Die schönste Mode ist die, die fürs Leben bleibt, findet die französische Designerin Julie de Libran. Und krempelt mit ihrem Label eine ganze Branche um.
Ihre haute-couture-kundinnen empfängt Julie de Libran bei sich zu Hause in Paris, im 6. Arron-dissement. Der grosszügige, helle Raum, der sich zu beiden Seiten zum Hofgarten hin öffnet, ist Wohnzimmer und intimer Showroom zugleich. Nebenan die offene Küche, wo die Familie jeweils zu Abend isst. Zwischen Cheminée, verspiegelten Edelstahlleuchten von Willy Rizzo aus den 60er-Jahren und einem ausladenden Eckschreibtisch von Pierre Jeanneret, wie ihn der Schweizer in den 50ern für die Administration der indischen Stadt Chandigarh entwarf, stehen nun 22 Kleiderbüsten mit ihrer aktuellen Frühjahr-Sommer-Kollektion. Das Thema: Das kleine Schwarze, neu interpretiert. Es läutet, und eine Kundin aus Italien kommt herein. Sie interessiert sich für die lange, schwarze Abendrobe mit Federvolant. Leider nicht ihre Grösse und ein Einzelstück. «Aber das Mantelkleid aus Doubleface-Kaschmir mit den Straussenfedern-Manschetten, das können wir Ihnen auf Mass nähen», sagt die Hausherrin. Das Mantelkleid – «robe-manteau», wie de Libran es nennt – ist eigentlich ein längerer, doppelreihiger Blazer mit Goldknöpfen. Für sie ist es das neue kleine Schwarze par excellence. Sie trägt es heute selbst, ohne Federmanschetten und Kragenstickereien, zu Lederleggings und Céline-Westernboots, noch aus der Phoebe-Philo-Zeit, wie sie betont: «Wenn ich abends noch ausgehen wollte, würde ich es einfach als Kleid anziehen, mit blickdichter Strumpfhose und hohen Stiefeln.» Ihre Mode, die sie als Prêt-à-Couture bezeichnet, verkauft sie über ihren eigenen Onlineshop, bei Matchesfashion.com, bei Tasoni in Zürich und seit Kurzem auch in ihrer ersten eigenen Boutique in Paris. Nebenbei veranstaltet sie auch sogenannte Trunk-Shows, wo sie im privaten Rahmen weltweit ihre Kollektionen vorstellt. Die nächste wird am 15. Juni in Zürich stattfinden, an einem bis Redaktionsschluss noch nicht festgelegten Ort.
Das kleine Schwarze ist ein Klassiker, der gerade eine schwere Zeit durchmacht. Wann hatten Sie das letzte Mal Gelegenheit, eines zu tragen?
Oh, sehr oft. Allerdings mehr bei privaten Anlässen als bei öffentlichen Events. Selbst wenn ich den ganzen Tag allein an meinem Schreibtisch hier entwerfe, kleide ich mich so, als würde ich ins Büro gehen und Leute treffen. Ich trage Schuhe mit Absätzen, Schmuck … Das ist eine Disziplin, die ich mir selbst auferlege: Mich äusserlich nicht gehen zu lassen, hilft mir, auch meine Gedanken zu kanalisieren. Natürlich hätte ich gern meine Boutique-Eröffnung und die neue Kollektion im würdigen Rahmen gefeiert, bei einem Cocktail wie früher hier im Salon. Ich hoffe, im Sommer geht das wieder.
Sie haben fast 30 Jahre lang für grosse Modehäuser gearbeitet, von Versace über Prada bis zu Louis Vuitton und Sonia Rykiel. 2019 haben Sie sich selbstständig gemacht. Was hat Ihnen bei den Grossen gefehlt?
Neben den Entwürfen für die Prêt-à-porter-Kollektionen habe ich bei allen Labels vor allem im Massatelier gearbeitet, wo ich Schauspielerinnen und andere VIPs einkleidete. Dort lernte ich viel über die Psychologie der Mode, wie Frauen über ihren Körper denken, was sie gern tragen, was nicht und warum. Ich liebe diesen direkten Austausch und fand, dass das etwas ist, was ausserhalb dieser elitären Zirkel der Luxusmode heute fehlt. Die persönliche Erfahrung von Handwerk zusammen mit einem Modeschöpfer, mit dem du vielleicht auch etwas Neues auszuprobieren wagst. Im Grunde will ich mit meinem Label dahin zurück, wo all die Couturehäuser einmal angefangen haben: Zurück zur Slow Fashion.
War das auch eine Entscheidung gegen die Modeindustrie, so, wie sie heute ist?
Es war eine Entscheidung für die Mode, die ich mir wünsche. Zeitlose Kleidung von hoher Qualität zu kreieren, die dir etwas bedeutet, die perfekt zu dir passt, die dich ein Leben lang begleitet und die ausser dir nur wenige andere tragen. Kleider sollten wie Fotografien sein, wie Schmuck- oder Musikstücke, mit denen du wunderbare Geschichten und Erinnerungen verbindest.
Was heisst das für Sie, «die nur wenige andere tragen»?
Meine «Marinière», eine Art Matrosenhemd aus Kaschmir, ist während der Pandemie einer meiner Bestseller geworden, doch auch in der Prêt-à-porter-Variante gibt es nur zehn Stück pro Farbe und jedes ist nummeriert. Meine Art Edel-Hoodie. Da ich keinen Überschuss produzieren möchte, kaufe ich meine Materialien aus den Archiven und Restposten bei den besten Stoffproduzenten in Frankreich und Italien. In der Schweiz kann ich bei Jakob Schlaepfer auch kleinere Chargen bestellen, die ich nach meinen Wünschen für die Haute-Couture-Stücke fertigen lasse, wie jetzt bei den meisten der Paillettenstoffe. Wenn sich ein Stück dann als Verkaufsschlager entpuppt, muss ich manchmal sagen: Sorry, es gibt den Stoff nicht mehr, das waren die letzten zehn Meter. Oder die Kundin muss einen Monat warten, bis wir ein neues Stück in ihrer Grösse genäht haben.
Ist das nicht frustrierend für Sie als Geschäftsfrau, wenn Sie die Nachfrage nicht bedienen können?
Vor Covid-19 war die Materialsuche ein grosser und zeitraubender Teil meiner Arbeit, ich musste viel von einem Produzenten zum anderen reisen. Heute helfen mir dabei E-Commerce-Start-Ups wie Crearity Luxe, die im Sinne der Kreislaufwirtschaft Restposten von Modehäusern aufkaufen und in kleinen oder grösseren Chargen anbieten. Vor einem Jahr hat sogar LVMH mit Nona Source eine Onlineplattform gegründet, auf der die gesamten, nicht verbrauchten Stoffe der Modegruppe weiterverkauft werden, statt wie zuvor, so munkelt man, verbrannt zu werden.
Sie mögen offenbar die Herausforderung …
Klar könnte ich es mir einfacher machen, indem ich einfach 300 Meter eines Stoffes, so wie ich ihn haben will, bestelle. Doch meine Eltern haben mir von Kindesbeinen an beigebracht, nichts zu verschwenden. Und die Materialverschwendung ist eines der grössten Probleme der Modeindustrie.
Folgen denn Ihre Kundinnen auch der Selbstbeschränkung, die Sie sich auferlegen?
as Verständnis für meinen Ansatz ist grösser geworden, was vor allem daran liegt, dass ich viel mit meiner Kundschaft rede und im persönlichen Austausch stehe. Ich habe viele treue Kundinnen in der ganzen Welt, die genau das schätzen. Sie begeistern sich für das Making-of und verstehen, warum ein besonderes Kleidungsstück auch mal mehr Zeit braucht. Ausserdem müssen sie auch nicht immer warten: Spontankäufe nach dem «See now, buy now»-Prinzip sind ja durchaus möglich. Gerade bei den Prêt-à-porter-Stücken.
Haben Sie diese ressourcenschonende Einstellung auch schon, als Sie bei Sonia Rykiel Kreativdirektorin waren?
Ich glaube, ich war dort die Erste, die den Reflex hatte, in die Materialarchive zu gehen und all die Schätze, die sich in 50 Jahren dort angesammelt hatten, wiederzuverwerten! Die Geschäftsleitung war damals strikt dagegen, daraus mehr als eine sogenannte nachhaltige Sonderkollektion zu machen. Man hielt mich für verrückt. Frankreich braucht in diesen Fragen leider etwas länger als andere Länder. Jetzt erst versteht man mich!
Wie gross ist eigentlich Ihr eigener Kleiderschrank?
(lacht) Oh, ich habe mehrere! Schliesslich habe ich 30 Jahre lang in den schönsten Modehäusern gearbeitet. Während der Pandemie ist mir aber klar geworden, dass es Zeit wird, sich auch mal von Dingen zu trennen. Nun lasse ich meine Nichte und ihre Freundinnen an die Schränke: Diese stylen sich damit wie Influencerinnen, und ich verkaufe viele Stücke nun für einen guten Zweck über JL Vintage Closet auf meiner Homepage.
Was hat einst Ihre Liebe zur Mode geweckt?
Meine Mutter und Grossmutter waren beide sehr modebewusst. Als wir von der Provence nach San Diego zogen, war ich acht. In den 80ern drehte sich in Kalifornien alles um Strandleben und Körperkult, alle trugen T-Shirts und Shorts – ein Kulturschock! Der Kleiderschrank meiner Mutter – voll mit Kenzo, Yves Saint Laurent, Sonia Rykiel – wurde für mich zur verlorenen Heimat. Einige Stücke trage ich noch heute, sie sind mir heilig. Ich habe Stunden damit verbracht, ihre Chanel-Jacke zu betrachten, die Details wie das Webmuster des Tweeds, die Knöpfe, die Qualität und das Handwerk dahinter zu bewundern. Mit 18 wollte ich genau das lernen und studierte es, erst in Mailand, dann in Paris.
Man streift etwas über und ist sofort perfekt gestylt – ohne Schmuck hinzufügen zu müssen.
Nicht das Bling-Bling und der Glamour haben Sie fasziniert?
Gar nicht. Über mein strenges Arbeitsethos hat man sich später oft mokiert. Vielleicht lag es daran, dass ich schon mit 14 Jahren nach der Schule und am Wochenende in den französischen Bistros arbeiten musste, die mein Vater in Kalifornien eröffnet hatte. Das war normal damals für Auswandererfamilien, die es schaffen wollten. Bling-Bling und Glamour, das kannte ich nur aus der «Vogue», die meine Mutter gleich doppelt abonniert hatte: die französische und die amerikanische.
Ist Ihr Stil ein Mix aus Amerika, Italien und Frankreich?
Absolut. Aus den USA kommt vermutlich der Bequemlichkeits- und Vielseitigkeitsaspekt meiner Mode, aus Italien das Spielerische und aus Paris die diskrete, klassische Eleganz.
Was auffällt: Schmuck wird bei Ihren Entwürfen oft zum integralen Bestandteil des Kleidungsstückes, etwa als Verschluss, Gürtel oder Kette.
Das war von Anfang an so. Ich mag die Idee, dass man meine Stücke überstreift und gleich perfekt gestylt ist, ohne noch etwas hinzufügen zu müssen. Schmuck ist neben der Mode meine zweite grosse Leidenschaft. Ich sammle Schmuck. Er hatte in meiner Familie immer eine grosse Bedeutung: Zu jedem wichtigen Lebensereignis pflegen wir die Tradition, ein Stück zu verschenken. Als wir dann vor zwei Jahren in Paris im Lockdown sassen, fing ich an, auch Armbänder, Halsketten, Ringe und Ohrringe zu zeichnen – und hatte das Glück, eine erste Kollektion mit dem Chanel-eigenen Schmuckhaus Goossens realisieren zu können. Ich arbeite schon lang mit ihnen, lasse zum Beispiel meine Knöpfe dort fertigen.
Haben Sie die Entscheidung, so konsequent einen eigenen Weg zu gehen, je bereut?
Die Pandemie hat mein kleines Team und mich natürlich auch kalt erwischt. Doch mein Sohn sieht mich heute jeden Morgen mit guter Laune aufstehen. Ich habe das Steuer nun selbst in der Hand und bin froh, das zu tun, woran ich glaube und was mich fasziniert.
Die ära rykiel
Von 2014 bis 2019 prägte Julie de Libran die Marke Sonia Rykiel. Als künsterlische Leiterin war sie für sämtliche Kollektionen verantwortlich – und rief die erste nachhaltige Couture-Linie des Labels, Sonia Rykiel l’Atelier, ins Leben.