Alexandre Couillon weiss, wie man die Landschaft der Vendee auf den Teller bringt. Damit hat er es von null auf die Liste der hundert besten Köche der Welt gebracht.
Am äussersten Ende der Insel Noirmoutier, die nur durch eine schlanke Brücke mit dem französischen Festland verbunden ist, liegt der Hafen von L’ Herbaudière. Vom Atlantik umspült, sieht man Wellen, soweit das Auge reicht. Hier, quasi am Ende der Welt, hat der Chefkoch Alexandre Couillon mit seiner Frau vor über 20 Jahren das alte Familienrestaurant übernommen – und später einen Holzofen, einen Biotrockner für Lebensmittelabfälle und seine selbstgemachte Hefe eingeführt. Nach einem harzigen Start an diesem Ort, der lediglich im Sommer von Familien besucht wurde, ist der Küchenchef heute mit Auszeichnungen dekoriert: drei Michelin-Sterne, 19/20 Gault-Millau-Punkte, ein Platz auf der Liste der 100 besten Restaurants der Welt. Vor allem aber gilt Couillon als Pionier eines gastronomischen Ansatzes, der auf Produkte setzt, die, ja: mehr als lokal sind. Der Fisch? Wird ausschliesslich auf dem Fischmarkt von L’ Herbaudière gekauft und kommt sozusagen direkt aus dem Meer. Das Gemüse? Wächst in den 4000 Quadratmeter grossen, vom Küchenchef gehegten Gärten auf der anderen Seite der Brücke. Fleisch? Nicht in dieser Küche, denn die Gegend eignet sich wenig für die Aufzucht von Nutztieren. Das Restaurant ist trotzdem immer voll, denn Feinschmecker kommen hierher, um den wahren Geschmack aus der Vendee zu finden: diese einzigartige Kombination aus Gemüse, das in jodreicher Luft herangewachsen ist, und fri-schestem Fisch – Aromen, wie man sie an keinem anderen Ort der Welt so intensiv erleben kann. Und was kommt im Moment auf die Teller? Jakobsmuscheln aus der Bucht von Bourgneuf an gehobelten Kastanien und einem Fond aus Knollensellerie, zum Beispiel.
Nach eine kleine Pause – zum einen pandemiebedingt, zum andern, weil im Dezember und Januar eh kein Gemüse am Meer wächst – öffnet Alexandre Couillon in diesen Tagen sein Restaurant wieder. Am Telefon erzählt uns der Chefkoch, wie er die Auszeit genutzt hat, um mit seiner Familie am Strand von La Linière zu verweilen. Und natürlich von der Herausforderung, auf einem vom Wind gepeitschten Felsen ein kulinarisches Universum aus dem Nichts zu erschaffen. Couillon spricht schnell und viel, aber vor allem mit einem Enthusiasmus, der berührt. Und so anschaulich, dass man es kaum erwarten kann, dereinst an einem Tisch im «La Marine» Platz zu nehmen, die Sicht auf die Segelboote zu geniessen und Gerichte zu kosten, die von der Liebe zur Natur, vom Streben nach Perfektion und der Überzeugung geprägt sind, dass auch die simpelste Zutat ihren Moment des Ruhms verdient hat.
Wie geht es Ihnen in dieser für die Hotel- und Gastrobranche so schwierigen Zeit?
Die Lage ist wirklich sehr instabil. Die Coronakrise hat eine tief-greifende Veränderung beschleunigt, die sich in unserem Gewerbe ohnehin bereits abgezeichnet hatte. Ich möchte mich deshalb noch mehr auf den Ansatz fokussieren, den ich seit einigen Jahren verfolge: Wir schaffen Arbeitsbedingungen, die anders sind.
Wie wollen Sie das erreichen?
Ganz einfach: Indem wir uns mehr Zeit nehmen. Als ich mit meiner Frau Céline im Jahr 1999 das Restaurant übernahm, waren wir nur zu zweit – und 23 und 24 Jahre alt. Heute umfasst unser Team in der Hochsaison 37 Personen. Um dies zu erreichen, haben wir immer vollen Einsatz gegeben und uns nicht einen Moment der Auszeit gegönnt. Wir alle wissen, dass unser Tempo zu hoch ist, dass uns die Zeit fehlt, unsere Kinder aufwachsen und unsere Eltern alt werden zu sehen. Ich möchte aber weder mir noch meinen Angestellten vorenthalten, was wirklich wichtig ist – nämlich, Zeit mit seinen Liebsten zu verbringen, auch mal auf den Putz zu hauen und sich aufs Menschsein zu besinnen. Wir brauchen mehr Musse. Deshalb haben wir die Vier-Tage-Woche eingeführt: Das ganze Team hat Sonntag, Montag und Dienstag frei. Wir haben ebenfalls beschlossen, unser Restaurant jedes Jahr für zwei Monate zu schliessen.
Das Geheimnis heisst also: Zeit?
Nicht nur! Ein Team braucht auch ein gemeinsames Projekt, das der Arbeit Sinn gibt. So entwickeln wir dieses jahr zum Beispiel zusammen einen Essig und experimentieren mit Fermentierungsprozessen. Der Einbezug des ganzen Teams erfordert Vertrauen und ist anspruchsvoll. Man muss mit Personen zusammenarbeiten, die dieselben Werte teilen. Nur so kann man ein Team langfristig binden und das Leben für alle angenehmer gestalten. Eine weitere Herausforderung liegt darin, die Gastrobranche den kommenden Generationen schmackhaft zu machen. Im Moment haben sie wenig Grund, sich dafür zu begeistern.
Sie haben selber zwei Töchter.
Richtig. Emma, die ältere, ist 19 und eine leidenschaftliche Köchin. Es ist ihr in die Wiege gelegt! Wir haben uns bemüht, es ihr auszureden – wir wissen ja, wie hart dieser Beruf ist. Aber sie hat bereits drei Praktika in tollen Häusern absolviert und möchte nach Abschluss des Schuljahres weitermachen. Es freut mich zu sehen, wie sie in der Küche aufblüht, aber ich wünsche mir für sie, dass sie es anders macht als wir einst und nicht alles für den Beruf opfert. Meine Jüngere, Marie, ist 17 und begeistert sich für Mode. Sie eine geschickte Schneiderin.
Sie gehören wohl nicht zu diesen breüchtigten jähzornigen Chefs mit militarischem Führungsstil, oder?
Gar nicht. Ich bin anspruchsvoll, das schon, aber ich bin auch immer vor Ort. Ich bin stolz darauf, noch nie eine Schicht verpasst zu haben. Wenn ein junger Mensch beispielsweise aus Chicago anreist, um bei uns zu arbeiten, dann ist es doch das Mindeste, dass ich da bin. Die Küche ist ein Ort, wo man gut korrigieren, zeigen, Wissen weitergeben kann. Aber: Wenn ich die Zero-Waste-Regel einführe und einen leeren Abfallkübel predige, muss ich dies natürlich zuerst selbst können. Wir haben das Glück, in einer Region zu leben, in der es uns an nichts fehlt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass das nicht überall so ist. Verschwendung ist inakzeptabel.
Wie überträgt sich diese Haltung auf Ihre Gerichte?
Unsere Speisekarte hat sich eindeutig weiterentwickelt. Wenn wir vor fünf, sechs Jahren einen bestimmten Fisch brauchten, bestellten wir ihn bei anderen Fischmärkten oder holten ihn in Noirmoutier. Heute arbeiten wir ausschliesslich mit dem Fischmarkt von L’ Herbaudière zusammen: auf dem kürzesten Weg, den es gibt. Alles, was wir servieren, wurde am gleichen Tag gefischt oder im Garten gepflückt.
Wenn Sie „wir“ sagen, meinen Sie dann auch sich selbst?
Natürlich, ich bin jeden Morgen mit meinem Team hier. Auch weil ich die Auswahl und die Mengen kontrollieren möchte: Wir kaufen genau das ein, was wir für den Tag brauchen. Ich will weder Lagerbestände noch Abfall, sondern nur komplett frische Produkte. Dafür fangen wir jeden Tag von Neuem an.
Was machen Sie, wenn Sie nicht genügend von einem bestimmten Produkt für Ihre zwanzig Gäste bekommen? Gibts dann Mini-Portionen?
Ganz sicher nicht! Unsere Gäste kommen von weit her zu uns und haben oft Monate im Voraus reserviert, um einen schönen Moment zu geniessen, da erwarten sie zurecht grosszügige Portionen. Wenn es zum Beispiel tollen Petersfisch gibt, aber nur zwei Stück davon, und etwas Hummer und Seehecht, dann stelle ich mir im Geiste unseren Speisesaal vor und teile auf: Der Sechsertisch bekommt den Hecht, der Zweiertisch den Petersfisch und so weiter. Wir servieren allen die gleichen Beilagen, aber variieren den Fisch.
Schielen die Gäste nicht auf die Teller der Nachbartische?
Wir erklären ihnen unseren Ansatz: Sie essen, was das Meer hergibt. Ich muss mich dem Fang des Tages anpassen, nicht umgekehrt. Wenn die Makrelen zum Beispiel eher gross sind, 600 bis 700 Gramm, legen wir sie etwas länger in Salz und Zucker ein, bevor sie geschmort werden. Das lernen die Jungen hier: Rezepte sind gut, aber wahres Können bedeutet, sie an das reale Leben anzupassen. Das Konzept vom noblen Fisch, wie es in Hotelfachschulen gelehrt wird, ist veraltet. Für mich sind alle Fische nobel. Hering? Sardine? Köstlich! Vor allem, wenn sie direkt aus dem Meer kommen.
Gibt es etwas, was Sie in all den Jahren dank den Fischen gelernt haben?
Ich habe gelernt, auf das Meer zu hören, auf die Haut der Fische zu achten. Je nach Farbschattierung der Schuppen kann ich heute ihre Qualität beurteilen. Wenn der Wittling eine schwarze Haut mit wenig gelbem Glanz aufweist, wissen wir, dass die Qualität herausragend ist. Während meinen drei Wochen beim Küchenchef Toru Okuda in Japan musste ich übrigens richtig einstecken. Damals war ich der erste ausländische Koch in seiner Küche. Ich habe mich ganz klein gemacht und einfach beobachtet, beobachtet, beobachtet. Da wurde mir klar, dass auch wir diesen respektvollen Umgang mit dem Fisch und die schonende Behandlung übernehmen müssen. Dieses Wissen will ich weitergeben. Baptiste ist bei uns für den Fisch zu-ständig und erzählte mir neulich, wie er, nachdem er alle Steinbutte und Meerbrassen vorbereitet hatte, einen Moment innehielt und die glänzende und schimmernde Haut der Fische wie ein Gemälde bewunderte. Für diesen jungen Mann gibt es kein Zurück mehr: Nachdem er Fisch auf diese Weise betrachtet hat, wird er nie wieder welchen auf die Schnelle zubereiten können.
ich habe auch von Ihrem flambierten Kopfsalat gehört
Dafür wird ganz junger Vilandry-Kopfsalat einige Minuten blanchiert und anschliessend über Holzkohle grilliert, sodass er feine Röstaromen erhält. Wir servieren ihn auf einer grünen Crème aus Kräutern, die am selben Morgen im Garten gepflückt wurden: Petersilie, Rosmarin, Knoblauch, Öl … Dann ergänzen wir den Kopfsalat mit gesalzenen Heidelbeeren – wir haben letzten Sommer viel davon geerntet – und frischen Jungblättern: Chrysanthemen-Blüten, Kapuzinerkresse, gekräuseltem Blattsenf und roten Grünkohl-Jungblättern. Am Tisch tränken wir das Ganze mit einer Essenz aus in Butter angeschwitzten Zwiebeln. Die Zwiebeln werden wie ein Braten zubereitet, und wir verwenden den daraus ent-standenen goldenen Saft. Dieses sehr farbenfrohe Gemüsegericht hat den starken Charakter, den man normalerweise mit einem Fleischgericht in Verbindung bringt.
Ist ihr Garten ein Zaubergarten, dass da Schätze ausserhalb der Saison wachsen?
Pflanzen kann man in all ihren Stadien essen, und zudem jeden ihrer Bestandteile: Stängel, Wurzeln, Blätter, Blüten, Samen … Diese Vielfalt an Möglichkeiten verlängert die Saison ungemein! Wir haben unseren Garten seit sechs, sieben Jahren. Er verfügt über ein besonderes Mikroklima. Meine Grosseltern säten die Bohnen Ende November, um sie im März zu ernten. Wir machen es genauso, aber in gedeckten Tunneln. Die Triebe kommen bei uns aus dem Boden, wenn es in anderen Teilen Frankreichs noch friert. Ab Februar haben wir Blumen. Der Boden ist ausserdem sehr salzhaltig, weil es sich um ein ehemaliges Moorgebiet handelt und wir ihn regelmässig mit Algen düngen. Unser Jungspinat sowie die Jungblätter der roten Gartenmelde und des Amarants haben eine leicht salzige Note, wenn man sie roh isst – ein aromatisches Markenzeichen.
Frischer Fisch auf den Tisch? Der lokale Fischmarkt befindet sich direkt unter den Fenstern des Restaurants.
Sie richten sich wirklich ganz nach der Natur…
Absolut. Die grossen Kopfsalatblätter verwenden wir für Gratins für unser Personal oder unseren zweiten Standort, das Bistro «La Table d’Élise». Nichts wird entsorgt. Seit drei Jahren haben wir einen kleinen Komposter von der Grösse einer Waschmaschine. Wir sammeln alle organischen Abfälle, von der Fischgräte bis zur Brotrinde; der Komposter arbeitet die ganze Nacht – und am Morgen können wir ihm ein Substrat in Pulverform entnehmen, das wir der Erde zufügen.
Sie funktionieren also fast autark.
Ja, und ich kann es mir anders gar nicht mehr vorstellen. Einen Fisch kaufen, der von irgendwo kommt, und ihn fünf Tage lang im Kühlschrank aufbewahren – unmöglich! Klar, unser Ansatz ist eine Verpflichtung. Das macht das Leben nicht unbedingt einfacher, aber zurück können und wollen wir nicht.
Welche Trends sehen Sie auf die Gastronomie zukommen?
Die Gesundheit wird immer mehr im Fokus stehen. Die Leute werden sich einen Ruck geben müssen und nicht mehr auf Produkte verzichten, die sie nicht mögen – oder glauben, nicht zu mögen. Hier liegt es an den Köchen, kreativ zu sein! Es wird allerdings eine Herausforderung sein, sich mit lokalen Qualitätsprodukten ausgewogen zu ernähren.
Plötzlich ist es ein Vorteil, dass wir weit weg von allem sind: Das gibt uns Identität.
Als Sie anfingen, war Noirmoutier nicht gerade für gastronomische Höhenflüge bekannt. Heute ist die Region ein kulinarisches Mekka, mit Ihnen als Aushängeschild. Wie kam es dazu?
Das war nur als Gemeinschaftsleistung möglich. Als meine Frau und ich 1999 anfingen, kam ausserhalb der Hauptsaison kein Mensch hierher. Jeden Dezember sagten wir uns: «Das kanns nicht sein, wir müssen aufhören.» Erst als ich 2007 einen Michelin-Stern erhielt, entschieden wir uns, definitiv hierzubleiben. Unser Traum war schon immer, dass die Leute wegen der natürlichen Reichtümer der Region hierherkommen. Und wir haben diesen Traum nie aufgegeben. Heute wissen die Fischer, dass sie nicht Unmengen fischen müssen: Wenn sie sehr guten Fisch fangen, können sie einen höheren Preis dafür verlangen – und haben mehr Freude an der Arbeit. So konnten wir nach und nach alle regionalen Händler und Produzenten für diesen Ansatz begeistern. Lange war es ein Nachteil, dass wir weit weg von allem sind, jetzt ist es ein Vorteil: Es gibt uns Identität und Einzigartigkeit.
Sie haben kürzlich einen Lebensmittelladen im Hafen eröffnet, „Le Petit Couillon“. An Humor mangelt es Ihnen nicht? (Couillons Nachname bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie „Dummkopf“, Anm. d. Red.)
Habe ich denn eine Wahl? Als wir das Restaurant eröffneten, hing am Eingang ein kleines Schild: «Maître Restaurateur Alexandre Couillon». Die Leute fotografierten sich damit und kugelten sich vor Lachen. Das machte mich rasend! Heute ist das Schild von gastronomischen Auszeichnungen umringt. Die Leute fotografieren sich noch immer damit, aber auf eine andere Art. Ich erinnere mich noch, als ich vor einigen Jahren für die ersten Auszeichnungen nach Paris reiste, schüttelten mir manche Sterneköche die Hand und sagten: «Ein solcher Dummkopf bist du also doch nicht!»