Die Meeresbiologin Emma Camp könnte das Great Barrier Reef vor dem Tod retten: Sie bepflanzt es mit Korallen, die widrigen Umständen trotzen.

So wie andere rasch ihre Sneakers schnüren, um eine Runde durchs Quartier zu drehen, so selbstverständlich schlüpft Emma Camp in ihren Taucheranzug. Der australische Meeresboden ist gewissermassen das natürliche Habitat der aus Südengland stammenden Meeresbiologin, die sich mit gerade mal 35 Jahren einen Namen gemacht hat – in Fachkreisen, wo man ihre Arbeit auf dem Gebiet der Korallen fasziniert beobachtet. Aber auch in einer breiteren Öffentlichkeit, weil Camp die tiefschürfenden Veränderungen, die sich derzeit im Meer abspielen, in so klare Worte zu verpacken weiss, dass auch Laien die Dringlichkeit zu handeln bewusst wird.

Camps Labor an der Uni Sydney ist so etwas wie die Schaltzentrale einer ganzen Reihe von hoffnungsvollen Projekten, die alle der Rettung des Great Barrier Reef gewidmet sind, dieser legendären, 2300 Kilometer langen Ansammlung von Korallenriffen vor der Nordostküste Australiens, die sogar aus dem Weltraum zu sehen ist. 1981 zum Unesco-Weltnaturerbe erklärt, sorgt der Traum aller Hobbytaucher bei Meeresbiologen heute eher für schlaflose Nächte: Klimaerwärmung und Meeresverschmutzung setzen den Korallen heftig zu; Studien zeigen, dass rund 50 Prozent davon inzwischen abgestorben sind. Und genau hier kommt Emma Camp ins Spiel. Ihr Team betreut und dokumentiert das Neubesiedlungsprojekt des gigantischen Riffs, für das sie – so unkonventionell wie genial – den Tourismus miteinspannt: Wer will eine gesunde Babykoralle einpflanzen und die Lücke schliessen, die ihre verkümmerten Vorgänger hinterlassen haben?


Klar, Camp mag einen Grossteil ihrer Zeit im Labor verbringen. Ausserdem ist sie aber auch Mutter, Sportlerin in Topform, wortgewandt und leidenschaftlich – und damit ein Vorbild für all jene Mädchen, die ein Flair für Wissenschaft haben, aber glauben, Naturwissenschaft sei nichts für sie. 2019 holte Camp den angesehenen Rolex Award for Enterprise, der seit 1976 jedes Jahr an Menschen verliehen wird, die sich für Wissensvermittlung auf dem Gebiet von Ökosystemen und für deren Erhaltung engagieren. Davor ist Camp auch schon – mit gerade mal 30 – zum National Geographic Explorer ernannt und im Jahr drauf in den illustren Kreis der Young Leaders for the UN Sustainable Goals aufgenommen worden, jener neuen Generation von Vordenkern, die an innovativen Lösungen für die Umweltproblematik arbeitet. Uns hat die engagierte Wissenschaftlerin via Videocall erklärt, wie sie die Sichtbarkeit nutzt, die ihr die Aufnahme in die derzeit 155 Forschende umfassende «Familie» der Rolex-Perpetual-Planet-Initiative verschafft hat: nicht in erster Linie, um Alarm zu schlagen – obwohl das auch nötig ist. Sondern, um neue Lösungswege aufzuzeigen.

Es ist 8 Uhr früh bei uns in der Schweiz, 18 Uhr bei Ihnen in Sydney. Womit haben Sie den heutigen Tag verbracht?

Im Labor mit Datenanalysen, zusammen mit den Studenten, die mit mir am Projekt arbeiteten. Es war ein komischer Tag mit sehr starken Winden, einem fiesen Sturm und Überschwemmungswarnungen. Immer, wenn das Wetter derart verrückt spielt, muss ich an die Korallen denken, weil dann der Klimawandel, der ihnen so zusetzt, auch für uns spürbar wird.

Um das Great Barrier Reef, Ihr primäres Forschungsgebiet, steht es schlecht. Trotzdem hat die Unesco bis jetzt darauf verzichtet, es als „gefährdet“ einzustufen. Was sagen Sie dazu?

Wenn man bedenkt, dass das Riff seit 1995 wegen der Meereserwärmung geschätzt die Hälfte seiner Korallen verloren hat – wobei ich es für realistischer halte, dass sogar 60 bis 70 Prozent abgestorben sind – und dass sich die Korallenbleiche dramatisch beschleunigt, ist die Entscheidung der Unesco zumindest fragwürdig. Allerdings laufen derzeit Untersuchungen, deren Resultate eine Neueinstufung mit sich bringen könnten. Was aber wichtiger ist: Noch sind nicht alle Korallen tot. Noch gibt es dort unten eine wunderbare Natur, die zu retten sich lohnt. Und das ist es, was mich antreibt. Noch gibt es Hoffnung!

Warum ist das Great Barrier Reef für uns wichtig?

Man könnte es als Unterwasserregenwald bezeichnen. Die Artenvielfalt dort unten ist sagenhaft. Und man weiss, dass es als eine Art submarine Apotheke funktioniert, mit Substanzen, die wir gerade erst zu entdecken beginnen. Von der wirtschaftlichen Bedeutung für Australien mit über drei Millionen Besuchern pro Jahr ganz zu schweigen.

Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, widerstandsfähige Korallenarten aufzuspüren, die an besonders ausgedünnten Stellen neu angepflanzt werden könnten.

Genau. Unsere Forschung dreht sich darum, zu verstehen, warum manche Korallen in der Lage sind, unter extremen Stressbedingungen zu überleben. In seichten Lagunen mit Mangrovenwäldern etwa, wo im Grunde die denkbar schlechtesten Bedingungen für Korallen herrschen: Das Wasser dort erwärmt sich schnell, es hat wenig Sauerstoff, dafür viel Säure. Dort entnehmen wir diese sogenannten Superkorallen und erforschen ihre Genetik, mit dem Ziel, mit diesem Wissen dem Great Barrier Reef Zeit zu verschaffen.

Wie sieht der zeitliche Rahmen dieses Projekts aus?

Mit der Forschung begannen wir 2014. Aktuell führen wir Umpflanzungsversuche durch, um mögliche negative Auswirkungen kontrollieren zu können. Bis jetzt sind aber keine eingetreten. Im Gegenteil: Die ersten Ergebnisse sind sehr vielversprechend, mit Korallen, die wirklich gut wachsen und eine verkümmerte Zone wieder besiedeln können. Gleichzeitig arbeiten wir mit den widerstandsfähigsten Korallen in stark beschädigten Riffen: Wir entnehmen sie, behandeln sie mit Transplantaten und pflanzen sie wieder dort ein, wo wir sie gefunden haben. Wie bei einer Baumschule. Ein sehr kostspieliges Unterfangen, das wir im Schulterschluss mit der Tourismusindustrie durchführen.

Soll das heissen, dass jeder Hobbytaucher bald solche aufgepäppelten Korallen einpflanzen kann?

Ganz so einfach ist es leider nicht. Aber wir dürfen die Boote der fünf grössten Reiseveranstalter und deren speziell geschultes Personal nutzen. So konnten wir in den letzten Jahren rund 70 000 Korallen neu pflanzen. Das ist auch dringend nötig, denn wir befinden uns an einem Punkt, an dem es nicht mehr reicht, die Zerstörung des Ökosystems zu stoppen; wir müssen Zerstörtes auch wieder neu aufbauen. Wissenschaftler allein können da nicht viel ausrichten. Akteure aus allen möglichen betroffenen Branchen müssen sich einbringen. Wir haben ein kollektives Problem. Die gute Nachricht ist, dass auch jede und jeder Teil der Lösung sein kann.

Wie ist Ihre Forschungsarbeit organisiert?

Ich bin mit dem sogenannten Climate Change Cluster an der University of Technology Sydney verbunden. Professor David Suggett leitet dort ein Programm zur Zukunft der Riffe, an dem verschiedene Forschende auf unterschiedlichen Gebieten mitarbeiten. Meine Aufgabe ist es, die Überlebensmechanismen von Korallen unter unwirtlichen Bedingungen zu ergründen. Dabei werde ich von einem Team von Studenten, Doktoranden und Forschern unterstützt, im Ganzen sind wir etwa 25 Personen. Hinzu kommt das Kooperationsprogramm mit dem Tourism Board, an dem acht Personen und ein Netzwerk von etwa 30 Mitgliedern beteiligt sind.

Wie muss man sich Ihren Wochenablauf vorstellen?

Die typische Woche gibt es. Jetzt gerade komme ich von einem zweiwöchigen Feldeinsatz in einem ganz bestimmten Gebiet des Great Barrier Reef, dem Opal Reef. Dort bin ich jeden Tag hinunter getaucht, habe Proben gesammelt und Beobachtungen aufgezeichnet. Jährlich verbringe ich zwei bis drei Monate im Wasser, den Rest der Zeit bin ich im Labor oder unterrichte. Das liebe ich an meiner Arbeit: dass kein Tag wie der andere ist.

Wie kam es, dass Sie – als Stadtkind in Südengland aufgewachsen – heute im und am Ozean arbeitet?

Ich war schon immer vom Meer angezogen. In meiner Familie tauchte zwar niemand. Aber mein Vater erzählt jeweils, dass man mich als Knirps bei unseren Ferien auf den Bahamas nie aus dem Wasser bekam. Meine Eltern arbeiteten in der örtlichen Verwaltung; inzwischen ist mein Vater pensioniert, und meine Mutter ist leider gestorben, als ich 18 Jahre war. Nichts an unserem Lebensstil hat mich für die Karriere prädestiniert, die ich jetzt habe. Aber: Meine Eltern liebten es zu reisen. Sie sparten für Fernreisen, und so hatte ich das Glück, früh mit fremden Kulturen in Kontakt zu kommen. Dadurch habe ich wohl eine gewisse Neugier entwickelt, die meiner Forschungsarbeit heute zugutekommt.

Trotzdem: Ein ganz schön weiter Weg von Südengland bis nach Australien, zu den Korallen…

Wenn man mich in der Grundschule fragte, was ich mal werden will, sagte ich immer: Meeresbiologin! Ohne eine Ahnung zu haben, was das genau ist. Ich wusste nur, dass ich den Film «Free Willy» geliebt hatte – und dass sich die Geschichte des gefangenen Orcas wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen sollte.

Woran denken Sie, wenn Sie unter Wasser sind?

Ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit, dass ich das tun kann, was ich liebe. Und ehrlich gesagt schätze ich es sehr, dass unter Wasser niemand mit einem sprechen kann. Diese Ruhe, diese Langsamkeit dort unten, das schafft ein Gefühl des Friedens. Dazu kommt, dass man nie weiss, was man sehen oder erleben wird – diese magische Spannung verschwindet nie, ganz egal, wie viele Tauchgänge man schon gemacht hat. Zum Beispiel schwimmt plötzlich eine majestätische Schildkröte neben einem – das ist wie ein Geschenk!

Tauchen Sie auch zum Vergnügen?

Weniger, seit ich Mutter geworden bin. Aber schon beim Schnorcheln kann man ja die schönsten Dinge unter Wasser entdecken!

Wie erholen Sie sich von Ihrem intensiven Alltag?

Ich gehe leidenschaftlich gern rennen. Mein Mann und ich pflegen generell einen sportlichen Lebensstil, erkunden oft die Nationalparks in der Umgebung von Sydney. Aber natürlich bringt es Routinen durcheinander, wenn man ein zweijähriges Kind zu Hause hat. Tane – unser Sohn hat einen Maori-Name erhalten, weil mein Mann Neuseeländer ist – fängt gerade an zu laufen und ist enorm neugierig. Kürzlich hab ich ihn auf eine Studienreise mitgenommen. Er kam nicht jeden Tag mit aufs Boot, aber er beobachtete das Wasser, die Wellen, den Forscheralltag ..

Auf Ihrer Website plädieren Sie für Work-Life-Balance.

Oh dear, und das ist jeden Tag aufs Neue eine Herausforderung! Aber auch da hilft Tane sehr. Denn ich habe begriffen, dass Zeit, die ich mit Arbeiten verbringe, Zeit ist, die ich nicht bei ihm sein kann. Dadurch habe ich gelernt, Prioritäten zu setzen und Nein zu sagen. Das bedeutet auch, Aufgaben zu delegieren – was wiederum Kollegen Möglichkeiten eröffnet. Ich setze klare Grenzen, wann und wie viele Stunden ich verfügbar bin, was besonders knifflig ist, wenn man international und über mehrere Zeitzonen hinweg arbeitet. Aber diese Unsitte, dass immer alle sofort auf jedes Mail antworten müssen, muss unbedingt aufhören. Die Kontrolle über die eigene Zeit zu behalten – das ist ein hartes Stück Arbeit!

Noch ist das Great Barrier Rief nicht tot! Es lohnt sich, dafür zu kämpfen!

Ein weiteres Herzensprojekt von Ihnen ist es, mehr Frauen für die Wissenschaft zu begeistern. Warum, denken Sie, sind Forscherinnen immer noch in der Minderheit?

Die Anreizpolitik ist natürlich von Land zu Land sehr verschieden. Hier in Australien haben wir viele Studentinnen, die sich für Biologie begeistern. Bloss: Der Industrie und der akademischen Welt gelingt es nicht, sie zu halten. Wissenschaftlerinnen auf dem Arbeitsmarkt zu halten: Das ist noch schwieriger, als sie überhaupt da reinzubringen. Forschung und Privatleben unter einen Hut zu bringen, ist wirklich schwer. Zumal die Wissenschaft sehr schnelllebig ist, sodass es schwierig ist, Schritt zu halten. Noch immer wird Erfolg an der Anzahl Publikationen – möglichst in renommierten Zeitschriften – gemessen. Das wirkt sich direkt auf die Finanzierung von Projekten aus … Wer ein bisschen kürzer tritt, zum Beispiel, um ein Kind grosszuziehen, bezahlt teuer dafür.

Muss sich die Anzahl Frauen in der Forschung erst vervielfachen, bevor sich etwas ändert?

Exakt! Das System wird sich erst ändern, wenn ausreichend Frauen in den Entscheidungsgremien sitzen. Ausserdem haben Schülerinnen in vielen Ländern noch immer keine Vorbilder auf dem Gebiet der Wissenschaft. Auch ich selbst habe erst an der Uni von Sylvia Earle gehört (die 86-jährige Amerikanerin gehört zu den weltweit bekanntesten Ozeanografen, Anm. d. Red.)! Ich bin überzeugt, dass Sehen oder Nichtsehen den Unterschied in der Welt ausmacht. Die visuelle Darstellung, ein Gesicht vor Augen, kann Perspektiven eröffnen. Das gilt für weibliche Vorbilder ebenso wie für solche aus untervertretenen Kulturen und für solche mit Beeinträchtigung. Die Wissenschaft braucht dringend mehr Vielfalt, um für die Krise, die wir gerade erleben, Lösungen zu entwickeln.

Sylvia Earle erhielt 1982 den Rolex Award, genau wie Sie nun auch. Wie sehr hilft ein solcher Sponsor?

Sehr! Neben der finanziellen Unterstützung für das Verpflanzungsprojekt hat mir der Rolex Award enorme Sichtbarkeit verschafft. Was wiederum Beziehungen und Finanzquellen erschliesst, zu denen ich sonst nie Zugang gehabt hätte. Diese Plattform ist unendlich wertvoll, um seine Botschaft zu verbreiten. Deswegen wiederhole ich hier: Das Riff ist nicht tot! Es lohnt sich, dafür zu kämpfen! Man muss nicht am Great Barrier Reef tauchen, den Amazonas überqueren oder durch Antarktis wandern, um sich bewusst zu werden, dass wir alle Teil der Natur sind. Wenn die Menschen diese Verbindung nur besser spüren könnten! Jede Entscheidung, jede Geste unsererseits hat eine Auswirkung.

Tragen Sie jetzt eigentlich eine Rolex?

Zu besonderen Anlässen. Sie wurde mir mit dem Preis überreicht – und schüchtert mich immer noch etwas ein. Eine Meeresbiologin kann sich eine solche Uhr sonst nie und nimmer leisten!