Die Möbel und Bauten von Antonio Citterio wollen einfach nicht aus der Mode kommen. Das Erfolgsrezept seiner 50-Jahre-Karriere? Zurückhaltung!
Kleine Seh-Übung: Woran erkennt man ein Möbelstück – sagen wir ein Sofa, er hat so viele davon gemacht! – oder ein Gebäude von Antonio Citterio? Antwort: Es ist – normal. In den über fünf Jahrzehnten, in denen der Maestro des subtilen Designs die zeitgenössische Ästhetik schon prägt, hat er eine bestimmte Art von Perfektion definiert, die auf Unauffälligkeit und einem Gefühl von Selbstverständlichkeit beruht. Als ob das Sofa schon immer da gewesen, als ob es spontan in den Raum hineingewachsen wäre. «Ich hoffe, ich habe keinen Stil», pflegt er jeweils scherzhaft zu sagen.
Dieser zurückhaltende Ansatz – das Spiel mit Beige- und Ockertönen, das Feilen am harmonischen Gesamteindruck – gründet in tiefem Respekt für die italienische Handwerkskunst. 1950 in Meda nördlich von Mailand geboren, wuchs Citterio im Herzen jener Region auf, wo das Beste produziert wird, was es an modernen Möbeln auf dem Markt gibt. Schon mit sechs Jahren baute sich der kleine Antonio in der Schreinerei seines Vaters seine eigenen Spielsachen. So wundert es nicht, dass er seine berufliche Bestimmung rasch gefunden hatte: Mit 13 Jahren kam er auf die Schule für Gestaltung, mit 19 begann er sein Architekturstudium, mit 20 gründete er sein erstes Büro.
Heute ist Citterio Co-Leiter eines Studios ganz in der Nähe des Mailänder Doms: ACPV – das steht für Antonio Citterio und Patricia Viel, seine langjährige Geschäftspartnerin – ist eines der grössten und einflussreichsten Unternehmen der Branche. Mit fast 150 Mitarbeitern, mit Projekten von Dubai bis Miami Beach (wobei oft ganze Stadtteile entworfen werden, wie beim Business-Quartier Symbiosis, das soeben in Mailand entsteht). Dennoch hat Citterio nie den Spass am kleineren Format, sprich: am Möbeldesign verloren; bis heute reizt ihn die Suche nach der optimalen Verschränkung von Komfort und Schönheit. Sessel und Sofas bleiben seine Leidenschaft, die er meist – und schon seit seiner Studienzeit – bei Flexform auslebt: Als Kreativchef der Traditionsmarke verantwortet er heute deren gesamte Produktpalette, nicht nur die eigenen Stücke. Was ihn allerdings nicht daran hindert, elegantes Besteck für Iittala, Bürostühle für Vitra oder Sofas für B & B Italia zu entwerfen …
Der Salone di Mobile in Mailand, der internationale Treffpunkt für alles, was im Design Rang und Namen hat, wurde dieses Jahr von April auf Juni verschoben. Aber Antonio Citterio kann es bereits kaum erwarten, den neuen Showroom von Flexform zu eröffnen. Via Bildschirm erzählt er uns mit ungebrochenem Elan von den Umwälzungen in seiner Branche.
Wie starten Sie jeweils in den Tag?
Ich stehe früh auf und gehe hinunter in meinen Fitnessraum, um 45 Minuten lang zu trainieren. Ich liebe diesen Moment, der nur mir gehört: Ich mache Kilometer auf dem Laufband, verfolge die News auf dem TV-Bildschirm, denke nach. Vor acht Jahren habe ich mit Sport angefangen. Es ist mir sehr wichtig, körperlich fit zu bleiben. Dreimal die Woche kommt ein Personal Trainer vorbei.
Ich nehme an, Sie trainieren mit den Sportgeräten, die Sie für die Marke Technogym entworfen haben?
Selbstverständlich. Auf dem Laufband, dem Crosstrainer … Das ist mein tägliches Vergnügen!
Die Mailänder Möbelmesse wurde erneut verschoben. Ist die Veranstaltung nach all den Jahren eigentlich noch relevant?
Aber ja! Dieses Jahr dürfte sie besonders interessant sein, weil wir Produkte sehen werden, die von den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Zeit erzählen. Für Flexform ist 2022 zudem speziell, weil wir einen neuen Showroom im Zentrum von Mailand eröffnen.
Was sind die wichtigsten Veränderungen auf dem Markt?
Mir fällt auf, dass einige Modemarken versuchen, sich im Möbelbereich zu positionieren. Ich bin ehrlich gespannt, was sie vorzuweisen haben. Einerseits werden Möbel immer mehr zu Lifestyle-Produkten, bei denen das Label als – vielleicht trügerischer – Stilgarant dient, andererseits hat die Pandemie den Fokus der Leute stark auf ihren Wohnraum verschoben, und man legt Wert auf Qualität. Ein seltsamer Widerspruch.
Die Nachfrage nach Einrichtungsdingen ist explodiert…
Rund um den Globus mussten manche Möbelfirmen ihre Produktion um 30 bis 40 Prozent steigern! Viele Menschen haben erkannt, dass mehr Zeit zu Hause eine andere Art zu Leben bedeutet. Daher ist die Zeit reif für Innovationen – auch wenn diese manchmal auf Utopien beruhen.
Was beschäftigt Sie derzeit am meisten?
Das Thema Nachhaltigkeit. Für die Möbelbranche gilt es erstens, sich von allem, was nach kurzlebigem Trend riecht, fernzuhalten. Zweitens müssen wir die industriellen Prozesse von Grund auf überdenken. Nachhaltigkeit ist für die Kundschaft derart wichtig geworden, dass es da für Firmen nicht mehr um ideologische, sondern um wirtschaftliche Fragen geht. Das hat zur Folge, dass man ein Produkt von hinter her denken muss: Am Anfang steht die Frage, was am Ende seines Lebens passiert, und dann konzipiert man es im Hinblick auf die Wiederverwertbarkeit seiner Bestandteile.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Polyurethan ist eine Knacknuss, was das Recycling angeht; aber so viele Köpfe tüfteln derzeit daran, dass ich sicher bin, dass wir in zehn Jahren Lösungen gefunden haben werden. Bei Kunststoffen wird darauf geachtet, die Bestandteile nicht mehr zu vermischen, damit sie getrennt recycelt werden können; bei Metallen wird poliertes Alu bevorzugt, da es den gleichen Glanz wie Chrom hat, aber leichter zu recyceln ist. Und die Verwendung verschiedener Holzarten wurde komplett überdacht, man setzt auf Hölzer aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern.
Wählt man Möbel heute eher nach realen tagtäglichen Bedürfnissen aus? Statt, wie früher, danach, ob sie optisch etwas hermachten?
Es wird immer eine Mischung von beidem sein. Möbel können nicht nur funktional sein. Die Emotionen, die sie auslösen, sind der Schlüssel. Aber ich glaube, dass die Zukunft zeitlosen Produkten gehört, die sich in die Lebensgeschichte ihrer Besitzer einfügen. Schauen Sie nur, wie die Menschen immer häufiger umziehen: Was nehmen sie mit sich? Vielleicht einen Stuhl oder eine Lampe, die ihnen am Herzen liegt. Ich glaube, die Zeit, in der man möglichst billige Dinge kaufte, die man dann bald wieder wegwirft, ist vorbei.
Sie sind der König der Sofas. Wissen Sie, wie viele Sie schon entworfen haben?
In 50 Jahren? Eine Menge! Ich arbeite gerade an meinem Gesamtkatalog und komme auf 650 Produkte … Ein Sofa ist ein zentrales Stück, das die Einrichtung dauerhaft prägt. Nach 30 Jahren ersetzt man einfach den Bezug – und es lebt weiter. Deshalb habe ich immer eine Ästhetik angestrebt, die nichts Modisches an sich hat. Polster sind übrigens schwer zu recyceln, genau wie Matratzen, der reinste Horror; also arbeiten wir daran, dass die Materialien getrennt verbaut werden, um irgendwann wieder auseinandergenommen und weiterverwendet werden zu können
Und wie leben Sie selbst? Mit lauter Citterio-Möbeln?
Nein, nein. Unsere Wohnung ist kein Museum. Wir leben seit über 45 Jahren in einer Art Loft in einem alten Gebäude im Zentrum Mailands. In dieser Zeit hat sich dort einiges angesammelt, unter anderem ein paar Prototypen von meiner Frau (der aus Kalifornien stammenden Architektin Terry Dwan, Anm. d. Red.), Stücke von Luigi Caccia Dominioni … Ich bin nicht von meinen Designs besessen. In unserem Haus in St. Moritz steht nur ein einziges Flexform-Sofa, die anderen Stücke sind vintage.
Oha! Ein Designer und Sammler!
Genau! Nehmen wir mein Büro. Ein Ort, den ich liebe und an dem ich viel Zeit verbringe. Mein Arbeitstisch stammt aus den 1930ern und gehörte einst dem Architekten Carlo Scarpa. Ich hatte mal die Gelegenheit, ihn in seinem Büro zu besuchen. Als ich dann Jahre später in einem Antiquitätengeschäft wieder auf diesen Tisch stiess, zögerte ich nicht. Er erfüllt mich mit Freude! Genauso wie meine Bilder oder meine antiken Stühle. Es sind schöne Objekte, die ich teils schon seit 30 Jahren besitze, und ich habe eine echte emotionale Bindung zu ihnen. Bei Möbeln geht es um Anziehung, um Verführung. Sie sind dazu da, geliebt zu werden.
Beim Design ist es wie beim Kochen: Das Einfachste ist am anspruchsvollsten.
Ihr Studio ACPV ist ein Riesenbetrieb. Tun Sie auch mal etwas anderes als nur zu beaufsichtigen?
Ich habe mein erstes Büro in den 1970ern gegründet – und das hat nie aufgehört zu wachsen. Ich arbeite gern in einem multidisziplinären Team. Jetzt, mit 72, ziehe ich mich ein wenig zurück, um anderen Raum zu geben. Kreativität ist ja oft ein Pingpong-Spiel. Also nehme ich zu Beginn von Projekten an Gesprächen teil, aber ich verfolge nicht alle bis zum Schluss. Beim Bulgari-Hotel, das gerade in Paris eröffnet wurde, hatte zum Beispiel Patricia Viel den Lead.
Wobei die Bulgari-Hotels sehr wohl Ihr Baby sind…
Ja, als wir vor 20 Jahren das erste Bulgari-Hotel in Mailand eröffneten, wollten wir einen neuen Standard setzen: ein luxuriöses Haus mit zeitgenössischer Architektur und ebensolchem Design. Das war eine wunderbare Aufgabe.
Gibt es ein Hotel, das Ihr Herz heute höher schlagen lässt?
Ich arbeite am «Palace II» in St. Moritz: Es gilt, einen neuen Flügel mit dem historischen Gebäude zu verbinden, das Sie sicher kennen. Der alte Stein, die Lage im Ortszentrum, die Bergkulisse … Es ist aufregend, diesen Geist in eine neue Sprache zu übersetzen. Beton wäre undenkbar gewesen. Stattdessen setzen wir auf Stein, dunkles Holz und natürliche Farben. 2023 werden Sie sich das Resultat ansehen können!
St.Moritz hat es Ihnen offensichtlich angetan.
Ich verbringe nach wie vor viel und gerne Zeit in unserem Haus dort. Unsere Kinder sind in St. Moritz geboren!
Beim Möbeldesign arbeiten Sie seit 50 Jahren mit der Firma Flexform. Sie sind ein treuer Partner!
In meiner Jugend war ich mit einem Sohn der Besitzerfamilie befreundet, eines Tages führte er mich herum. Ein kleines Projekt zog ein grösseres nach sich. Ich verbrachte sehr viel Zeit damit, die Handwerker bei ihrer Arbeit zu beobachten; ich studierte regelrecht, wie Möbel hergestellt werden, wie die Textilien zurechtgeschnitten werden, wie die Nähte gestaltet werden … Wissen Sie, die Arbeit an einem Sofa ist die eines Schneiders: Alles wird auf Mass angepasst, in drei Dimensionen.
Dieser auf die verschiedenen Handwerke bezogene Ansatz ist ein zentraler Punkt Ihrer Arbeit, nicht wahr?
Ich bin noch nie mit Skizzen zu Flexform gekommen. Die Entwürfe entstehen direkt vor Ort, durch Gespräche und Materialien, die man in die Hand nimmt. Das ist das Geheimnis unserer Beziehung: Flexform und ich arbeiten in einer Art synchronisiertem Tanz, fern-ab von Moden und Marketing-Briefings.
Aber bequem muss es am Schluss doch sein…
Keine Frage! Wenn es nicht bequem ist, ist es kein Sofa! Gutes Design muss diverse Eigenschaften unter einen Hut bringen. Nehmen wir das kürzlich lancierte Gregory XL: Es besteht im Grunde nur aus erstklassigen, miteinander verbundenen Polstern. Die Struktur ist elementar – und das Ergebnis doch ein wunderschönes, leicht zu recycelndes Möbel. Da wurden nirgends Kompromisse gemacht.
Diese Nüchternheit, die sich ganz selbstverständlich durchgesetzt: Ist sie der Kern Ihres Stils?
Ich kultiviere keinen Stil. Deshalb erkennt man meine Möbel vielleicht nicht auf den ersten Blick. Na und? Ich suche stets nach dem Stück, das man wirklich will und braucht. An wie vielen charakteristischen Möbeln hat man sich nach sechs Monaten sattgesehen? Ich bin stolz, dass Stücke, die ich vor 40 Jahren entworfen habe, immer noch auf dem Markt sind. Know-how hat nichts mit Ego zu tun, sondern mit der Synthese vieler komplexer Zusammenhänge.
Läuft die Zusammenarbeit immer gleich, unabhängig davon, mit welcher Firma Sie zusammenarbeiten?
Im Gegenteil. Bei Vitra arbeitet man zum Beispiel ganz anders als bei Flexform, dort muss man Mathematiker sein! Alle Prototypen werden digitalisiert, es handelt sich um eine riesige, roboterunterstützte Hightech-Produktion. Ich habe viel über dieses Thema nachgedacht und eine Theorie entwickelt: Jedes Produkt hat einen Vater und eine Mutter; ein Elternteil ist der Designer, der andere die Firma, die es herstellt. Es ist eine Verbindung dieser beiden DNAs. Ein Objekt entsteht nie im Büro eines Einzelnen, es ist immer eine Teamleistung.
Im Dezember wurde Ihr Dokumentarfilm „The Importance of Being an Architect“ vorgestellt. Erzählen Sie uns davon.
Patricia Viel und ich hatten uns den Film als eine Art Jubiläumsfeier gönnen wollen, zu 20 Jahren Zusammenarbeit, 50 Jahren Karriere, meinem 70. Geburtstag … Die Pandemie hat das Projekt nun um ein Jahr verzögert, aber was solls. Es handelt sich nicht wirklich um die Nacherzählung unserer beruflichen Geschichte. Er ist eher ein Blick auf das, was unser Beruf in die heutige Welt einbringt. Ein Drehbuch gabs nicht, wir haben uns einfach unterhalten und diese Szenen dann zusammengeschnitten. Dazu kommt eine musikalische Komponente.
Ist der Film eine Art Vermächtnis?
Wissen Sie, in dem halben Jahrhundert, das meiner Karriere um-spannt, habe ich viele normale Dinge getan. Nur wenige wissen um den Aufwand, den Normalität erfordert. In meiner Anfangszeit galt Normalität als langweilig. Der Zeitgeschmack favorisierte spektakuläre Entwürfe wie die von Zaha Hadid oder Philippe Starck – deren Arbeit ich im Übrigen sehr respektiere. Ich selbst war nicht Teil des Hypes. Inzwischen hat der Wind gedreht, unser Studio arbeitet international an grossen Projekten. Es geht im Film auch um diese Subtilität, mit der sich unsere Werke in die Landschaft integrieren.
Welche Projekt bringen die ACPV-Philosophie am besten auf den Punkt?
Das Technogym Village in Cesena, das sich der Autobahn entlang schlängelt. Oder das Hauptquartier von Edel Music in Hamburg, einer meiner Lieblingsbauten. Er ist auch schon 20 Jahre alt und sehr transparent, sehr weltoffen. Und vor allem scheint er die Menschen, die darin verkehren, immer noch zu beglücken. Ich sehe darin Parallelen zum Groundpiece-Sofa, das ebenfalls 20 wird und auf das man sich immer noch mit einem zufriedenen Seufzer setzt.
Abgesehen von Mailand und St.Moritz, wo fühlen Sie sich sonst noch besonders wohl?
Während der Pandemie haben wir viel Zeit auf unserem Bauernhof in Portofino verbracht. Wir pflanzen dort Gemüse an, ausserdem halten wir Hühner und produzieren so den Grossteil unserer Lebensmittel selbst. Die Lage ist unglaublich, auf einem Hügel mit Panoramablick auf das Meer. Genau deshalb liebe ich Mailand: Man ist in zwei Stunden am Meer und ebenso schnell in den Bergen. Man kann morgens in Portofino auf den Bauernmarkt gehen, im Freien zu Mittag essen – und ist um 17 Uhr im Büro.
Kochen Sie selbst?
Viele Leute denken, ich sei ein Spitzenkoch. Stimmt aber nicht! Allerdings bin ich ein Feinschmecker. Besonders mag ich einfache Gerichte, denen man nicht anmerkt, wie anspruchsvoll sie eigentlich sind. Zum Beispiel Tomatensauce: Alle Zutaten wachsen auf unserem Land, Tomaten, Zwiebeln, Olivenöl … Aber es dauert 50 Jahre, bis die Olivenbäume ihre beste Qualität erreicht haben. Das ist eine Kunst. Wie beim Design ist das Einfachste das Anspruchsvollste.
Worauf freuen Sie sich nach der Pandemie am meisten?
Ganz klar: aufs Reisen. So sehr ich den Tapetenwechsel liebe, der nur zwei Stunden Autofahrt entfernt ist, tief in meinem Inneren sehne ich mich nach fernen Stränden, weissem Sand und der Sonne. Ich habe für Weihnachten bereits Costa Rica gebucht. Und ganz ehrlich: Ich kann es kaum erwarten, endlich dort zu sein