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Der Fotograf Christophe Jacrot zückt seine Kamera, sobald die Elemente losbrechen - auch in der Schweiz.
Die Szene ist ein Klassiker in romantischen Filmen: Schnee, der leise vor dem Fenster fällt, während drinnen das Feuer im Cheminée flackert. Was für eine Idylle! Christophe Jacrot ist jedoch nicht auf der Suche nach feinen weissen Flocken, die sich wie eine flauschige Decke über die Landschaft legen.
Er liebt peitschende Böen, spritzenden Regen und wilde Schneeverwehungen. Der Weltenbummler war Filmregisseur, bevor er sich mit Mitte 40 der Fotografie zugewandt hat. Inzwischen ist der Franzose auch zum Wetterexperten avanciert. Das Wissen benötigt er, um in letzter Minute ein Flugticket zu buchen, sobald ein Unwetter vorhergesagt wird.
Bei seinen Arbeiten geht es ihm nicht darum, den Klimawandel zu dokumentieren und auf die Tränendrüse zu drücken. Jacrot ist ein Ästhet, dessen Werke unser Innerstes ansprechen, Bilder, die wie Gemälde aufgebaut sind. Beim Beschreiben verzichtet er auf grosse Worte, auf langwierige Erklärungen. Der Fotograf ist davon überzeugt, dass ein Bild seinen universellen Wert verliert, wenn es zu stark interpretiert wird. Jacrots Arbeiten werden in Galerien und auf Festivals gezeigt.
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Wie kommt man dazu, sich eine Arbeit inmitten von Regengüssen und Schneestürmen zu suchen?
Es begann mit einem Zufall. Ich sollte für einen Reiseführer Aufnahmen von Paris machen. Ein ganz normaler Auftrag, bei dem es darum ging, hundert Fotos von Paris im Sonnenschein zu machen. Ich hatte freie Hand, die Bilder sollten aber unbedingt sonnig sein. Das Wetter war jedoch während des gesamten Zeitraums sehr schlecht, es war grau und regnete. Ich liess mich davon aber nicht abhalten – auch, um eine Art Gegenreaktion zu provozieren, eine andere visuelle Welt zu zeigen. Letztendlich habe ich nicht nur die Auftragsarbeit erledigt, sondern auch den Grundstein für etwas Neues gelegt, das ich weiterhin erforsche. Diese erste Begegnung mit dem nassen Grau führte zu meinem ersten Buch: «Paris sous la pluie» (Paris im Regen), das 2008 im Verlag Le Chêne erschienen ist.
Sie haben nicht immer eine Kamera in der Hand gehabt.
Mit 17 Jahren fotografierte ich viel und hatte mein eigenes kleines Schwarz-Weiss-Labor. Allerdings nur kurz. Ich orientierte mich dann eher in Richtung Film, aber dort fand ich nicht wirklich meinen Platz. Ich träumte davon, den idealen Drehbuchautor für eine gemeinsame Arbeit zu finden. Später arbeitete ich auch in der Immobilienbranche. Vor etwa 15 Jahren bin ich jedoch aus Leidenschaft wieder zur Fotografie zurückgekehrt, obwohl ich mir sagte: «Du bist verrückt, das ist ein brotloser Beruf.» Ich habe dann noch eine Ausbildung zum Fotojournalisten gemacht. Diese hat es mir ermöglicht, wieder Bezugspunkte zu mir selbst und zu anderen zu schaffen.
Wie gehen SIe vor, um immer dort zu sein, wo Regen und Schnee fallen?
Meine Strategie ist einfach und kompliziert zugleich. Man muss den Unwettern nachstellen. Ich begann in Shanghai, wo der Monsun herrscht, und dann in Hongkong, das ganz in der Nähe lag. Meine Bilder waren nicht die, die man sonst von diesen Städten gewohnt ist. Nach dem Regen schien der Schnee eine logische Folge zu sein: Ich reiste nach New York und Chicago, wo die Schneestürme im Winter beeindruckend sind.
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Was ist Ihr nächstes Reiseziel?
Ich plane, mich in Kanada niederzulassen, für einen Monat oder sechs Wochen, und von Montreal aus zu arbeiten. Ich mache mir keinen Kopf, ich suche mir Orte aus, die mich inspirieren und an denen es viel schneit. So war ich auch acht- oder neunmal in Island, mein 2016 erschienenes Buch «Snjór» entstand auf den Färöer-Inseln, die ich liebe. Ich war auch schon in Norwegen sowie auf Hokkaidō in Japan, wo in einem Winter oft zwei Meter Schnee fallen.
Und was ist mit der Schweiz?
Ich war schon ein paar Mal dort. Ich wollte unbedingt das «Hotel Belvédère» am Furkapass besuchen. Ich musste es zweimal versuchen: einmal im Oktober und dann erneut im November, als der erste Schnee fiel, aber das Hotel noch erreichbar war. Die Strasse war bereits gesperrt, aber ich konnte die Schranke öffnen und die Leute überreden, mir eine Stunde, nur eine Stunde, Zeit zu geben, obwohl die Anlage eigentlich nicht mehr betreten werden durfte. Ich hatte Glück, es gab einen einzigen Sonnenstrahl, der auf den nassen Schnee fiel. Kurz darauf begann es, richtig zu schneien, und die Landschaft wurde träumerisch – genau das, was ich nicht will.
Sie haben das berühmte „Gasthaus Aescher“ fotografiert, das sich an den Hang der Ebenalp schmiegt.
Auch dort war ich im November, zum Ende der Saison. Es schneite bereits ein wenig, aber die Klippe schützt das Gebäude. Schliesslich zog dichter Nebel auf. Ich hatte Essen auf einen Tisch gestellt, um Vögel anzulocken, so entstand diese etwas unheimliche Stimmung, die nichts mit den Bildern, die diesen Ort auf Instagram so erfolgreich gemacht haben, zu tun hat.
Wie genau muss ein Unwetter aussehen, um von Ihnen festgehalten zu werden?
Es ist etwas Instinktives. Ich fühle mich von einer Dramaturgie, einer Atmosphäre, besonderen Lichtern angezogen, die mit dem sogenannten schlechten Wetter in Verbindung gebracht werden. Diese Art von Strenge fasziniert mich. Und ich möchte in meinen Kompositionen immer ein menschliches Element einbringen. Im «Gasthaus Aescher» zum Beispiel verändern die offenen Fensterläden alles, sie bringen Emotionen mit sich.
Ist das auch der Grund, warum Sie viele Städte im Sturm fotografieren?
Ich brauche ein von Menschenhand geschaffenes Element, zumindest einen Strommast, um die Idee von Leben einzuhauchen und den Betrachter in die Haut von Menschen zu versetzen, die unter diesen Bedingungen leben. Städte berühren mich sehr, wenn sie im Griff der Wetterelemente sind. Es gibt eine Art Poesie in ihrer Ohnmacht, oder besser gesagt, in der Konfrontation mit den Naturgewalten. New York zum Beispiel verliert bei schlechtem Wetter all seine Arroganz.
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Was ist Ihre schlimmste Erinnerung an einen Einsatz? Es gibt sicher einige Grenzerfahrungen.
Ohne zu zögern: Sibirien im Jahr 2016. Ich hatte schon seit zwei Jahren davon geträumt, in die Stadt Norilsk zu reisen, die normalerweise für Ausländer geschlossen ist. Meine Exfrau, die Russin ist, und ich hatten alles organisiert, Visa, Einreisegenehmigungen. Aber alles ging schief, die Flüge verzögerten sich um mehrere Tage. Dann wurde ich krank, so schlimm wie nie zuvor. Letztendlich konnte ich nur einen Tag vor Ort arbeiten und war halbwegs in der Lage, auf eigenen Füssen zu stehen. Mit einem Taxi durch-streiften wir bei minus 30 Grad Celsius beeindruckende, schäbige und verschmutzte Satellitenstädte. Diese Erinnerungen haben mich geprägt.
Sie leben am Fusse des Vercors – als Einsiedler in einem Haus fernab von allem?
Überhaupt nicht! Ich wohne zwar allein – meine Tochter ist erwachsen und ich bin geschieden –, aber in einer Wohnung in der hübschen Kleinstadt Die. Ich habe lange im quirligen Paris gelebt und gehe gerne in Cafés unter die Leute. Abgesehen davon erfreut sich die Region einer wunderschönen, unberührten Natur.
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Buch
Zuletzt erschien das Buch „Lost in the Beauty of Bad Weather“ (teNeues-Verlag), eine zweisprachige Monografie auf Deutsch und Englisch. Reich bebildert mit Nuancen der Melancholie, von Nebel, Regen und Schnee.