Aline Rüede, Gründerin von Studio Végété, zählt weltweit zu den gefragtesten Designern für botanische Konzepte.

Wer Aline Rüede treffen möchte, muss Geduld aufbringen. Kein Wunder – ihr Terminkalender ist prall gefüllt. Mit Studio Végété, ihrem interdisziplinären Designstudio mit Sitz in Zürich und Paris, entwickelt sie florale Setdesigns, Rauminstallationen und botanische Konzepte für Kampagnen, Fotostrecken und Kunstprojekte. Und das mit durchschlagendem Erfolg: Nach nur wenigen Jahren im Business liest sich ihre Kundenliste wie ein Who’s who der Luxusbranche – Hermès, Prada, Loewe, Van Cleef & Arpels, Gucci, Byredo, Louis Vuitton. Wie es dazu kam? «Es ist einfach passiert.»

Ursprünglich absolvierte Rüede eine Lehre als Floristin. Doch so richtig fand sie sich in dem Beruf nie wieder. «Es missfiel mir, wie jede meiner Arbeiten immer bis ins kleinste Detail mit dem Team diskutiert werden musste. Mir fehlte die kreative Freiheit.» Also wandte sie sich von der Floristik ab und liess sich zur Ergotherapeutin ausbilden – und obwohl sie im neuen Job durchaus Erfüllung fand, blieben die Blumen doch stets präsent. Während einer Weltreise, rund vier Jahre nach dem Studienabschluss, fand Rüede schliesslich zurück zu ihrer Leidenschaft. «Ich hatte keine Lust, möglichst viele Länder abzuklappern und mir Tausende von Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Was ich wirklich wollte, war Zeit für mich. Und so fasste ich den Entschluss, mich jeweils intensiv mit einer Pflanze auseinanderzusetzen – sie zu recherchieren, sie zu beobachten, zu dokumentieren. Einfach aus Neugier, nur für mich.» 

Gesagt, getan. Nach ihrer Rückkehr verarbeitete Rüede ihre Beobachtungen in einem kleinen Fotobuch, zeigte es Freundinnen und Freunden – und legte damit unbewusst den Grundstein zu ihrer Karriere. Durch klassische Mundpropaganda beauftragte ein Fotograf sie mit der Erarbeitung ihres ersten floralen Stylingkonzepts. Und die Dinge nahmen ihren Lauf. Heute pendelt Aline Rüede zwischen Zürich und Paris und arbeitet für die grössten Namen der Branche.  Schon kleine Dinge – ein Schattenwurf, eine Bodenstruktur – können sie zu Neuem inspirieren.

Die Kompositionen von Aline Rüede strahlen (scheinbare) Einfachheit und Leichtigkeit aus.

Ideen hält sie in Skizzen fest. Der Umfang ihrer Arbeit variiert je nach Projekt. «Gewisse Kunden kommen mit klaren Ideen auf mich zu: Sie wollen diese drei Blumen in diesen drei Farben in diesen drei Grössen. Manchmal kann ich diese Wünsche erfüllen, manchmal nicht. Gerade Städter leben im Glauben, dass ihnen zu jedem Zeitpunkt alles zur Verfügung steht. Ich muss ihnen oft erklären, dass das leider nicht so ist.» In andere Projekten wird Rüede hingegen von Anfang an einbezogen und darf das Konzept aktiv mitgestalten. «Diese kreative Freiheit macht die Arbeit für mich natürlich interessanter – auch wenn solche Aufträge wesentlich zeitintensiver ausfallen. Am Ende schätze ich die Kombination aus beidem.»

Genauso wie die Mischung verschiedenartiger Aufträge geniesst Rüede das Pendeln zwischen den zwei so unterschiedlichen Städten. «Paris ist voller wahnsinnig spannender Jobs und Leute, die weiterdenken, die Dinge bewegen wollen. Hier in Zürich liebe ich die Freiheit, die man mir gewährt, und das enorme Vertrauen, das man mir entgegenbringt.» Die unterschiedliche Erwartungshaltung sei nachvollziehbar. «In der Schweiz ist die internationale Sichtbarkeit begrenzt – man kann mutiger sein, ohne alles bis ins Detail zu hinterfragen. In Paris ist das anders. Hier setzt man Industriestandards, definiert Trends. Man produziert quasi für die Augen der Welt. Da ist der Druck natürlich extrem hoch.»

Schönheit im Unperfekten

Rüedes erste Monate in der französischen Hauptstadt waren entsprechend herausfordernd. «Ich musste die Kultur verstehen lernen – und die Sprache. Als Schweizerin war ich eine Aussenseiterin, und man gab mir das deutlich zu verstehen.  Jeder Anfrage an meine Agentur wurden zwei Fragen vorangestellt: Kann sie Französisch? Und versteht sie Paris?»

Das war 2021. Heute kann Rüede Französisch – und sie versteht Paris, wenn auch nicht immer so richtig. «In Paris muss immer alles sublime sein, makellos. Aber ich mag das Unperfekte. Manchmal sind Szenen schöner, bevor sie inszeniert sind. Ich nehme den Aufstand um ein schiefes Tulpenblatt nicht immer ganz ernst. Einige stosse ich damit vor den Kopf, andere schätzen meine pragmatische Haltung.» Dieser Pragmatismus prägt jeden Aspekt von Rüedes Arbeit – ebenso wie ihre Motivation, das Schöne im Unperfekten zu sehen. «Manchmal wird es mir zu viel mit all den hübschen Blumen. Ein Stiel zum Beispiel kann doch genauso spannend sein wie eine Blüte! Aber heute gibt es so klare Regeln dafür, was als schön gilt. Dabei sollte das doch jeder für sich selbst entscheiden dürfen.»

So pragmatisch ihre Haltung gegenüber Perfektion und Erfolg, so ungehemmt ist ihre Leidenschaft für ihr Handwerk. «Viele andere wären gelangweilt, wenn sie sich tagaus, tagein mit Blumen beschäftigen müssten. Ich bin es nicht im Geringsten! Ich erkenne jeden Tag aufs Neue, was es noch zu entdecken und auszuprobieren gibt.»