. Spitze ist heikel, sie wirkt rasch altmodisch. Aber diese ist einfach umwerfend und unser Stofflieferant legt sie nun knapp 40 Jahre später noch einmal für uns auf. 

Was macht ein Kleidungsstück zeitlos?

Nehmen Sie unseren Doubleface-Kaschmirmantel Alpha aus der Kollektion von 1978. Heute verwenden wir immer noch genau das gleiche Material, weil es einfach das Beste ist.  Wenn ein Stoff wirklich schön ist und dabei modern aussieht, bleibt er richtig. Da halte ich es mit dem österreichischen Architekten Adolf Loos und seiner Aussage über Materialen, dass alles Neue nur des Neuen willens völlig überflüssig ist. Das was schon vollkommen ist, kann nicht übertroffen werden.

Ihr Ansatz ist in der Tat sehr architektonisch … 

Ein gutes Kleidungstück zu tragen, ist immer ein bisschen, als ob man es bewohnen würde. Ich interessiere mich für Architektur und sie hat grossen Einfluss auf meine Entwürfe. Aber die Inspiration kann einen guten Schnitt oder tollen Stoff nicht ersetzen. Es geht stets um ein Zusammenspiel von Schnitt, Stoff, Fall und Farbe, aber vor allem auch um ein gutes Tragegefühl. Nur dies erfüllt die Voraussetzung, dass sich Kleider selbstverständlich anfühlen. Dann entsteht die Freiheit in der Bewegung, in der man immer gut aussieht. Dann fühlt man sich wohl. Wenn ich sehe, was ein Schnitt, ein Stoff in der Bewegung im Raum machen, erkenne ich den Wert eines Kleides. Das fasziniert mich seit Beginn meiner Arbeit. 

«Selbstverständlich»: ein Wort, das Sie oft benutzen.

«Selbstverständlich» lautet der Titel des Buches zum 100-Jahr-Jubiläum, das wir mit dem Zürcher Verleger Lars Müller entwickelt haben und das derzeit gedruckt wird. Ich glaube, dass dieses Wort am besten beschreibt, was wir versuchen, mit Akris umzusetzen. Design ist heute in allen Lebensbereichen präsent. Aber erst wenn es auch im Gebrauch selbstverständlich ist, bekommt es Sinn und Relevanz. Wichtiger als die äusserliche Erscheinung ist das innere Gefühl, das ein Kleidungsstück bei der Trägerin auslöst. Inszenierte Mode verliert ihre Modernität allein durch die Tatsache, dass sie kompliziert ist. Ich versuche entschieden, eine Leichtigkeit zu verwirklichen, denn ich bin überzeugt davon, dass es gerade in der heutigen, komplexen Welt darum geht, Mode zu entwerfen, die auf den ersten Blick einfach selbstverständlich erscheint. 

Stichwort Mode: Die Branche steckt in der Krise und muss sich angesichts der Klimaproblematik grundlegende Fragen stellen. Welchen Einfluss hat dies auf Ihre Arbeit? 

Es ist klar, dass sich keine Marke damit begnügen kann, im Namen der Sparsamkeit immer wieder das gleiche Modell zu wiederholen. Die Erneuerung ist unerlässlich für das Vergnügen, sich zu kleiden, sich auf die Begegnung mit den Mitmenschen vorzubereiten. Kreation beruht auf diesem Bedürfnis. Letztendlich muss aber jedes Unternehmen seinen eigenen Weg finden. In unserem Studio wird nichts gezeichnet, was nicht auch in unseren eigenen Ateliers in Mendrisio oder Rumänien gefertigt wird; unsere Stoffe stammen zu fast 90 Prozent aus Europa. Auch der Vertrieb ist unter Kontrolle: Wir haben 25 Boutiquen weltweit, der Austausch zwischen den Verkaufsstellen ist so organisiert, dass Überschuss vermieden wird.

Was ist mit dem Trend hin zum Legeren? Braucht es überhaupt noch formelle Kleidung? 

Der Homeoffice-Boom hat einiges verändert. Aber natürlich braucht es jetzt erst recht wieder festliche Kleider und den Anzug fürs Office. Wir spüren da gerade sogar eher ein grosses Zurück, die Menschen haben wieder Lust, sich schön zu kleiden und dem Vis-à-vis über die eigene Kleidung Respekt zukommen zu lassen. Mich persönlich stört es nicht, dass immer mehr Frauen flache Schuhe tragen, denn meine Outfits sind vielseitig: Ein Akris-Kleid kann mit hohen Sandalen kombiniert werden, zu Turnschuhen, es funktioniert barfuss am Strand … Am Ende ist und bleibt es ein ultimativ modernes Kleid. 

Ihre Taschenkollektion, 2012 lanciert, ist ebenso zeitlos gehalten. Ihre A-Form spielt auf den Markennamen an, ohne ein Logo zu benutzen. 

Es ergab sich die Gelegenheit, diese Firma zu kaufen, die seit 1929 Taschen aus Rosshaar herstellt. Rosshaar ist ein subtiles und doch unglaublich robustes Naturmaterial und ein Stoff, den wir seit Jahrzehnten in Schulterteile und Revers bei Jacken einarbeiten. Die Trapezform ist ein Rechteck mit umgeschlagenen Ecken, inspiriert vom trapezförmigen Pavillon der mexikanischen Architektin Tatiana Bilbao im Jinhua Architecture Park in China.  Die Form erinnerte mich an das A in Alice, Akris, Albert, so wurde das Trapez zu unserem Markenzeichen. Kennen Sie die Geschichte hinter dem Namen Ai? Wir benennen jedes Taschenmodell nach einem erfolgreichen Pferd aus dem Reitsport, das mit A beginnt, so auch die Ai. Ai war ein schönes, japanisches Dressurpferd. Erst später erfuhr ich, dass das Wort in mehreren asiatischen Sprachen «Liebe» bedeutet. Und Liebe wünsche ich heute jedem.