
Harris Reed, künstlerischer Leiter bei Nina Ricci, mischt die Modewelt mit einem Mix aus Theater, Couture und Aktivismus auf.
Kaum ein Designer der jüngeren Generation vereint Mode, Identität und gesellschaftlichen Wandel so eindrucksvoll wie Harris Reed. Mit seinen opulenten Silhouetten, extravaganten Materialien und einer klaren Botschaft zur Auflösung genormter Körperformen und binärer Geschlechtergrenzen hat sich der britisch-amerikanische Kreative einen festen Platz in der Modewelt erkämpft – und das in bemerkenswerter Geschwindigkeit.
Nur fünf Jahre nach seinem Abschluss am renommierten Central Saint Martins College in London zählen seine Entwürfe – sie changieren irgendwo zwischen Theater, Couture und Aktivismus – zu den liebsten von Prominenten wie Harry Styles, Adele, Emma Watson oder Florence Pugh. Dabei versteht der 29-Jährige Mode nicht nur als ästhetisches Statement, sondern als politische Bühne – und seit er im September 2022 als Kreativdirektor des Modehauses Nina Ricci bestätigt wurde, nicht nur im wilden London, sondern auch im wesentlich traditionskonformeren Paris.
Im Gespräch anlässlich der Promotionstour von Nina Riccis neuem Duft Venus treffen wir Harris Reed zu einem erfrischend offenen Gespräch über die Aussagekraft von Kleidung, über queere Repräsentation und seine Rolle als kreativen Grenzgänger in einer sich ständig wandelnden Industrie.
Harris Reed, lassen Sie uns ganz vorne anfangen. Sie sind während Ihrer Kindheit oft umgezogen.
Wahnsinnig oft … Meine Schwester und ich sind bei meiner Mutter aufgewachsen. Meine Eltern trennten sich, als ich neun war, aber sie sind bis heute gute Freunde geblieben. Jedenfalls war unsere Mutter ein absoluter Freigeist, sie war ständig unterwegs, ständig auf der Suche nach Neuem. Ich glaube, wir zogen ungefähr 28-mal um, bevor ich zur Uni ging – was echt crazy ist! Die längste Zeit, die ich in einem Haus gelebt habe, waren drei Jahre.
Wie war das für Sie?
Nicht immer ganz einfach, aber ich glaube, es hat mir geholfen, früh zu erkennen, wer ich bin. Ich musste mich ständig vorstellen und meinen Platz finden, in jeder Schule wieder aufs Neue. Ich habe in diesen Neuanfängen immer etwas Positives gesehen – eine Chance, Dinge, mich selber, auszuprobieren und zu entscheiden, was davon ich mitnehmen und was ich hinter mir lassen möchte.
War Mode schon damals Ihr bevorzugtes Mittel, die eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen?
Ich war schon als Kind – wenn wohl auch nur unbewusst – tief fasziniert von der Kraft und der Wirkung von Kleidung, davon, wie ich Menschen mit ihr provozieren konnte. Wenn ich zum Beispiel ein Kleid aus Vorhängen drapierte und es meiner Schwester anzog, waren die Leute begeistert. Wenn ich es aber selbst trug, waren die Reaktionen plötzlich ganz anders. Mit zehn oder elf Jahren habe ich angefangen, Fashion-Magazine zu abonnieren. Ab dann wusste ich: Mode ist das, was ich machen will – Mode ist, wer ich bin.

Ihre Ausbildung zum Modedesigner haben Sie am renommierten Central Saint Martins College in London absolviert.
Ich war völlig besessen von der Idee, an der Schule zu studieren, an der John Galliano, Alexander McQueen, Stella McCartney oder Riccardo Tisci gelernt hatten – ich bewarb mich tatsächlich an keinem einzigen anderen Ort. Einen Plan B gab es für mich nicht. Das Aufnahmegespräch fand in Los Angeles statt. Es war das verrückteste Interview meines Lebens!
Wirklich? Mögen Sie davon erzählen?
Ich habe die Geschichte tatsächlich noch nie öffentlich erzählt, aber ja, sicher, warum nicht? Also: Der Typ kommt rein und schnauzt mich an: «Setz dich verdammt noch mal hin, wer zum Teufel glaubst du eigentlich, wer du bist?» Dann zerreisst er mein Portfolio in zwei Hälften. Ich fing auf der Stelle an zu weinen, während er brüllte: «Warum willst du überhaupt in dieser Branche arbeiten? Und vergiss nicht: Du wirst in deiner ganzen Karriere nie wieder jemanden so Wichtiges treffen wie mich. Überlege dir also lieber gut, was du sagst!» Unter Tränen und voller Wut schrie ich zurück und versuchte, mich zu rechtfertigen, bis er irgendwann mit dem Finger auf die Türe zeigte und meinte: «Und jetzt raus aus meinem Büro!» Also ging ich raus. Und als ich im Türrahmen stand, rief er plötzlich: «Harris!» Ich drehte mich um – hinter ihm diese wahnsinnige Skyline des Beverly Hills Center, in dem das Interview stattfand – und er sagte: «Das war das beste Interview, das ich je hatte. Du hast dich hervorragend geschlagen. Wir sehen uns nächstes Jahr in London.»
Im Ernst?
Crazy, oder? Es war wirklich wie im Fernsehen – so, wie Leute sich die Modewelt vorstellen: «Der Teufel trägt Prada» trifft «Project Runway» trifft … keine Ahnung! Und das Verrückte war: Alle meine Freunde, die nicht aufgenommen wurden, meinten, er sei total nett gewesen, sei mit ihnen ihre Portfolios durchgegangen, habe ihnen konstruktives Feedback gegeben. Ich glaube, der Typ wollte mich testen. Ich glaube, er erkannte mein Talent und dachte, er prüfe, ob dieser Junge aus L. A. tough genug ist für seinen Traumjob.
Ist er. Und so sind Sie nach London gezogen. Was hat diese neue Stadt mit Ihnen gemacht?
London hat mir auf tausend Arten die Augen geöffnet, in tausend Richtungen meinen Horizont erweitert. Meine neuen Freunde hatten keine Augenbrauen, trugen Irokesenschnitte, waren polyamor. Ich freundete mich mit Transpersonen an, mit Nonbinären. Es gab nichts, was es nicht gab, und ich konnte alles sein, was ich wollte. Ich habe mir die Haare wachsen lassen, sie gefärbt, habe meine eigene Sexualität entdeckt, habe mich selbst ganz neu kennengelernt. Es war eine wahnsinnig aufregende Zeit.
Und das nicht nur privat: Noch während Sie studierten, war Ihr Name plötzlich in aller Munde.
Als ich in Central Saint Martins anfing, riet man uns, unsere Arbeit während des Studiums komplett unter Verschluss zu halten. Ja nichts posten bis zur Abschlusskollektion! Aber das ist nicht mein Stil. Ich liebe es, andere an meinem Leben teilhaben zu lassen – also habe ich gepostet, was das Zeug hält. Durch Social Media sind Industriegrössen wie Harry Lambert, Katy England oder Alister Mackie auf mich aufmerksam geworden und haben angefangen, meine Entwürfe für Shootings auszuleihen. Und so landeten sie irgendwann bei …
Harry Styles!
Während des Studiums sagte man mir immer, meine Entwürfe seien zu kostümhaft, mein Hybrid zwischen Damen- und Herrenmode war für sie schlicht nicht verständlich. Harry Styles hat geholfen, das zu ändern.

Heute designen Sie nicht nur mehr für Ihr eigenes Label Harris Reed, sondern sind seit 2022 auch Kreativdirektor von Nina Ricci – einer Marke mit fast hundert Jahren Geschichte. Was hat Sie daran gereizt, diese Herausforderung anzunehmen?
Nina Ricci fühlte sich an wie ein Raum, in dem ich wachsen konnte. Man gab mir so viel Freiheit, die Zukunft der Marke mitzugestalten – solange ich das Erbe und die Geschichte des Hauses respektiere. Diese Dualität fand ich extrem spannend.
Für Ihre eigene Marke Harris Reed hingegen kreieren Sie frei nach Lust und Laune.
Ich sehe mein Label als eine Art Kunstprojekt, ein Inkubator von allem, was mich beschäftigt. Daneben in Paris ein globales Ready-to-wear-Haus mitgestalten zu dürfen, hält mich in der perfekten Balance.
Das ist aber auch viel Arbeit. Fühlen Sie sich nie kreativ ausgelaugt?
Ich fühle mich durchaus manchmal erschöpft, aber nicht kreativ. An Ideen mangelt es mir tatsächlich nie.
Inwiefern unterscheidet sich Ihr kreativer Prozess für die beiden Marken?
Sie sind eigentlich ziemlich ähnlich. Ich liebe Museen, Galerien, Filme – «Bla, bla, bla», denken Sie jetzt sicher, so wie sie alle –, ich stöbere viel auf Pinterest, Ebay, Vestiaire Collective. Ich mache Fotos von Lampen, Tischen, Stühlen, von tausend Dingen, die eigentlich nichts mit Mode zu tun haben, aber die man auf Mode übertragen kann. So bin ich in meiner Obsession für Schönheit ständig am Sammeln und schicke alles, was ich finde, an die Teams von entweder Nina Ricci oder Harris Reed.
Mit Nina Riccis Venus haben Sie Ihr erstes Parfum lanciert. Kreatives Neuland?
Meine Mutter ist Parfümeurin und macht selber Duftkerzen. Ich bin also mit Düften aufgewachsen. Das war auch, glaube ich, einer der spannendsten Aspekte, als ich Nina Ricci übernahm. Für mich war es Bedingung, dass ich nicht nur der Kreativdirektor im Bereich Mode bin, sondern auch das Beauty-Universum von Nina Ricci mitgestalten und weiterentwickeln kann. Das ist sehr selten bei solchen Häusern, aber ich hasse es, wenn Mode, Parfum und Make-up nicht zusammenpassen – diese Disharmonie nervt mich. Alexandra, unsere «Nase» bei Nina Ricci, war zu Beginn etwas nervös, mit mir zu arbeiten. Beim ersten Treffen mussten wir 30 Düfte testen und aus verschiedenen Gruppen unsere Favoriten nennen. Wir wählten unabhängig voneinander immer dieselben – ein Zeichen, dass die Chemie zwischen uns stimmt. Der Duft, den wir gemeinsam geschaffen haben, reflektiert für mich die Richtung, die ich auch mit der Mode einschlagen möchte: mutig, dekadent, traumhaft.
Traumhaft ist auch der Flakon: ein richtiges Objekt der Begierde!
Das Design des Flakons war für mich eine der spannendsten Herausforderungen. Während rund sechs Monaten haben wir verschiedenste Ideen verfolgt, um ein neues ikonisches Symbol für die Marke zu schaffen. Schliesslich sind wir bei dieser wunderschönen Art-déco-Muschel gelandet.

Wenn Sie aus Ihrem Leben erzählen, klingt alles so reibungslos und einfach.
Es ist nicht so, dass ich nie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hätte, aber ich bin ein Glas-halb-voll-Typ: Ich konzentriere mich auf das Positive.
Eine schöne Charaktereigenschaft!
Danke! Die Modebranche läuft in diversen Aspekten nicht so, wie ich es mir wünsche. Tatsache bleibt, dass wir als Unternehmen am Ende des Tages Geld verdienen müssen. Und ich als Designer muss entscheiden, inwiefern ich bereit bin, für diesen kommerziellen Erfolg Kompromisse einzugehen. Ich möchte vieles verändern in dieser Branche, Grenzen verschieben – etwa im Bereich der Körperdiversität und der Inklusion und Repräsentation von queeren Personen –, aber ich weiss, dass das Zeit braucht. Die Industrie macht Fortschritte, dann wieder Rückschritte, dann wieder Fortschritte, dann wieder Rückschritte …
Und so ist auch auf Nina Riccis Laufstegen die überwältigende Mehrheit der Models gross, dünn, weiblich und weiss.
Tatsächlich scheint es, dass man sich schwertut damit, Menschen auf dem Laufsteg zu sehen, die anders aussehen, als man es aus den vergangenen 20 Jahren gewohnt ist. Wollen Sie eine traurige Geschichte hören? Nach meiner ersten Show für Nina Ricci, für die ich Models mit einer riesigen Bandbreite von Körpern hatte laufen lassen, stornierten diverse Stores ihre Bestellungen. Das sei nicht, was man wolle. Auch die neu eingeführten Grössen wurden von niemandem eingekauft. Eine ernüchternde Erfahrung. Dass wir Designer unsere Mode vorwiegend an schlanken Körpern zeigen, hat aber auch einen anderen Grund.
Welchen denn?
Ein Kleid für einen Körper jenseits der Normmasse zu schneidern, erfordert einiges mehr Zeit. Das Design muss an genau diesem Model gefittet werden, um sicherzustellen, dass alles richtig sitzt. Nun ist es aber so, dass wir meist erst wenige Tage vor der Show wissen, welche Models für uns laufen werden. Wir haben schlicht keine Zeit, unsere 40 Looks auf 40 individuell geformte Körper zu schneidern. Body-Diversity auf den Laufstegen ist also aus diversen Gründen nicht so einfach, wie man denkt – so traurig das ist!
Diese Schwierigkeiten halten Sie nicht davon ab, sich weiter für Veränderung starkzumachen – mit Ihrem Namen, mit Ihrem Gesicht. Muss ein erfolgreicher Designer in der heutigen Zeit auch ein bisschen Aktivist sein?
Unter Modedesignern gab es schon immer diejenigen, die als eigenständige Persönlichkeiten im Rampenlicht standen, und solche, die dies nicht taten. Das ist heute nicht anders. Ich war schon immer jemand, der Lärm macht. Und es geht nicht darum, gesehen zu werden, denn das ist mir eigentlich egal, aber ich muss gehört werden – und um gehört zu werden, muss man am Ende halt irgendwie auch gesehen werden.

Wer sich exponiert, macht sich angreifbar. Wie gehen Sie mit Kritik um?
Ich schaue, dass ich mich ihr nicht zu stark aussetze – und nie vergesse, dass jede Meinung aus einer ganz persönlichen Perspektive kommt. Ich lese meine Kollektionskritiken und hole regelmässig Feedback ein bei meinen Teams. Solange sie zufrieden sind mit mir und meiner Arbeit und der Verkauf gut läuft, bin ich happy.
Auch das klingt so leicht bei Ihnen…
Oh nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein! Ich weine schon ab und zu, und dann so richtig! Nur suche ich die Kritik halt nicht aktiv. Ich möchte mich nicht in fiesen kleinen Kommentaren verlieren, sondern mich auf die grossen Dinge konzentrieren.
Welches sind denn die grossen Dinge, an denen Sie arbeiten müssen?
Ich glaube, ich muss Balance lernen. Zwischen meinem Feuer, meiner Leidenschaft und der Kommerzialität etwa, oder zwischen meinen wilden Zukunftsvisionen und dem Erbe der Vergangenheit. Wenn man zu stur ist, funktioniert es nicht. Wenn man zu passiv ist, verliert man sich selbst. Es geht darum, zu jedem Zeitpunkt die Menschen um einen herum und vor allem den grösseren Zweck des Ganzen zu respektieren.
Bei aller Arbeit, die bleibt, wirkt es, als hätten Sie sich gefunden, Harris Reed.
Ich fühle mich tatsächlich sehr geerdet. Ich habe mal diese Passage in einem Buch gelesen – ich weiss jetzt gar nicht mehr, welches genau es war –, in welcher der Autor schreibt: «Der grösste Traum im Leben ist es, stetig zu wachsen: aufzusteigen, eine Weile innezuhalten, um auf dem Plateau die Aussicht zu geniessen – und dann erneut aufzubrechen, Schritt für Schritt weiter nach oben.» Ich habe das Gefühl, dass ich in den vergangenen drei Jahren immer nur nach oben gegangen bin, gewachsen bin, das gemacht habe, woran ich glaube, Neues gelernt, Neues aufgebaut habe. Heute habe ich tatsächlich das Gefühl, mit beiden Beinen ganz fest auf dem Boden zu stehen. Aber fragen Sie mich in sechs Jahren noch mal – wenn ich 35 bin und wahrscheinlich gerade meine nächste wilde Phase durchmache!