Das Designerpaar Stine Gam und Enrico Fratesi verschränkt skandinavische Nüchternheit und italienische Strenge zu Möbeln von eigensinniger Poesie. Ein Besuch in ihrem Studio in Kopenhagen.
Ein baum unterm Dach! Der riesige Gummibaum breitet seine kräftigen Blätter mit einer für warme Klimazonen typischen Nonchalance aus. Und das, obwohl er in einem schneeweissen Innenraum mitten in Kopenhagen gedeiht: im geräumigen Studio der Designer Stine Gam und Enrico Fratesi. Das Paar – beruflich wie privat – hat offensichtlich Spass an der Inszenierung. Seine Kreativzentrale, die es 2006 in einem ehemaligen Elektrizitätswerk eingerichtet hat, zelebriert das Leben in XXL, mit Räumen so gross wie Theaterbühnen und Decken so hoch, dass man sich darauf gefasst macht, seine Worte als Echo zu hören. Unter demselben Dach sind noch weitere Kreative zuhause: Fotografen, Modedesigner … eine ganze Sippe, die im Gleichklang mit der dänischen Hauptstadt schwingt, wo neue Restaurants, neue Zugänge zum Meer, neue Grünflächen von einer kollektiven Experimentierfreude zeugen. «Von hier aus sind wir mit dem Velo in zehn Minuten im historischen Zentrum», erklärt Stine Gam, «in zehn Minuten in den Wohnvierteln mit ihren weitläufigen Parks, in zehn Minuten am Meer.»
Das Paar mag seine Energie aus dieser Stadt schöpfen, die vor Experimentierlust und Lebensfreude pulsiert, doch seine Inspiration knüpft beim Erbe grosser Möbelmacher rund um den Globus an. Man entdeckt bei GamFratesi eine ruhige Kraft, eine Poesie der Kurven und nüchterne Qualität, die sowohl an die japanische Herangehensweise (ah, dieser subtil gebogene Stuhl namens Miau für Koyori, man will ihn streicheln!) als auch an den italienischen Perfektionismus (GamFratesi arbeiten mit Poltrona Frau und – vor allem – mit Minotti zusammen) sowie an skandinavische Nüchternheit denken lässt. Vor einigen Saisons haben ihre Kreationen Aufnahme in zahlreiche Kataloge gefunden – allerdings ohne grosses Trara: GamFratesi-Möbel schreien nicht. Sie flüstern. Allerdings so eingängig, dass man, sobald man die Signatur entdeckt, sofort denkt: Ach ja, klar! Das ist von ihnen!
Enrico Fratesi ist derjenige, der zuerst spricht und starken, selbstgebrauten Kaffee anbietet. Der Süditaliener trägt Leinen, zeitgemäss interpretiert; Jackett, Pluderhose, dazu einen strengen Dutt. Stine Gam, sehr elegant in hochgeschnittenen Jeans und Bluse, wirkt eher zurückhaltend, blickt einem aber direkt in die Augen. Das Paar hat einen professionellen Dialog entwickelt, der sich durch Offenheit auszeichnet. Eine Klarheit, die sich auch auf die daraus hervorgehenden Designstücke überträgt. Willkommen in ihrer federleichten Bubble – die, wie man weiss, am schwersten zu bewerkstelligen ist .
Der Salone di Milano hat letzten Sommer endlich wieder zu seiner alten Form zurückgefunden, mit Menschenmassen, Begegnungen … Wie haben Sie ihn erlebt?
EF Als Glücksmoment! Beim Wiedersehen wurde uns bewusst, wie sehr unsere Partner und Kunden zu Freunden geworden waren. Und wie wertvoll ihre Reaktion auf unsere Produkte für uns ist. Es war ein Feuerwerk aus italienischen Baci und dänischen Umarmungen!
SG Ein Möbelstück ist und bleibt etwas durch und durch Physisches. Man muss es berühren, es beleben. Es war sehr emotional, unsere Entwürfe, die bisher nur als Prototypen oder auf dem Bildschirm existiert hatten, endlich in realer Ausführung zu sehen.
Welches Möbel ist das Kernstück des Jahres 2022?
EF Die Outdoor-Sofa-Linie Patio für Minotti, ganz klar. Dieses Projekt liegt uns sehr am Herzen, denn es verkörpert unsere Philosophie, die skandinavische Lässigkeit mit der extremen Strenge eines Traditionshauses wie Minotti zu verbinden. Absoluter Luxus, aber ohne, dass das Möbel zum Monument wird.
SG Die Sofas sind von der Herstellungsart her von absoluter Perfektion, aber sie strahlen etwas Informelles aus. Sie laden ein, sie zu benutzen, entspannt und ohne viel Tamtam.
EF Die Patio-Linie liegt uns umso mehr am Herzen, als wir gerade unser Haus in den Marken zu Ende bauen, in der Nähe meiner Heimatstadt Pesaro, und dort mit der Sofalinie experimentieren. Es ist famos, diese Möbel auf intime Weise zu erleben.
Was war die Herausforderung bei dieser Teakholzlinie?
EF Sie ist technisch komplex – was man ihr nicht ansieht –, weil sie gewissermassen drei Welten vereint: die Natur im Teakholzsockel, die auf unerhörtem technischem Know-how basierende Sitzfläche, und das Handwerk in Form der geflochtenen Lehne. Die Harmonie zwischen diesen Elementen ist der Schlüssel: Sie ist es, die ein Gefühl von Spontaneität vermittelt. Wir wollten, dass man die Möbel nicht nur modular zusammenzustellen, sondern auch ihre Konfiguration ändern kann, damit sie all die verschiedenen Lebensphasen ihrer Besitzer mitmachen. Ein Möbel, das bleibt: Das ist ein Gral.
SG Diese Denkweise, die den Grossmeistern des nordischen Designs eigen war, hat mich stark geprägt. Ihre Stücke sind schlicht und robust, aber aus so schönen Materialien gefertigt, dass die Patina der Jahre sie nur noch edler erscheinen lässt. Niemand käme auf die Idee, sie zu entsorgen! Und man benutzt sie jeden Tag.
EF Im Gegensatz dazu ist der italienische Ansatz intellektueller, mit einer gewissen Angst vor Abnutzung. Als ich vor 15 Jahren nach Kopenhagen zog, war das lokale Design noch stark von den historischen Meistern beeinflusst und ein wenig klassisch. Heute behalten die neuen Generationen ihren Geist zwar bei, wagen aber viel mehr.
Genau wegen dieses skandinavischen, aber offenen Ansatzes holte Sie Minotti 2019 ins Boot.
SG Es entspricht der Firmenpolitik von Minotti, Designer aus verschiedenen geografischen Traditionen zu rekrutieren, um der eigenen Expertise einen neuen Dreh zu geben. Ich denke etwa an das Studio Nendo aus Japan oder an Kogan aus Brasilien. Auch abgesehen davon lieben wir es, mit Minotti zu arbeiten. Als Familienunternehmen sind sie sehr flexibel und extrem ehrlich im Umgang. Der Kreativprozess ist wirklich anregend, ein echter Dialog, der auf Vertrauen fusst. Wir als Paar arbeiten übrigens ganz ähnlich.
Es dürfte aber auch seine Tücken haben, im Studio und zu Hause ein Paar zu sein. Hören Sie je auf, zu arbeiten?
EF Nicht wirklich … Das gemeinsame Schaffen ist eine unendliche Geschichte. Aber wir lieben das! Unsere Arbeit lässt sich auch eher als gemeinsam gelebte Vision umschreiben. Es kommt immer wieder vor, dass der eine aus dem Nichts heraus einen Gedanken formuliert und der andere sagt: Genau das habe ich auch gedacht!
Streiten Sie nie?
SG Doch, natürlich, aber nie lange. Kurz und heftig!
Haben Sie eine bestimmte Rollenaufteilung?
SG Lang dachten wir, das sei nicht der Fall, dass wir einfach unsere kulturellen Einflüsse addieren. Doch je mehr Zeit vergeht, desto mehr erkennen wir, dass diese Unterschiede unsere Persönlichkeiten sehr stark geformt haben. Enrico ist expressiv und spontan, ich bin zurückhaltend und überlegt. Er pusht, ich bremse. Diese Spannung ist das Herzstück unseres kreativen Miteinanders.
EF Als die Kinder kamen, wurde mir auch klar, wie italienisch ich bin. Formeller, strenger. Das Kunststück ist zu akzeptieren, dass der andere anders tickt – und diese gemischten Karten, die einem zugeteilt wurden, zu seinem Vorteil auszuspielen.
SG Ich erinnere mich an Enricos Gesicht, als unser Ältester nach dem ersten Tag im Kindergarten heimkam. In Dänemark gilt das Prinzip «ein schmutziges Kind ist ein glückliches Kind» – das vertrug sich gar nicht mit Enricos Verständnis von Erziehung!
EF Wer uns beauftragt, erwartet wohl genau das: eine Ästhetik, die in Skandinavien verwurzelt ist, aber mit Twist. Und da liegt die Krux: Es braucht diesen Twist, aber keinen übertriebenen, wie ich ihn allein wohl herbeiforcieren würde. Dann bremst mich Stine.
Wie würden Sie den Stil definieren, der aus Ihrer Unterschiedlichkeit hervorgegangen ist?
SG Schwer zu sagen. So, wie wir einander gegenüber aufgeschlossen sind, so sind wir es auch als Team gegenüber unseren Geschäftspartnern. Wenn wir für eine Firma arbeiten, versuchen wir, ihre Identität und ihre Werte zu verinnerlichen. Wir diskutieren viel, noch bevor die erste Skizze entsteht. Wir besuchen die Produktionsstätten, arbeiten uns in die Firmengeschichte ein. Erst danach beginnt die Arbeit am eigentlichen Produkt.
Man spürt einen Sinn für Zartheit in Ihrer Arbeit.
EF Vielleicht hängt das damit zusammen, dass wir immer vom Material, vom Handwerk ausgehen. Wir verbringen viel Zeit in Werkstätten und wissen, was man von welchem Material verlangen kann. Nie würden wir ein Material in ein Design hineinzwingen, das am Computer entstanden ist. Die richtigen Proportionen, die perfekte Kurve: Dafür gibts keine Regel. Man muss es fühlen. Stine ist darin wahnsinnig gut.
SG Aber das verlangt eine gewisse Langsamkeit. Ein Ausprobieren. Manchmal muss man ein Projekt zurückhalten, bis man sich ganz sicher ist, dass es fertig ist. Wenn etwas lange Bestand haben soll, muss man so viel wie möglich daran feilen. Viele Produkte kommen auf den Markt, obwohl sie noch nicht wirklich fertig sind.
EF Ein Möbel ist wie eine Melodie: Plötzlich stimmt es.
Wie funktioniert Ihr Studio?
EF Alles läuft über uns beide. Dazu kommen drei Assistenten. Weil wir ein so kleines Team sind, müssen wir in der Wahl unserer Projekte radikal selektiv sein. Wir machen nur, was uns wirklich, wirklich am Herzen liegt. Die sehr übersichtliche Firmenstruktur hat es uns auch ermöglicht, während der Pandemie wie gewohnt weiterzuarbeiten. Wir mussten kein Projekt unterbrechen. Und in unseren grossen Räumen war Social Distancing auch kein Problem.
Wie reagiert der Markt auf diese unsicheren Zeiten zwischen Krieg, Pandemie und Klimakrise?
EF Es sind jetzt eher Möbel gefragt, die dem persönlichen Komfort dienen, statt solche, die man sich anschafft, um anzugeben. Für uns ändert das nichts. Die intime Beziehung zum Objekt war von Anfang an Teil unserer DNA.
SG So leben wir auch privat, sowohl in unserer Wohnung in Kopenhagen wie auch in Italien: Das Zuhause ist ein Nest, in dem man sich erholen kann und wo man sich beschützt fühlt.
Wird die neue Klimasituation mit überhitzten Städten neue Möglichkeiten fürs Design eröffnen? Öffentliche Duschen auf dem Trottoir? Künstliche Kronendächer?
EF Derartiges wäre nur ein Pflaster auf einem Holzbein. Wir brauchen einen viel radikaleren Sinneswandel, indem wir wieder aufs Land gehen und von den Bauern lernen.
SG Weisst du noch, Enrico, wie du mir erzählt hast, wie die Handwerker in dein Dorf kamen, um Körbe zu flicken und Messer zu schleifen? Das war vor knapp 30 Jahren.
EF Klar! Wir müssen wieder zum Materialismus in seiner edlen Form zurückfinden: Dass wir Dinge für ihre Schönheit schätzen, für die emotionale Bindung, die wir zu ihnen haben. Ich hasse diese «Oh, kaputt, also weg damit und neu kaufen»-Mentalität.
Wir sollten also weniger, dafür Besseres besitzen?
EF Genau. Wie bei der Mode auch, sind wir von Billigmöbelketten dazu erzogen worden, alles immer sofort haben zu können. Wir haben das Warten und die Vorfreude verlernt. Als Stine und ich zusammenzogen, hatten wir keinen Cent, das Studio war noch in den Kinderschuhen. Zwei Jahre lang lebten wir ohne Sofa, weil wir uns das Modell unserer Träume nicht leisten konnten. Damals kauften unsere Freunde irgendein billiges Teil, das sie später entsorgten.
SG Stimmt, wir sind lausig im Wegwerfen. Wir sind eher Sammlertypen, unfähig, uns von Dingen zu trennen, die wir lieben.
Welchen Ratschlag geben Sie jungen Designern?
SG Erlaubt euch, Fehler zu machen! Nur so kommt man voran. In den sozialen Netzwerken folgt man einander heute ja quasi in Echtzeit. Ein junger Designer bekommt also in jeder Phase eines Projekts Feedback von aussen und kann seinen Kurs entsprechend korrigieren. Gefährlich: Der Blick der anderen verunsichert und verfälscht. Wahre Kreativität findet in der Einsamkeit statt, bis zu dem Tag, wo man ein fertiges Projekt mit schweissnassen Händen der Öffentlichkeit vorstellt. Nur so findet man seine Stimme.
EF Und: Umarmt die Langeweile! Als Einzelkind kann ich ein Lied davon singen. Und ich habe sehr gute Erinnerungen an die Momente, in denen ich absolut nichts tat. Ich glaube, so lernt man, die Leere in seinem persönlichen Universum zu füllen.
Sie haben so unterschiedliche Dinge wie einen Besen, Leuchten, Sofas und Restaurants entworfen. Welches Stück liegt Ihnen besonders am Herzen?
SG Lustig, dass Sie den Besen erwähnen. Ein Projekt aus unserer Anfangszeit, als wir – aus der Langweile heraus eben – Spass daran fanden, Alltagsgegenstände neu zu erfinden.
EF Dieses Spielerische ist so wichtig! Unser Besen hatte kommerziell keine Chance – zu teuer in der Herstellung, zu sperrig –, aber es hat Spass gemacht, eine ästhetische Lösung zu suchen. Man lernt so viel, wenn man mit offenem Herzen arbeitet.
Finden Sie noch Zeit für solche Spielereien?
EF Man sollte das Spielen nie verlernen. Und ihm bewusst Raum geben! Hierzu fällt mir eine kleine Anekdote ein: Vor einiger Zeit besuchten wir die wunderbare Manufaktur von Royal Copenhagen. Sie wissen schon, dieses typisch dänische Porzellan. Die Archive voller Zeichnungen von Blumen und Tieren machten uns solchen Eindruck …
SG … dass wir uns Stifte geschnappt haben und unsere eigene Flora und Fauna hinkritzelten. Aus purem Spass! Enrico zeichnete einen Fisch, ich eine Blume. Als wir abreisten, liessen wir die Zeichnungen zurück. Eine Handwerkerin der Manufaktur entdeckte sie – und wenig später erhielten wir einen Anruf mit der Bitte, ein Konzept auszuarbeiten. Das Service kam letztes Jahr auf den Markt und läuft wirklich gut. Und was stand am Anfang dieses kommerziellen Erfolgs? Lust am Spiel. Spontaneität!
Ein Möbelstück, das Ihre Welt besonders gut verkörpert?
SG Der Stuhl Beetle, der vor zehn Jahren für Gubi entstand. Sitzfläche und Lehne aus gebogenem Holz sind skandinavisches Know-how in Reinform, für die Bewegung liessen wir uns von Insektenpanzern inspirieren. Erst gabs den Stuhl nur als Hartversion, inzwischen sind gepolsterte Modelle hinzugekommen. Beetle ent-stand aus einer spontanen Eingebung – und gilt heute als Klassiker.
Sie sind beide ausgebildete Architekten. Das Restaurant Copenhague in Paris zum Beispiel ist Ihr Werk. Sind ähnliche Projekte in der Pipeline?
EF Ja, und das freut uns sehr, da es eine wundervolle Aufgabe ist, ein ganzes Ambiente zu erschaffen. Zurzeit arbeiten wir an einem Hotel in Warschau. Und im Herbst eröffnen zwei Boutiquen, die wir für Hermès entworfen haben. Sie sind der Auftakt eines neuen Konzepts, das später weiter dekliniert werden soll. Vor allem Letzteres ist ein Herzensprojekt, denn es verbindet zwei Dinge, die uns persönlich viel bedeuten: die japanische Ästhetik – Stine hat in Japan studiert, und wir haben schon oft dort gearbeitet – und die Tradition des Handwerks, wie es bei Hermès gepflegt wird.
Und wie lebt es sich in Kopenhagen?
SG Sehr gut – und immer besser! Zur typisch dänischen Lockerheit gesellt sich zunehmend der Anspruch auf Qualität, was uns sehr freut. Das Niveau der Restaurants zum Beispiel ist unglaublich gestiegen, was wohl auf das berühmte «Noma» zurückzuführen ist.