Kelims gab es schon, da sassen die meisten Zivilisationen noch im Sand. Nomaden dienten sie als Stuhl, Bett und Tisch. Wir rollen ihre Geschichte auf.

Sie waren immer schon da. Vielleicht nicht in unseren Breiten, aber lange bevor sich so etwas wie eine Wohnkultur herausgebildet hat. Bevor Designer sie zu ihren supermodernen Möbeln kombinierten und Galerien in London, Paris und New York sie zu Fantasiepreisen in ihre Schaufenster hingen. Die Geschichte der Kelims reicht bis ins Jahr 7000 vor Christus zurück. In der Welt der Textilkunst gibt es wenige Artefakte, die eine so reiche Geschichte und kulturelle Bedeutung haben wie diese flach gewebten Stücke, die eigentlich nicht als Teppiche gedacht waren. Zunächst jedenfalls nicht.


Schränke, Sessel, Tische – all das fand keinen Platz in den Zelten der Nomaden. Auch nicht im temporären Zuhause der Ziegen- und Schafhirten, die mit ihren Herden im Nahen Osten und in Zentralasien auf der Suche nach Futter umherzogen. So wurden die Kelims erfunden: Weil Nomadenfrauen findig sind und aus der Wolle ihrer Tiere sogenannte Flachgewebe herstellten. Auf selbstgebauten Webstühlen, die auf dem Boden standen. Mit den wollenen Stücken staffierten sie die Wände der Zelte aus, bauten mit ihnen Betten und fertigten Sitzmatten an. Aber nicht nur als Gebrauchsgegenstände wurden die Kelims benutzt. Man webte auch kulturelle Muster und religiöse Symbole hinein, eine Strophe des Lebens, Geschichten von Liebe und Tod, Gefühlen und Träumen. Und so lassen sich diese Flachgewebe noch heute «lesen» wie ein Bilderbuch der Traditionen, der Handwerkskunst und der kulturellen Identität.

Nomaden im Iran

Klassiker im besten Sinne

Kelims unterliegen keinen Moden, strahlen eine Vitalität aus, selbst wenn sie schon über hundert Jahre alt sind. Sammler sind besonders stolz auf alte Exemplare. Oft sind es rhythmische Streifenmuster oder geometrische Dessins der Ghashghais, eines Nomadenstammes im Südwesten des Irans, oder ein Zickzackmuster, das die Luren – eine nomadische Volksgruppe in Westpersien – verwenden. Auch Blumenmuster machen die Kelims so anziehend – vor allem mit ihren satten Farben, bei denen Rottöne meist eine Hauptrolle spielen. Kommt hinzu: die Farbigkeit lässt selten nach. Wahrscheinlich weil das oftmals verwendete Ziegenhaar oder die Schafwolle mit Naturpigmenten gefärbt wurde und zum Teil heute noch wird.

Genau ist nicht festgelegt, wann die Kelims ihren Siegeszug in Europa antraten. Man nimmt an, dass sie im Laufe der Geschichte durch Handel und Kulturaustausch den Weg in den Westen fanden. Besonders während der osmanischen Herrschaft über Teile von Europa im 15. bis 19. Jahrhundert wurden Kelims und andere Waren aus dem Orient hierher exportiert. Im 19. und 20. Jahrhundert entstand geradezu ein Boom: Die Nachfrage nach diesen exotischen und handgearbeiteten Stücken schnellte in die Höhe; Kelims stiegen zu begehrten Dekorationsobjekten in bürgerlichen Wohnungen auf.

Und sie inspirierten die europäische Künstlerelite: An den Werken Paul Klees (1879 – 1940), Henri Matisses (1869  – 1954) oder Sonia Delaunays (1885 – 1979) sind deutlich die Einflüsse der geometrischen Muster und der farblichen Leuchtkraft der Webteppiche ablesbar. Bauhausweberinnen der 1920er-Jahre liessen sich von ihnen zu damals noch nie gesehenen Teppichentwürfen verleiten. Vor allem die Deutschamerikanerin Anni Albers (1899 –  1994), eine der bedeutendsten Vertreterinnen des Bauhauses und bekannt für ihre innovativen Webtechniken, interpretierte die traditionellen Muster ganz neu.


Auch die Hippies der 1960er- und 1970er- Jahre bereiteten ihnen in den heimischen Wohnungen eine Bühne. Sie waren auf die Kelims bei ihren bewusstseinserweiternden Exkursionen im Orient gestossen, fanden sie cool und mischten mit ihnen den Mief des Nachkriegseuropas auf. Für sie bedeuteten diese Teppiche viel mehr als reine Deko. Sie sahen in ihnen Symbole für kulturelle Vielfalt, globale Verbundenheit und Alternativbewegung.


Seit den 1990er-Jahren experimentieren zeitgenössische Designer mit Kelims. Auf der diesjährigen Domotex, der weltweiten Leitmesse für Teppiche und andere Bodenbeläge, sah man sogar neonfarbene Kelims, die schrill die Traditionen aufriefen. Lila Valadan, in Shiraz geborene Hamburgerin, die gerade vom Interiormagazin «AD» in die Liste der 100 Toptalente aufgenommen wurde, hat die Kelims als eine der Ersten in die Neuzeit transferiert. Bei ihren Entwürfen lässt sie sich von der Fantasie der Nomadenfrauen ihres Heimatlandes leiten. «Was mich immer fasziniert hat: Selbst die alten Kelims sehen aus wie moderne Kunst. Dabei waren ihre Schöpferinnen nie in einem Museum oder einer Galerie, hatten keine Bildbände, keine Vorbilder, an denen sie sich hätten orientieren können.» Mit ihrer Teppichkunst verneigt sich Valadan vor der Kreativkraft der Nomadenfrauen der letzten Jahrtausende und führt sie gleichzeitig in die Zukunft.