In Patagonien hat die Amerikanerin Kristine Tompkins einen der ambitioniertesten Naturparks der Welt geschaffen. Das Ziel der Aktivistin? Zurückzubekommen, was einst war.
Die glücklichen, die Patagonien in jüngster Zeit bereisen durften, können kaum fassen, was hier passiert. Ist das Wirklichkeit? Oder doch die Kulisse von «In einem Land vor unserer Zeit»? Klar, die Region in Südamerika war schon immer reich an Natur – jetzt ist sie aber auf dem Weg, ein echtes Paradies zu werden. Seit Kurzem gibt es eine Route, die 17 Nationalparks miteinander verbindet. Die 2800 Kilometer lange Strecke führt durch Pampa, Sumpfgebiete, über Flüsse und zu Vulkanen und Gletschern, die sich in der Ferne erheben. Unter den vielen seltenen Tier- und Pflanzenarten können Kenner die Alerce ausmachen, eine einheimische Zypresse, die über 3000 Jahre alt werden kann. Tierliebhaber werden sich beim seltenen Grünflügelara die Augen reiben. Was für ein Vogel mit seinem grün-roten Gefieder! Aber nicht nur die Aras haben sich wieder angesiedelt: Kondore und Pumas leben hier, ebenso wie Dutzende von Spezies, die lokal als ausgestorben galten, wie etwa der Riesenameisenbär. Oder der Darwin-Nandus – eine Art Strauss, die Charles Darwin in den 1830er-Jahren überall suchte, nur um festzustellen, dass man sie ihm gerade zum Abendessen serviert hatte. Oje! Eine gute Fee wacht über diese grüne Lunge. Ihr Name? Kristine McDivitt Tompkins, genannt Kris.
Die Amerikanerin ist ehemalige Geschäftsführerin des Bekleidungsunternehmens Patagonia und Leiterin der Tompkins-Stiftung. Ihre unglaubliche Vision? Die Landschaft, die sich zwischen Chile und Argentinien erstreckt, wieder zu der Wildnis zu machen, die sie einst war. Die Aktivistin erwarb fünf Millionen Hektar Land – etwas mehr als die Fläche der Schweiz –, renaturierte es und gab es an die beiden Länder zurück. Das grösste Geschenk, das je von einer Privatperson an einen Staat gemacht wurde. Argentinien und Chile rundeten auf, sodass nun eine geschützte Region von spektakulären 15 Millionen Hektar vorliegt.
Als der Umweltkreuzzug 1991 begann, waren sie zu zweit: Gemeinsam mit ihrem Mann Douglas machte sich Kris daran, Geld zu beschaffen. Um Ackerland und Viehzuchtbetriebe aufzukaufen – jene Estancias, deren Viehbestand das empfindliche Ökosystem zerstören. Anfangs wurde das Duo von der damaligen chilenischen Regierung misstrauisch beäugt. Aber die Tompkins blieben hartnäckig. Erklärten, warum 400 Kilometer Zäune entfernt werden müssen, wieso es notwendig ist, Schafe von Hütehunden bewachen zu lassen, und warum der Puma wieder eingeführt werden sollte. Sie legten dar, wie das beschädigte, überbeanspruchte und verarmte Land durch Renaturierung gerettet werden kann. Die einzige Möglichkeit, der Natur ihre verlorene Kraft zurückzugeben und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Nachdem Douglas 2015 bei einem Kajakunfall in einem Fjord ums Leben gekommen war, machte seine Ehefrau alleine weiter.
Die erste Hälfte ihres Lebens verbrachte Kristine McDivitt damit, ein Unternehmen zu führen. Sie gehörte zum Team des Abenteurers und Bergsteigers Yvon Chouinard, als dieser 1972 Patagonia gründete. Eine kalifornische Marke, die Pionierarbeit in Sachen Bio- und Recyclingtextilien leistete. Später stieg sie zur Geschäftsführerin des Unternehmens auf. Über Yvon lernte sie dessen Freund Douglas Tompkins kennen, an der frischen Luft – wo sonst. Nachdem der philanthropische Unternehmer die Modemarken Esprit und The North Face gegründet hatte, wollte er mehr – und vor allem umdenken. Also tüftelte das Trio ein völlig neues Konzept aus: die Natur schützen, aber mit einem kapitalistischen Ansatz. Visionäre Ideen, gepaart mit Know-how, Qualität und Effizienz. Das Ergebnis spricht für sich. Der 83-jährige Yvon Chouinard sorgte im September vergangenen Jahres für Aufsehen, als er ankündigte, seine gesamten Aktien einem Trust zu schenken. Dieser wird die Dividenden der Patagonia-Gruppe in Umweltprojekte reinvestieren. So wird die Trust mit einem Schlag zu einem der grössten Akteure in seinem Sektor. «Auf diese Art und Weise wird das Unternehmen zum Werkzeug der Transformation», meint Chouinard. Und Kristine Tompkins fügt an: «Ich betrachte dieses Projekt, das von ihm und seiner Familie ins Leben gerufen wurde, als wegweisend.»
Kristine Tompkins will nicht mehr und nicht weniger als an scheinbaren Gewissheiten rütteln. Als sie 1991 im Alter von 41 Jahren ihren Fokus vom Unternehmen Patagonia auf die Region Patagonien verlegte, wusste sie nicht, ob ihre gewagte Idee eines nachhaltigen Geschäftsmodells Früchte tragen würde. Schliesslich war es ganz neu. Douglas und sie bezeichneten sich selbst als «Flüchtlinge aus der Unternehmenswelt». Längst aber ist Kristine Tompkins angekommen. Zumindest gedanklich. Zu Beginn des Jahres bestieg sie in Ushuaia ein Schiff, überquerte den Polarkreis in südwestlicher Richtung und nahm Kurs auf Neuseeland. Auf Instagram konnte man ihren Weg verfolgen. Umgeben von Eis strahlte sie vor Glück unter ihrer Kapuze. Vor ihrer Abreise nahm sie sich Zeit, unsere Fragen schriftlich zu beantworten.
Was hat Sie an dieser Region so fasziniert?
Ich habe mich schon immer von Extremen angezogen gefühlt, von der Natur im grossen Massstab. Der Süden Chiles mit seinen Regenwäldern, Fjorden, Eisfeldern und starken Winden bietet all das in Hülle und Fülle. Patagonien ist von Grund auf wild, kein anderer Ort auf der Welt gleicht ihm. Die Region erinnert uns daran, dass wir nur ein winziger Teil der Erde sind.
Sie haben gerade zur Eröffnung des riesigen, 2800 Kilometer langen Korridors namens La Ruta de los Parques beigetragen. Welche Hoffnungen sind damit verbunden?
Die Ruta de los Parques de Patagonia ist eine Vision für den Naturschutz. Sie legt einen riesigen Korridor aus 17 Parks fest, die von mehr als 60 Gemeinden umgeben sind. Über 90 Prozent der geschützten Flächen Chiles befinden sich in dieser Region – eine beeindruckende Zahl. Das Bewahren grosser Landflächen ist entscheidend für die Bekämpfung der Klimakrise, aber auch eine Möglichkeit, durch naturbasierten Tourismus in kleinem Massstab Arbeitsplätze für ländliche Gemeinden zu schaffen.
Sie haben kürzlich ihre privaten Nationalparks, die Sie zwischen 2017 und 2019 gegründet haben, an den chilenischen Staat übergeben – mit der Bedingung, dass weitere Parks gegründet oder bestehende erweitert werden. Wie wird das Land seitdem verwaltet?
Im Laufe des Jahres 2020 übernahm CONAF, die nationale Forstkorporation, die Verwaltung der Nationalparks Pumalín Douglas Tompkins und Patagonia. CONAF ist für die Verwaltung der Nationalparks in Chile zuständig. Wir begnügten uns jedoch nicht damit, einfach nur die Schlüssel zu übergeben und uns dann umzudrehen. Zunächst setzten wir uns zusammen, um die Bedürfnisse, die an den Park gestellt werden, zu besprechen und um uns über unsere Geschäftspraktiken auszutauschen, damit es beim Wechsel des Managements keine Überraschungen gibt. Wir haben eine zehnjährige Kooperationsvereinbarung, um mit CONAF an der Entwicklung der Parkroute zu arbeiten. Einige unserer Ranger wurden als Nationalpark-Ranger angestellt, was die Kontinuität des Projekts sicherstellt.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Unsere Stiftung, Tompkins Conservation, ist über unsere Tochtergesellschaften Rewilding Argentina und Rewilding Chile damit beschäftigt, die nächste Generation von Projekten zu entwickeln. Die Renaturierung zielt darauf ab, die Krise des Artensterbens abzuwenden und die Folgen der Klimakrise zu mildern. Unsere nächste Herausforderung ist die Errichtung von Meeresparks nach dem Vorbild unserer Arbeit an Land. Der Schutz der Meeresökosysteme ist von entscheidender Bedeutung. Jedes Mal, wenn wir einen Nationalpark gründen, fragen wir uns: Wer fehlt hier? Die Herausforderung besteht darin, den einheimischen Arten ihren rechtmässigen Platz zurückzugeben. In Argentinien siedeln wir dieses Jahr Jaguare in den Sumpfgebieten von Iberá an, wo sie seit über 70 Jahren ausgestorben waren. Die Rückkehr lokal bedrohter oder ausgestorbener Tiere ist entscheidend, wenn man vollständige und funktionierende Ökosysteme haben will. Es gibt viel zu tun.
Wie geht die Wiederansiedlung von Tierarten vonstatten?
Da wir mit der grössten globalen Biodiversitätskrise in der Geschichte der Menschheit konfrontiert sind, ist die Notwendigkeit einer grossangelegten ökologischen Renaturierung dringender denn je. Hier kommt die Wiederaufforstung ins Spiel. Wir bemühen uns um die Rückführung endemischer Schlüsselarten und haben in Chile und Argentinien einzigartige Wiederansiedlungszentren für gefährdete und regional ausgestorbene Arten eingerichtet. Dies erfordert eine Zusammenarbeit auf mehreren Ebenen, mit den lokalen und nationalen Behörden – aber auch mit den Menschen vor Ort, die die Mission unterstützen müssen. Für jede Art und jedes Tier erarbeiten wir einen entsprechenden Ansatz. Die Riesenameisenbären, die wir nach Iberá brachten, zogen wir einfach auf und liessen sie wieder frei. Bei den Grünflügelaras, die wir aus Zoos geholt hatten, war die Sache komplizierter: Wir mussten sie für die Wildnis umerziehen, was tägliche Arbeit mit ihnen erforderte, um sie abzuhärten, ihnen zu helfen, einheimische Früchte zu identifizieren usw. Diese Arbeit ist nicht einfach, aber wenn man die Tiere zum ersten Mal in freier Wildbahn sieht, ist es ein unbeschreibliches Gefühl.
Der Huemul-Hirsch Der Darwin-Nandu
Wie kann der Tourismus zum Erhalt der Natur beitragen?
Vor allem abgelegene Gemeinden können von einem nachhaltigen Tourismus profitieren. Kleinunternehmer können Dienstleistungen wie Reiseführung, Transporte oder Unterkünfte anbieten – Arbeitsplätze, die es der jüngeren Generation ermöglichen, in der Region zu bleiben. Es gibt keine besseren Verfechter einer Region als diejenigen, die sie kennen und lieben.
Es gibt ein Netz an Unterkünften und Restaurants, die verschiedene Besucher beherbergen. Wie appelliert man an deren Umweltbewusstsein?
Ein Nationalpark besteht zu 98 Prozent aus unberührtem Land und nur zu zwei Prozent aus Infrastruktur. Dieser kleine Prozentsatz an Einrichtungen ist jedoch entscheidend, um eine Verbindung zwischen der Natur und den Besuchern herzustellen. In den Parks gibt es Campingplätze, Lodges, Restaurants usw. Aber gerade so viele, dass die lokale Bevölkerung sich um sie kümmern und vom Tourismus profitieren kann. Wir haben Schulungs- und Sensibilisierungsprogramme entwickelt: Naturerfahrungen durch das Eintauchen in die Wildnis sind sehr effektiv. Und wir entwickeln weiterhin Massnahmen für nachhaltigeres Wirtschaften in diesen abgelegenen Parks. Im Nationalpark Patagonia haben wir 2020 die Nutzung von erneuerbarer Energie, Solar- und Wasserkraft eingeführt. So sind Generatoren, ausser in Notfällen, überflüssig.
Auf welche Erfolgsgeschichte sind Sie besonders stolz?
Als wir die riesige Ranch in Valle Chacabuco kauften, die das Herzstück des Nationalparks Patagonia werden sollte, mussten wir Hunderte von Kilometern an Zäunen entfernen. Indem wir einen neuen Korridor für die Wildnis schufen, öffneten wir die Tore für einheimische Tierarten wie Guanakos, Pumas und den extrem gefährdeten Huemul-Hirsch. Ausserdem haben wir im Park eine Zuchtstation für den Darwin-Nandu eingerichtet und bislang 64 Tiere ausgesetzt. Man braucht rund Hundert erwachsene Tiere, damit ihre Art ihre Rolle im lokalen Ökosystem erfüllen kann. Die Nandus sind der Schlüssel zur Verbreitung von Samen und damit zur Regeneration von Weideflächen. Mehrere Dutzend Küken sind bereits geschlüpft. Es ist ein erfüllendes Gefühl, zu sehen, wie diese Ökosysteme langsam ihre ursprüngliche Pracht wiedererlangen. Das ist nur möglich, wenn alle fehlenden Arten ihren Platz wieder einnehmen.
Ihr Projekt ist aufgrund seines Umfangs und seiner Philosophie einzigartig. Ist es anderenorts kopierbar?
Es wäre grossartig, wenn es nachgeahmt werden könnte. Wenn wir das Ziel erreichen würden, bis 2030 rund 30 Prozent der Erde wieder zu Wildnis werden zu lassen, wären wir in einer guten Position, um die Klimakrise einzudämmen. Egal wo: Die Menschen sollten damit beginnen, das zu schützen, was sich in ihrem eigenen Garten befindet.
Sie leben zwischen Chile, Argentinien und den USA – wie funktioniert das?
Nach dem pandemiebedingten Stillstand kehre ich zu meiner saisonalen Routine zurück, auch wenn ich nicht mehr so viel reise wie früher. Im Südsommer beobachte ich unsere Projekte in Chile und unternehme ausgedehnte Wanderungen in der Natur. Im Winter schaue ich mir unsere Projekte in Argentinien an. Derzeit verbringe ich auch mehr Zeit damit, von zu Hause in Kalifornien aus zu arbeiten. Die globale Pandemie hatte einen positiven Effekt: Sie gab uns die einmalige Gelegenheit, intensiv über die Umweltzerstörung nachzudenken, die uns in diese Lage gebracht hat. Und über die Welt, die wir aufbauen wollen. Ich bin überzeugt, dass wir mehr tun können, als einfach so weiterzumachen wie bisher.
Casa Butler
Ab Ende 2023 wird der Reiseveranstalter Explora, der auf hochwertige und umweltfreundliche Reisen in Südamerika spezialisiert ist, das 2009 vom Ehepaar Tompkins gebaute Haus in der Region Aysén in Chile vermieten. Hier empfingen Kris und Douglas wichtige Persönlichkeiten, die sie von ihrem Vorhaben überzeugen wollten. Das ehemalige Privathaus ist für sieben Personen ausgelegt.