Kalorien zählen? Bei Pierre Hermé käme es Frevel gleich. Pünktlich zu den Festtagen legt der Star-Patissier seine Biografie vor und tischt Virtuoses auf.

Der salon ist gediegen, der Ort mondän: Nahe den Champs-Elysées stellt Pierre Hermé seine neuen Kaffee- und Macaronsorten vor. Genauso akkurat wie die graue Weste von Monsieur geknöpft ist, ist auch die Anleitung zum Degustieren. Mit einem runden Löffel muss die Crema des Espressos zur Seite geschoben werden, dessen rötliche Farbe signalisiert: «Achtung, gleich wird es intensiv!» Bevor die Geschmacksnerven in Aufruhr versetzt werden, bahnt sich aber die Nase ihren Weg.

Dann wird die Flüssigkeit mit einem selbstbewussten Schlürfen eingesogen – so kommen die Aromen am besten zur Geltung. Der berühmteste aller Konditoren, dessen Name über mehr als 60 Geschäften in Europa und Asien prangt, ermutigt: «Machen Sie weiter, keine Angst: Das Schlürfen ist für die Übung unerlässlich!» Fachleute bezeichnen die Mundbewegung als «Grumage» – als Grummeln. Bei den Macarons mit Haselnüssen aus dem Piemont ist es noch einfacher: Man beisst einfach in die dünne Kruste, die mit einer weichen, mit Knusperstücken durchsetzten Creme gefüllt ist. Yummie!


Das Jahresende bedeutet für alle Gastronomiebetriebe Hochsaison, Pierre Hermé übertrifft sich dieses Jahr jedoch selber. Er hat gleich drei limitierte Kaffeesorten für Nespresso kreiert. Eine Premiere – es ist die erste Zusammenarbeit des Schweizer Unternehmens mit einem Geschmackskünstler. Dazu gibt es passende Guetzli, Pralinés und sogar eine Duftkerze. Nebenbei backt Hermé einen spektakulären Weihnachtskuchen und hat seine erste Autobiografie veröffentlicht. Ganz zu schweigen von der vergänglichen Skulptur, die er im Oktober im Auftrag der Stadt Paris angefertigt hat.


Der 61-jährige Hermé experimentiert seit fast einem halben Jahrhundert mit süssen Köstlichkeiten. In Colmar geboren, wird er in einer Konditorfamilie gross, ist Spross der fünften Generation. Mit 14 Jahren geht er nach Paris, um bei der Koryphäre Gaston Le Nôtre in die Lehre zu gehen. 1998 gründet er sein eigenes Haute-Patisserie-Haus. Seine besondere Leidenschaft: die Neuinterpretation des Macarons. Naschkatzen aus der ganzen Welt stehen Schlange, um sich Gebäck zu gönnen, das Eigennamen trägt: die Ispahan-Torte, eine Symphonie aus Rosen, Himbeeren und Litschis, die Carrément Chocolat, Grand Cru Araguani, die Tarte Infiniment Vanille, die mit den drei Herkunftsländern der Schote – Mexiko, Tahiti und Madagaskar – spielt. Am Abend wird die Zusammenarbeit «Nespresso x Pierre Hermé» in einem Pariser Hotel mit einer Party gefeiert. Der Konditor und Unternehmer ist entspannt, posiert in einem schwarzen Anzug und weissen Hemd auf Wunsch mit Influencern aus Brasilien und Marokko. Und er ist neugierig: «Haben Sie den OL Raspberry Cocktail probiert, den die Baristas mit meinem Kaffee kreiert haben?»

Kaffee mit Himbeergeschmack … im Ernst?!

Aber ja! Himbeeren haben einen leicht bitteren Nachgeschmack, der sehr gut zum ausgewogenen Arabica-Kaffee passt, den wir ausgewählt haben. Gerade weil die Verbindung auf den ersten Blick irritiert, wollte ich dieses Aroma entwickeln. Man muss immer etwas wagen! Mit den Teams von Nespresso haben wir fast 40 Versuche durchgeführt, um den Geschmack hinzubekommen.

Wie trinken Sie Ihren Kaffee?

Sobald ich ins Büro komme, nach meinem Morgentee. Ich mag ihn schwarz, dazu ein Glas Sprudelwasser, wie in Venedig. Um ehrlich zu sein: Ich war kein Fan von aromatisierten Kaffees. Als Nespresso mich bat, eine festliche Kollektion zu entwerfen, habe ich mich selber herausgefordert. Ich wollte Kaffees kreieren, die meine Meinung ändern: einen mit intensiv fruchtigen Himbeernoten und einen mit Haselnussaromen. Ich liebe Haselnüsse, ich esse sie jeden Tag! Mit dem Ergebnis bin ich sehr zufrieden. Der dritte im Bunde ist ein besonders intensiver Espresso mit nur ganz wenig Bitterkeit.

Bei Ihrer Recherche haben Sie Kaffeebauern in Kolumbien getroffen.

Ich war zwei Mal dort und durfte eine aussergewöhnliche traditionelle Kultur und Gastronomie kennenlernen. Die Bauern arbeiten auf kleinen Farmen, die zwischen zwei und vier Hektaren gross sind. Nespresso begleitet den gesamten Prozess, vom Anpflanzen bis zur Verpackung. Ich erinnere mich ein Mittagessen bei einer Bäuerin namens Flora, an ihren brandneuen Herd: Man spürt, dass die Menschen wieder Vertrauen in die Zukunft haben. Und ihr Arabica ist aussergewöhnlich! Fruchtig, aber nicht zu sehr.

Ihre Biografie ist gerade bei Buchet-Castel erschienen – sind Sie ein glücklicher Konditor und Unternehmer?

Absolut! Aber die Vergangenheit interessiert mich nicht. Diesbezüglich habe ich eine gewisse Amnesie. Was ich hingegen spannend finde: über die tägliche Praxis des Berufs zu berichten. Ich hoffe, dass ich junge Menschen für dieses Handwerk begeistern kann, da es heutzutage sehr schwierig ist, neue Talente zu finden. Der Beruf ist anspruchsvoll, man muss viel stehen – aber was er für Horizonte eröffnet! In meinem Betrieb dauert ein Arbeitstag auch nur siebeneinhalb Stunden, ich finde das ist ziemlich okay, oder? Ich habe wirklich Lust, die Intelligenz der Hände hervorzuheben, sie zu entwickeln und weiterzugeben.

Inwiefern hat sich der Beruf seit Ihren Anfängen verändert?

Die Techniken sind dieselben geblieben, die grosse Revolution ist der Zugang zu wunderbaren Rohstoffen. Als ich anfing, backte ich noch mit Margarine anstatt mit Butter. Heute hat sich ein ganzes Spektrum an fabelhaften Möglichkeiten eröffnet. Vorhin sprachen wir über Kaffees, aber dieselbe Hingabe gilt auch für den Anbau von Vanille.

Sie sind auch ein Fan von korsischen Produkten.

Meine Frau stammt von dort. Seit zehn Jahren fahre ich jeden Sommer nach Korsika, ich liebe es dort. Einige Produkte waren wie eine Offenbarung für mich. Etwa Zedrat, schwarze Zitrone oder Currykraut.

Durch TV-Sendungen und die sozialen Medien ist die Sichtbarkeit von Konditoren und Küchenchefs stark gestiegen – spielt Ihnen das in die Hände?

Ich muss zugeben, dass man Konditoreiwaren viel besser fotografieren kann als, sagen wir mal, Foie gras. Aber die Optik allein reicht nicht aus. Die Produkte müssen auch sehr gut schmecken, sonst kommt der Kunde nicht wieder. Man darf nie vergessen, dass es der Alltag ist, auf dem die Karriere oder ein Unternehmen fusst – nicht die Scheinwerfer, die irgendwann wieder ausgehen.

Trotzdem: Sie sind der erste Rockstar der Konditorei!

Zusammen mit meinen Teams haben wir den Aufstieg einer neuen Generation von Konditoren ermöglicht – und dazu beigetragen, dass ihre Fähigkeiten für die breite Öffentlichkeit sichtbar werden. Aber ich mag das Wort «Star» nicht besonders. Es überdeckt die ganze Arbeit, die im Verborgenen geschieht. Aber es stimmt, manchmal erkennt man mich auf der Strasse. Vorhin haben mir zwei ältere Damen mit einer Pierre-Hermé-Tasche in der Hand zugewinkt. Das freut mich natürlich, aber meine Hauptaufgabe ist es, meinen Teams zu ermöglichen, sehr gute Arbeit zu leisten. Mein Bekanntheitsgrad ist Ansporn für mich, Dinge weiterzuentwickeln, neu zu denken.

Wie definieren Sie den Hermé-Touch?

Die Dinge auf unsere Weise zu tun, wie man sie nicht unbedingt erwartet. Zum Beispiel wurden wir kürzlich von der Stadt Paris gebeten, eine Jubiläumstorte für das 20-jährige Bestehen der Kulturveranstaltung «Nuit Blanche» zu backen. Ich hatte keine Lust, noch eine weitere Torte zu backen, also habe ich etwas anderes gemacht: eine Installation aus Macarons, die zeitgenössischer Kunst ähnelt. Wie Sie sicher bemerkt haben, bin ich allergisch gegen jede Art von Benchmark, gegen jede Art von Klassifizierung – das ist eine Schublade für schlechte Ideen. Es ist sehr gut und interessant zu wissen, was andere machen, aber man sollte sich auf keinen Fall davon beeinflussen lassen.

Wie sieht eine Arbeitswoche von Ihnen aus?

Im Labor stehe ich schon seit etwa 20 Jahren nicht mehr. Dafür müsste ich morgens in Tokio, nachmittags in Paris und abends in Marrakesch sein … Aber einige meiner Mitarbeiter – es sind fast 650 auf der ganzen Welt – sind schon seit 30 Jahren dabei, das heisst, sie wissen, wie der Hase läuft. Ich bin der Urheber aller Kreationen und begleite den Prozess vom Entwurf bis zum Verkauf. Meine Neugier ist mein Antrieb. Gestern zum Beispiel habe ich mit den Marketingteams an einem Projekt für das nächste Jahr gearbeitet, das Thema lautet Paradox: eine Kollektion, die etwas Köstliches mit einer Zutat verbindet, die als nicht sonderlich schmackhaft gilt. Diese Idee verfolgt mich seit fast zwei Jahren. Das Wort steht in grossen Lettern auf unserer Inspirationstafel. Gerade hat Prada ein Parfum mit diesem Namen herausgebracht. Das muss ich unbedingt mal riechen!

Allergiker, Veganer, Zuckerabstinenzler – unsere Ernährung wird immer komplexer. Wie kann man es allen recht machen?

Wenn Sie mir diese Frage vor zehn Jahren gestellt hätten, hätte ich Ihnen geantwortet: Ich bin keine Apotheke. Jeder Herausforderung bietet aber auch neue Möglichkeiten. Ich arbeite derzeit an einem veganen Backbuch. Unsere «Gourmandise raisonnée»-Linie offeriert Patisserie mit einer reduzierten Kalorien-, Kohlenhydrat- und Fettzufuhr. Die nächste Neuheit in dieser Richtung ist die «Tarte Infiniment Passion» – was für ein schöner Name! Aber 60 Prozent der Produkte, die wir verkaufen, sind glutenfrei – sie heissen Macarons.

Die berühmten!

In der Schweiz kennen Sie bestimmt das Luxemburgerli. Es handelt sich um den Vorläufer des Macarons, der Ende der 1950er-Jahre von einem Luxemburger erfunden wurde. Er war beim Konditor Sprüngli angestellt und hatte die simple Idee, eine Füllung zwischen zwei Makronenguetzli zu platzieren.

Die Macaron-Kollektion «Le Temps retrouvé» ist eine Hommage an Proust. Verziert mit den feinen Zeichnungen von Juliette Lavat.

Apropos Schweiz: Wann bekommen wir die erste Filiale? Es wird höchste Zeit!

Wir pflegen ein freundschaftliches Verhältnis, also werde ich Sprüngli nicht auf seinem Terrain bekämpfen! Nein, im Ernst: Ich glaube, dass vor allem die Genferseeregion für uns interessant wäre, aber es ist nichts Konkretes geplant. Mein Vater war Bäcker und Konditor und hat sein Handwerk an der Richemont-Schule in Luzern gelernt. In meiner Kindheit waren wir sehr oft dort. Als ich das letzte Mal da war, habe ich im «Bürgenstock» übernachtet, einem wunderschönen Hotel. Und ich hatte unvergessliche gastronomische Erlebnisse bei Denis Martin in Vevey und im Hôtel de Ville in Crissier zu Zeiten von Philippe Rochat. Ich habe auch Fredy Girardet kennengelernt und durfte seine Küche bei Wohltätigkeitsgalas probieren. Aber ich bedauere, dass ich nie die Gelegenheit hatte, in seinem Restaurant zu essen. Und ich liebe Gruyère-Creme und Meringues!

Wie viel Disziplin braucht man, um gleichzeitig so genussvoll und kalorienarm zu arbeiten wie Sie?

Ah, ich kämpfe! Es ist ein ewiges Auf und Ab. Ich versuche, das Frühstück ausfallen zu lassen – und das gelingt mir fast immer. Aber ich bin ein unverbesserlicher Feinschmecker.

Wie feiern Sie Weihnachten?

Im Kreise meiner Familie. Mit meiner Frau, meinem Sohn, meinen Schwiegereltern, meiner Schwiegertochter und ihrer Mutter. Wir beginnen immer mit der Foie gras von Christine Ferber aus dem Elsass, die beste, die ich kenne. Dann folgt ein Gericht, das jedes Jahr variiert und von unserer Freundin, der Chefköchin Hélène Darroze, gekocht wird.

Und als Dessert natürlich Ihr legendärer Stollen – der diesjährige sieht unglaublich aus!

Haben Sie ihn gesehen? Er heisst «Tout Paris» und ist eine Hommage an die Pont Neuf, mit allen architektonischen Details aus Zartbitterschokolade mit Puffreis-Pralinés, Karamellcreme mit Fleur de Sel und vielem mehr.

Sie sind auch ein grosser Kunstliebhaber. Sammeln Sie auch?

Ich hasse die Idee des Sammelns, egal ob Kunst oder andere Dinge. Ich finde das Prinzip befremdlich. Ich lasse mich gerne überraschen und bin an Begegnungen interessiert. Alle meine Bilder und Skulpturen erinnern an Persönlichkeiten, die ich getroffen habe und zu denen ich eine Beziehung aufgebaut habe. Wie übrigens auch beim Wein! Zuerst lerne ich einen Winzer kennen, dann probiere ich seinen Wein, lasse ihn reifen … und teile ihn dann mit anderen. Das Wichtigste ist immer das Teilen!

Ich bin allergisch gegen jede Form der Klassifizierung. Ich denke Dinge gerne neu.

Drei auf einen Streich

Zum Jahresende hat der Star-Patissier drei Kaffeesorten in limitierter Auflage für die Schweizer Marke Nespresso entworfen: «Infiniment Fruité» mit Himbeergeschmack, «Infiniment Gourmand» mit Haselnussgeschmack und «Infiniment Espresso», dazu gibts gemischte Guetzli vom Meister.