
Der Designer Erwan Bouroullec wandelt neu auf Solopfaden. Er entwirft schlichte Stücke, die einen engen Bezug zur Natur haben.
Seit mehr als 25 Jahren ist der bretonisch klingende Name Bouroullec eine süsse Melodie in den Ohren von Designliebhabern. Bekannt wurden die Brüder Ronan und Erwan zunächst durch ihr Alkovenbett, das heute in mehreren Museen ausgestellt wird. Ihre kühnen Kreationen für führende Designhäuser haben ihnen weltweit Anerkennung eingebracht. Von der vielseitigen Einfachheit ihrer Module, die an Algen erinnern, über die sanfte Effizienz der Pflanzenstühle bis hin zur diskreten Majestät ihrer Brunneninstallationen auf den Champs-Elysées. Doch mittlerweile gehen Ronan und Erwan getrennte Wege.
Seitdem wandelt besonders der jüngere Bruder Erwan erfolgreich auf Solopfaden. Während er weiterhin mit Designhäusern wie Vitra, Hay oder Flos kooperiert, schafft er beeindruckende, teils monumentale Kunstwerke, die am Computer entstehen und organische wie kafkaeske Strukturen haben, die eine geheime Botschaft tragen. Vielleicht ist es auch ein Ausdruck seiner Wandelbarkeit, dass Erwan und seine Familie in ein altes Bauerngehöft im Burgund investiert haben, das sowohl als Wohnstätte wie auch als Produktionsort und Showroom dient. Dennoch hat Erwan sich entschieden, sein neustes Werk für Vitra – den Stuhl Mynt –in seinem neuen Pariser Studio im 19. Arrondissement zu präsentieren.
Die Idee für Mynt hatten Sie schon lange. Warum hat es so lange gedauert, bis er auf den Markt gekommen ist?
Ich hatte immer den Traum, einen Stuhl zu entwerfen, der den Körper einfach unterstützt und ihm gleichzeitig ermöglicht, sich frei zu bewegen. Aber ich habe auch immer davon geträumt, einen Stuhl zu gestalten, der nicht diese hyperergonomischen Sprache spricht, die oft mit vielen technischen Merkmalen einhergeht. Ich denke, die Hyperergonomie hat ihre Grenzen, da sie zu sehr auf den Arbeitsbereich fokussiert ist. Um jedoch diesen perfekten Ausgleich zwischen Design und Technik zu finden, ohne Kompromisse einzugehen, brauchte ich Zeit, um zu üben. Vor 25 Jahren begann ich, diesen Stuhl zu erdenken … Rolf Fehlbaum, der ehemalige CEO von Vitra (heute emeritierter Präsident, Anm. d. Redaktion), hat mich gelehrt, wie Menschen auf Stühlen sitzen. Ronan und ich waren sehr jung, für uns war es superspannend, von ihm zu lernen. Aber wir waren auch etwas naiv in unserer Designauffassung … Für mich verkörpert Mynt ein bisschen den Abschluss eines Lebensabschnitts: Ich finde, er hat nun diese Klarheit eines Hammers oder einer Säge erreicht. Er ist von unnötigen Attributen befreit, ich finde ihn ziemlich transparent. Er verbirgt nichts.

Dieser Stuhl erzählt letztlich viel über unsere neue Art, zu leben und zu arbeiten.
Ja. Mein Team und ich haben uns diesen Stuhl ausgedacht, weil sich in den vergangenen Jahren gesellschaftlich viel verändert hat. Zunächst einmal gibt es immer weniger Szenarien, in denen die Arbeit monoton ist, dass man ständig dieselbe Aufgabe wiederholt. Heute ist die Arbeit viel flexibler geworden, findet auch an verschiedenen Orten und in verschiedenen Räumlichkeiten statt. Man braucht immer mehr Stühle, die etwas «aufgeschlossener» sind, die sich an jede Aufgabe, jeden Moment und jede Person anpassen. Mit Mynt versteht unser Körper sehr schnell, was er tun muss. Er braucht keine Lektion, unser Körper surft ein wenig auf dem Stuhl. Ich sage gerne, dass in jedem von uns ein Affe steckt. Und dieser Affe muss sich unbedingt bewegen, von Baum zu Baum springen. In jedem von uns steckt auch eine Katze. Wenn Sie sich Katzen ansehen, verbringen sie ihr Leben damit, sich zu strecken und in Bewegung zu sein. Auf diese Weise wird der Körper nicht ständig unter Druck gesetzt. Und das ist im Grunde gut für die Gesundheit. Aber meiner Meinung nach ist es auch sehr gut, um den Geist beweglich zu halten.
Wie hat sich Ihre Sicht auf Design in Ihrer 25-jährigen Karriere entwickelt?
Für mich ist es sehr wichtig, dass Design transparent ist. Was bedeutet das? Ich glaube, eines der komplexesten Probleme, mit denen unsere Zivilisation konfrontiert ist, ist, dass wir überall von Dingen umgeben sind. Wir konsumieren ständig neue Produkte. Leider gibt es derzeit viele Materialien, die «falsch» sind. Wir sind quasi umzingelt von falschen Materialien. Wenn Sie sich zum Beispiel einen Parfumflakon oder eine Limonadenflasche anschauen, können Sie sehen, dass es sich um zwei völlig unterschiedliche Materialien handelt. Aber es ist ein bisschen verrückt für mich, ein Stück Plastik mit einer Goldveredelung zu versehen. Ist das Gold oder ist das Plastik? Vielleicht sind wir noch in der Lage, zu unterscheiden, aber was wird mit der nächsten Generation sein? Nach und nach werden die Menschen irgendwann die Beschaffenheit des Materials buchstäblich nicht mehr erkennen können. Ebenso wird es ihnen immer schwerer fallen, sich die Herstellung vorzustellen, die hinter einem Gegenstand steckt. Um dem entgegenzuwirken, muss der gesamte Prozess sehr transparent sein, so «nackt», dass es am Ende nicht schwer ist, die Arbeit zu erkennen, die dahintersteckt.

Sie sprechen von Transparenz, aber auch von Eleganz.
Meine Vision ist es, ein Produkt von universeller Qualität zu schaffen, das gut gefertigt und funktional ist, ohne an Eleganz zu verlieren. Ich denke, Design ist im Herzen der Zivilisation verankert. Es trägt diesen magischen Aspekt in sich, etwas für jemanden zu schaffen. Manchmal ist diese Magie einfach, wie wenn der Grossvater einem etwas zum ersten Mal beibringt oder die Grossmutter etwas kocht. Doch diese Magie kann korrumpiert werden: durch Preiswettbewerbe, Produktionsschnelligkeit und Innovationsdruck. Das erlebte ich etwa beim Entwurf eines Fernsehers für Samsung – ein Bereich, der immer neue Funktionen erfordert, um den Markt zu stimulieren. Dennoch muss auch hier Eleganz eingebettet sein. Eleganz und Langlebigkeit gehen für mich Hand in Hand. Ein wunderbares Beispiel sind etwa die Eames-Stühle. Ihre gesellschaftliche Langlebigkeit ist aussergewöhnlich, sie werden immer zeitlos sein. Eleganz erleichtert viele Dinge. Man kann das daran erkennen, dass die Qualität einer Präsentation nachweislich negativer bewertet wird, wenn man schlecht gekleidet ist.
Gibt es einen Entwurf, der Ihr kreatives Wesen am besten repräsentiert?
Es ist schwierig, sich auf ein Projekt festzulegen, denn – möglicherweise etwas selbstbezogen – glaube ich, dass Ronan und ich aus vielen verschiedenen Perspektiven an das Design herangegangen sind. Diese kollektive Arbeit macht viel vom Sinn unserer Arbeit aus. Wenn es eine durchgängige Qualität in all meinen Projekten gibt, dann ist es eine gewisse Bescheidenheit. Es steckt viel Leidenschaft in meinen Designs, aber sie sind nicht darauf ausgelegt, sich selbst zu übertrumpfen. Sie sind gute Begleiter, präsent, wenn nötig, und still, wenn nicht. Ich finde diese Art des Designs ziemlich gelungen.

Gibt es noch Bereiche, die Sie neu erfinden möchten, in denen Sie gerne Einfluss nehmen würden?
Ich würde unheimlich gerne etwas im Bereich Verkehr machen. Vor Kurzem wäre ich fast in ein Zugprojekt involviert worden, das leider nicht zustande kam … Grosse Organisationen vertrauen keinen kleinen Strukturen wie unserer, sie wollen keine intuitive Herangehensweise. Aber ich würde sehr gerne etwas im Bereich Verkehr machen, da er so symbolträchtig ist. Ich bin kein eingefleischter Autofan, genauso wie ich kein grosser Fernsehzuschauer bin, aber dennoch entwarf ich einen Fernseher für Samsung.
Arbeiten Sie mittlerweile ganz allein, oder gibt es jemanden, mit dem Sie gerne kollaborieren würden?
Kim Stanley Robinson wäre jemand, mit dem ich gerne zusammenarbeiten würde. Er ist ein bedeutender Schriftsteller einer sehr «nahen» Science-Fiction. Er wurde bekannt durch seine Mars-Trilogie. In seinen Büchern reflektiert er, wie das Leben nach ökologischen Katastrophen organisiert wird, aber nicht in einer Mad-Max-Welt, eher unter Beibehaltung demokratischer Prinzipien und des Miteinanders. Seine Werke sind fesselnd. Wenn es darum geht, mit wem ich arbeiten möchte, dann sind es generell eher Wissenschaftler als Künstler. Die heutige Kunst wirkt oft zu werbend, mit Schockeffekten. Diese Art von Effekten, die zwingend beeindrucken sollen, spricht mich nicht wirklich an.
Ist der Umzug auf eine Farm in Burgund eine Rückkehr zur Natur?
Es mag sehr reaktionär sein, zu sagen, dass wir zu einfacheren Dingen zurückkehren müssen. Aber ich liebe ländliche Umgebungen, weil ich sie unglaublich «leistungsfähig» und schön finde. Auf einem Bauernhof gibt es viele grossartige Möglichkeiten, seine Zeit zu nutzen, Ressourcen zu nutzen, seine Intelligenz zu nutzen. Ich finde einen Bauernhof total faszinierend. Wenn Leute in meiner Umgebung noch nie auf einem Bauernhof waren, sage ich ihnen: Geht auf einen Bauernhof anstatt nach Stockholm oder Kopenhagen!

Der Designer hat einen Bauernhof im Burgund gefunden, der nun als Wohnort, Produktionsstätte und Showroom dient und den er nach und nach ausbaut.
War es notwendig, der Stadt den Rücken zu kehren?
Die Leute sagen mir stets: «Ah, das ist eine Rückkehr zur Natur», aber das stimmt nicht wirklich … Ich komme aus der Bretagne, wo viele Bauern leben. Irgendwann hatte ich einfach das Bedürfnis, in diese Art von Umgebung zurückzukehren. In Wirklichkeit ist es mehr eine Rückkehr in einen landwirtschaftlich geprägten Raum. Im Burgund gibt es keineswegs nur Natur. Da gibt es Bauern, Viehzucht, Wein und Forstwirtschaft. Ich finde, dass die Menschen dort, wie an vielen anderen Orten auch, anpacken. Manchmal denke ich, dass die Möglichkeit, kreativ zu sein, in Grossstädten eingeschränkt ist. Es gibt viele Dinge, die man dort nicht machen kann. Wie zum Beispiel ein Loch in den Boden graben, keine Ahnung!
Was machen Sie, wenn Sie nicht arbeiten, um abzuschalten – abgesehen von Löchergraben?
Ich lese viel. Vor allem Science-Fiction und historische Bücher. In beiden Fällen liebe ich es, dass sowohl die Science-Fiction als auch die historischen Bücher immer die Grundlagen der Zivilisation beschreiben müssen: wie man isst, wie man sich fortbewegt, wie man dies oder jenes macht. Und generell finde ich immer eine Möglichkeit, mich auf dem Land zu beschäftigen, was übrigens ein kleines Problem ist. Ich stamme aus einer Familie, die vom Arbeiten geradezu besessen ist. Mein Vater wurde als Sohn eines Landwirts geboren und hat bis heute Angst vor der geringsten Untätigkeit. Wenn meine Töchter ein paar Tage bei ihm waren, kam es vor, dass er mich anrief und beinahe panisch sagte: «Deine Töchter tun nichts, sie wollen nichts machen!» Und wenn ich ihn fragte, was sie denn machten, sagte er, dass sie lesen würden. Für ihn steckt da eine Form von Untätigkeit drin. Denn wenn man auf dem Land aufwächst, fällt man einen Baum, repariert die Tür oder macht irgendetwas anderes mit seinen Händen. Also hat diese Form der Erziehung, ohne dass man es merkt, einen gewissen Einfluss auf mich gehabt. Wenn ich auf dem Land bin, habe ich gern immer eine kleine Aufgabe zu erledigen.