
Seine Kreationen sind so fröhlich wie frech – jetzt kommt eine Portion Poesie hinzu. Der schweizer Modedesigner Kevin Germanier kreiert neu Haute Couture.
Im Backstagebereich der Modenschau drängen sich die Fans um die extravaganten Outfits, die aus einem Traum oder einem Videospiel zu stammen scheinen. Einmal aus der Nähe anschauen, einmal heimlich anfassen. Diese gehäkelten Rüschen! Dieses Kleid, das wie ein Seeigel mit wellenförmigen Fasern bedeckt ist! Und dieses Ensemble aus Rock und Bustier, das mit Buntstiften und Kappen von Lackstiften bestickt ist! Es ist Ende Januar und Kevin Germanier hat gerade seine erste Haute-Couture-Modenschau präsentiert. Ein Ritterschlag!
Das Wunderkind der Mode, Liebling aller Kreativen, ist glücklich und ein wenig aufgedreht. Der 33-Jährige hat allen Grund dazu. Schliesslich zeigt er der Modeindustrie, die nicht recht weiss, wie sie mit den von ihr verursachten Umweltbelastungen und der Zerrissenheit aus Verlangen und Wut, die sie hervorruft, umgehen soll, gerade einen neuen Weg auf. Germanier, geboren in Granges im Wallis, hat keinesfalls die Absicht, als Prophet zu missionieren. Und doch ist sein Werk unglaublich inspirierend. Seine Arbeitsweise? Kunsthandwerklich, persönlich. Seit seiner Abschlusskollektion am Central Saint Martins College in London verarbeitet Germanier ausschliesslich Materialien aus zweiter Hand, denen er ein neues Leben schenkt – damals Decken der Schweizer Armee, die sein Vater aus einem Militärüberschuss mitgebracht hatte.
Auch seiner Persönlichkeit ist er treu geblieben: Seit sechs Jahren begegnet er allen mit der gleichen Freundlichkeit und Höflichkeit. Bei jeder Modenschau sitzt die Familie in der ersten Reihe: Simone, seine Grossmutter, die für ihn strickt, seine Mutter Francine, die sich um die Buchhaltung kümmert, der Bruder Samuel, der Grafiker ist. Ausserdem sind eine Freundin aus Kindertagen samt ihrer Mutter angereist sowie eine kleine Delegation aus dem Kanton Wallis.
Kevin Germanier küsst und umarmt Freunde und Bekannte, erklärt jedes Stück: «Dieser Rock ist mit einer komplexen Textur bedeckt, die auf lackierten Kappen von Füllfederhaltern basiert, die jeweils mit einer schillernden Perle besetzt sind.» Die Kollektion strahlt eine Raffinesse aus, eine Poesie, die in den ersten Kollektionen etwas fehlte. Allein diese bestickten Herrenjacken! Plötzlich hält Germanier inne, schaut auf seine Omega (Schweizer Qualität, natürlich!) und entschuldigt sich. Er muss sich beeilen, möchte nicht zu spät kommen. Aber was ist mit unserem Interview? Den offenen Fragen? Wir reden morgen weiter, am Telefon, versprochen! Er hält sein Wort.
Wie haben Sie sich nach dieser ersten Haute-Couture-Modenschau gefühlt?
Sehr müde und sehr zufrieden. Die Leute wussten, dass wir in der Lage sind, grosse, spektakuläre Stücke zu machen, aber heute haben sie auch die Details gesehen, die Subtilität der Verarbeitung.
Was bedeutet dieser Einstieg in das Allerheiligste, in die Haute Couture?
Es verleiht unserer Arbeit eine neue Dimension. Wir wollen mit der Marke Germanier nicht die Anzahl schwarzer Logo-T-Shirts erhöhen. Unser Kreativstudio stellt seit je in Handarbeit Einzelstücke her, da wir nur mit upgecycelten Materialien arbeiten. Aber das Label Haute Couture bestärkt uns in unserer Arbeit und zeigt unserer Kundschaft, dass wir für sie massgeschneiderte Produkte kreieren können.
Tragen Ihre Kundinnen diese glänzenden und raschelnden Verrücktheiten?
Ja, an besonderen Anlässen. Aber wir möchten unsere Kundinnen dazu ermutigen, uns ein Stück aus ihrer Garderobe zu bringen, an dem sie sich übergesehen haben – und wir werden es für sie umgestalten. Es ist normal, dass man sich immer mal wieder nach Neuem sehnt. Aber dafür braucht man keine neue Kleidung zu kaufen.
Wo finden Sie die Textilien und Materialien für Ihre Entwürfe? Auf Flohmärkten?
Ich stöbere viel in Second-Hand-Läden, zum Beispiel bei Caritas im Wallis. Die Herrenjacke der Modenschau ist eine gebrauchte von Dior. Ich habe sie in Brooklyn gefunden, in einer herunter-gekommenen Gegend. Ich dachte, mein letztes Stündlein habe geschlagen. Von wegen! Ich habe dort tolle Stücke gefunden. Es funktioniert über die Gemeinschaft. Über soziale Netzwerke nehmen die Leute Kontakt mit uns auf, um uns Stücke anzubieten, die sie von einer Grosstante geerbt haben. Ich liebe die Idee, dass der Abfall des einen der Schatz des anderen ist.
Und das Projekt Prélude, mit dem Sie von der LVMH-Gruppe beauftragt worden sind?
Wie der Name schon sagt, ist es in der Tat der Beginn eines neuen Ansatzes. Wir wollen zeigen, dass Upcycling im Luxussegment möglich ist. Was für ein Privileg, mit den verborgenen Schätzen der sieben Häuser der Gruppe zu arbeiten. Aber ich darf noch nicht darüber sprechen, also pst!

Ursprünglich war Upcycling kein Aktivismus, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Aber Sie haben Gefallen daran gefunden …
In der Tat. Ich liebe Videospiele und mein kreativer Ansatz folgt diesem Prinzip. Am Anfang werden dir Beschränkungen auferlegt. Zum Beispiel, Tomaten zu finden, einem Zauberer zu begegnen … Von Stufe zu Stufe gelangst du weiter, bis du eine Rüstung erhältst. Ich finde eine Jacke und mache dann mit meinen Funden weiter, um eine Geschichte zu erzählen. Das ist meine Art, die Regeln der Schneiderei zu brechen.
Sie haben ein Outfit in Zusammenarbeit mit der Stiftfirma Caran d’Ache kreiert. Was ist die Geschichte dahinter?
Diese Partnerschaft begeistert mich. Wie alle Schweizer Kinder bin ich mit Caran d’Ache aufgewachsen. Sehen Sie die grosse, doppelstöckige Farbstiftbox? Die habe ich zu meinem 14. Geburtstag bekommen. Und ich erinnere mich an meine zwölf Filzstifte aus der Grundschule, die noch das alte Logo hatten. Mir gefällt, dass das Unternehmen mit dem Ausschuss – vielleicht eine leichte Kerbe im Holz oder eine dezentrale Beschriftung – eine eigenständige Kreation machen möchte. Wir arbeiten in völlig unterschiedlichen Bereichen, aber wir teilen die gleiche DNA: die Liebe zur Farbe, die Arbeit als Familienunternehmen, die Ethik. Es ist grossartig, sich Gedanken darüber zu machen, wie man das Universum in ein Outfit integrieren kann.
Wie wichtig sind Ihnen solche Kooperationen?
Was den Businessplan angeht, machen die Kooperationen etwa 60 Prozent meines Budgets aus, der Rest kommt aus dem Erlös der Kleidung und Taschen und durch Aufträge zu Massanfertigungen. Sie geben mir die Grundlage, um kreativ zu sein.
Ihre Kostüme für die Abschlussfeier der Olympischen Spiele haben Ihnen eine grosse Sichtbarkeit verschafft.
Sie können sich sicher vorstellen, dass diese Art von Auftrag, genauso wie das Einkleiden der Eurovision-Moderatoren im Mai in Basel, die Finanzierung von ein oder zwei Kollektionen ermöglicht. Es ist ein Irrglaube, dass ein neuer Designer nur mit den Stücken, die er verkauft, überleben kann. Mein Ziel ist es, zu überleben und gleichzeitig ein ethisch handelndes Unternehmen zu bleiben. Bei Germanier gibt es keine Investoren. Wir geben das Geld aus, das wir erwirtschaften.

Unter den Federn und dem Glitzer steckt ein Pragmatiker.
Vielleicht ist das ein Schweizer Charakterzug. Ich trage den Kopf nicht zu hoch.
Bevorzugen Sie Partnerschaften mit Schweizer Labels?
Ich habe auch mit Guerlain oder Baccara gearbeitet. Aber es stimmt, dass ich eine Schwäche für Marken habe, die Teil meines Lebens sind. Omega war also eine Selbstverständlichkeit. Laura Star auch. Es ist so wichtig, ein tolles Bügeleisen zu haben! Und es schafft Brücken zu jenen Menschen, die nicht in der Modewelt unterwegs sind. Ich stelle mir den Typen vor, der einen Vertrag mit seinem Caran-d’Ache-Stift unterschreibt und sich denkt: «Oh, ich habe doch etwas über diesen Germanier gelesen. Dieses verrückte Kleid!» Mit einem Stift kann man Denkweisen verändern, die ästhetische Diskussion beiläufig eröffnen.
Und die Kostüme für den ESC – gibt es eine grosse Show?
Nein, nein, es wird keine Germanier-Modenschau werden. Zu meinem Job als Chef-Kostümbildner gehört es auch, dem Kameramann oder dem Lichttechniker zuzuhören. Vielleicht werde ich alle überraschen und Schwarz wählen, wer weiss! Ein Versprechen: Alle Kleider werden in der Schweiz produziert, darauf lege ich Wert.
Was hat es mit dem Kreativstudio auf sich?
Ein Kreativstudio insofern, als die Mode unser Fachgebiet ist und wir sie lieben! Aber unsere DNA des Upcyclings kann man auch auf andere Dinge übertragen. Ich würde liebend gerne ein Flugzeug, ein Hotel oder ein Restaurant entwerfen. Und wann kleiden wir die Bundesräte ein?
Wie arbeiten Sie konkret?
Das Studio in Paris ist klein, ein halbes Dutzend Leute arbeiten dort. Da ich keine Geduld habe, würde ich alles alle zwei Sekunden kontrollieren und meine Zeit verschwenden, wenn wir mehr wären. Dann haben wir 27 Strickerinnen im Wallis, darunter meine Grossmutter Simone, und ein Studio mit 12 Stickerinnen auf den Philippinen. Und wir haben gerade eine Beziehung in Indien mit Shanagar aufgebaut, wo mehr als 300 wunderbar präzise Sticker beschäftigt sind. Es wäre grossartig, wenn Germanier zu einer Art Plattform für ethisches Know-how in der ganzen Welt würde. Haute Couture muss in Paris bleiben, aber Talente aus aller Welt müssen gefeiert werden.

Ihre Arbeit ist sehr skulptural.
Ich arbeite gerne mit Volumen. Nehmen Sie den letzten Look: Er war von hinten genauso beeindruckend wie von vorne. Ich liebe soziale Netzwerke, ich bin ein Geek, aber ich möchte auch betonen, dass ein Kleidungsstück kein Fake-Bild ist, wie man sie auf Instagram sieht.
Im Herbst haben sie eine Ausstellung im MUDAC.
Das Designmuseum in Lausanne hat Ihnen Carte blanche gegeben.
Eine Inszenierung im Museum ermöglicht es mir, mein Universum der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich kann es kaum erwarten! Es wird eine Art Retrospektive meiner Arbeit sein, obwohl ich erst 32 Jahre alt bin. Ich weiss noch nicht genau, was wir machen werden, aber ich kann Ihnen spektakuläre Dinge versprechen.
Wie sieht Ihre Pariser Wohnung aus?
Sie ist ganz weiss. Ich bin ansonsten von genug Farben umgeben.
Was tun Sie, um den Kopf zu lüften?
Ich gehe mit meinem Hund Georges spazieren. Wenn alles zu schwer erscheint, erinnere ich mich daran, dass wir nicht nach einem Heilmittel gegen Krebs suchen, sondern nur Federkleider herstellen.