Er kann Streetweat genauso wie Couture: der Designer Matthew Williams hat ein überbordendes Universum aus Kleidung, Musik und Kollaborationen kreiert.

Sizilien, Spätsommer. Matthew Williams macht mit seinen drei Kindern (Cairo, 14, Alyx, 10, und Veletta, 6) Ferien. Auf dem Spielplatz, wo Schaukeln neben Klettergerüsten stehen, schaltet er die Kamera seines Mobiltelefons für unser Interview ein. Der Designer lacht. Nicht gerade die Art und Weise, wie sich die grossen Namen der Modebranche normalerweise in Szene setzen. Aber was soll’s? Williams, der in einem Vorort von Chicago aufwuchs, hat sich noch nie darum geschert, die Dinge so zu machen wie alle anderen. Bevor er in der Modebranche landete, interessierte er sich für Skateboards und Musik. Mit Anfang 20 stellte er Bühnenkostüme her und lernte so den Rapper Kanye West kennen – für dessen Grammy-Auftritt er eine mit LED bestickte Jacke entwarf. Es folgten Jahre, die geprägt waren von kreativen Partnerschaften: Williams arbeitete oft an der Seite des inzwischen verstorbenen Designers Virgil Abloh, dann wurde er künstlerischer Leiter des «House of Gaga» – jahrelang hielt er der Sängerin die Treue. Erst 2015, im Alter von 30 Jahren, wendet er sich von den grossen Bühnen ab und beginnt, Streetwear zu entwerfen, technologische Unisex-Outfits für urbane Nomaden.

Heute ist Matthew Williams Inhaber seiner eigenen Marke 1710 Alyx 9SM. Der Name leitet sich von dem Vornamen seiner ältesten Tochter,  seinem Geburtsdatum und der ursprünglichen Adresse der Werkstätten ab. Seit 2020 ist er zudem künstlerischer Leiter des Traditionshauses Givenchy. Ausserdem pflegt er eine enge Zusammenarbeit mit dem Sportlabel Nike, legt seine Kappe mit den Initialen MMW nur selten ab. Der neueste Coup des Designers? Eine spektakuläre Kooperation mit dem Uhrenhersteller Audemars Piguet. Das Ergebnis: vier «Royal Oak»-Modelle aus Massivgold und in limitierter Auflage, die sich durch extreme Schlichtheit auszeichnen, da die Zähler verschwinden und die kleinen Chronozeiger diskret Ton in Ton laufen. Eines der Modelle, das einzige Einzelstück, wurde am 24. August in Tokio für eine Million US-Dollar versteigert. Williams will den Betrag an die von ihm seit Jahren unterstützten Wohltätigkeitsorganisationen Kids in Motion und Right to Play spenden, die sich für die Bildung von Kindern in Afrika einsetzen. Natürlich reiste der US-Amerikaner aus diesem Anlass ins Vallée de Joux,  wo die Wurzeln der Uhrmacherkunst liegen. 

Erzählen Sie mir von Ihrer Reise in die Schweiz zu Audemars Piguet ins Wallis.

Das war schon immer meine Lieblingsmarke. Seitdem ich mich für Uhren interessiere, haben mich die Modelle fasziniert. Ich wollte eine «Royal Oak» nach meinen Wünschen personalisieren, gemeinsam mit dem Unternehmen MAD Paris, das sich auf die Herstellung einzigartiger Uhren spezialisiert hat. Ich fügte dem Armband die ikonische Schnalle meiner Marke Alyx als Verschluss hinzu und entwarf eine sehr minimale Version des Zifferblatts. Das Modell fand grossen Anklang und die Leute begannen, sich bei Audemars Piguet nach ihm zu erkundigen. Aber natürlich konnte man es nicht kaufen, es war nur etwas, das ein Typ auf eigene Faust gemacht hatte … Es kam, wie es kommen musste: Ich traf CEO François-Henry (Bennahmias, Anm. d. Red.) und wir beschlossen, zusammen etwas auf die Beine zu stellen. Wir arbeiten jetzt seit zwei, drei Jahren an diesem Projekt.

Wie stellt man die Verbindung zwischen einer Modemarke wie Alyx und einer Uhrenfirma her?

Sowohl bei der Kleidung als auch bei Uhren gibt es eine gemeinsame Basis an Know-how und Innovationskraft. Aber natürlich ist das wichtigste Bindeglied die Ästhetik: Die Kleidung von Alyx entspricht dem Geist von Audemars Piguet. Alyx ist zwar eine Modemarke, aber wir haben auch eine Vielzahl anderer Projekte aus den Bereichen Musik und Verlagswesen, zudem unterstützen wir Künstler. All diese Aktivitäten bilden eine Art kollektive Plattform, die Menschen, Projekte und Marken mit gemeinsamen Werten verbindet. Die Zusammenarbeit mit Audemars Piguet ist eindeutig Teil dieser Kulturprojekte. Es geht um eine gegenseitige Ehrung zweier Unternehmen, die die Arbeit des anderen bewundern und ihre jeweilige DNA durch ein gemeinsames Projekt feiern.

Warum haben Uhren heutzutage einen so hohen Stellenwert, obwohl sie eigentlich niemand mehr braucht, um zu wissen, wie spät es ist – ein reines Statussymbol?

Uhren haben nicht für alle Menschen dieselbe Bedeutung: Sie sind wichtig für eine soziodemografische Gruppe, die durch ihre Liebe zum Handwerk und zur Ästhetik vereint ist. Für mich ist die Uhr ein Zeitmesser, aber eher im emotionalen Sinne. Meine erste Uhr bekam ich von meinem Vater zur Matura geschenkt. Es war ein Vintage-Modell. Meine Uhr symbolisiert die Erinnerung an diesen besonderen Moment. Aber jeder entscheidet selbst, welchen Wert er etwas beimisst. Es ist dasselbe wie bei einem Gemälde, einem Schmuckstück … Sie spielen mit den Gefühlen des Menschen, rufen Emotionen hervor.

Wie steht es um Ihr eigenes Verhältnis zur Zeit?

Ich bin ein sehr pünktlicher Mensch, das können Sie jeden fragen.  Was sagt ihr dazu, Kids? (Rufe aus dem Off: «Du bist immer zu früh!», Anm. d. Red.) Meine Uhren sind immer ein paar Minuten zu früh eingestellt, damit ich sicher sein kann, dass ich pünktlich bin. Aber je älter man wird, desto mehr wird einem bewusst, dass die Zeit unser wichtigstes Gut ist. Niemand weiss, wie viel Zeit einem bleibt, daran erinnert eine Uhr einen vielleicht auch.

Ihr Label Alyx ist strassentauglich und zukunftsorientiert, während Givenchy, dessen künstlerischer Leiter Sie auch sind, auf eine lange Tradition historischer Noblesse zurückblickt. Wie bringt man so unterschiedliche Welten unter einen Hut?

Und ich habe seit fast zehn Jahren meine eigene Linie bei Nike! Jede dieser Welten hat ihre eigene DNA, der Filter eines Designerblicks ändert nichts daran. Die Häuser folgen ihren natürlichen Abläufen und Rhythmen, die ich mit meiner persönlichen Note beeinflusse. Das Talent und die Kompetenz eines Designers bestehen darin, achtzugeben, dass die Projekte ihre Seele nicht verlieren. Die heutige Welt liebt es, Etiketten auf Dinge zu kleben, aber Kreativität überschreitet Genregrenzen, und das ist wunderbar. Ich bin ein vielseitiger Kreativer, das ist es, was mich glücklich macht.

Sie gehören zu einer Generation von Art-Direktoren, die nicht in die Textilbranche hineingeboren wurden, die eher Kuratoren sind. Ich denke da an Pharrell Williams oder den verstobenen Virgil Abloh bei Louis Vuitton, an Olivier Rousteing bei Balenciaga… Sind Sie eher ein Geschmacksstifter als ein Modedesigner?

Mein Universum ist in der Tat facettenreich – was tatsächlich ein generationsspezifischer Ansatz ist. Aber ich bin von Kleidung besessen, sie hat mich geformt. Ich habe vielleicht nicht alle renommierten Modeschulen durchlaufen, aber ich habe mit
19 Jahren angefangen, in der Modebranche zu arbeiten, für verschiedene Marken in New York und Los Angeles, und bin dann Kostümbildner geworden. So bin ich in Kontakt mit Musikern und anderen Berühmtheiten gekommen. Ich kenne alle Facetten der Modeindustrie, vom Design über die Produktion bis hin zum Vertrieb. Ich bin übrigens nach Mailand gezogen, um ganz nah an der Produktentwicklung zu sein und direkt mit den Stofflieferanten zusammenzuarbeiten. Natürlich ist man, sobald man Verantwortung übernimmt, eher in einer Position, in der man Teams leitet, Prototypen entwirft und die strategische Richtung vorgibt. Aber kein Detail eines Outfits ist mir zu klein, um mich damit zu beschäftigen. Ich liebe es, in den gesamten Produktionsprozess involviert zu sein. 

Mode war oft ein Motor für sozialen Wandel. Heute scheinen sich die Outfits jedoch auf eine fast dekorative, um nicht zu sagen anekdotische Funktion zu beschränken…

Das ist ein grosses Problem, denn Kleidung hat eine ganz andere Bedeutung, je nachdem, wer sie trägt. Fast Fashion hat von der Botschaft her nichts mit Designerkleidung, Luxusmarken oder dem zu tun, was ich mit Alyx als unabhängigem Label mache. Und ich spreche noch nicht einmal von Marken, die Funktionskleidung anbieten zum Beispiel für Sportler. Manchmal dienen die Outfits auch der sehr profitablen Accessoire-Industrie. Wir sehen eine Zersplitterung der Modewelt mit einer Vielzahl von Untergruppen. 

Und Sie selbst?

Ich benutze Kleidung, um jemanden einzigartig zu machen, wie bei der Inszenierung einer Boutique oder einer Veranstaltung. Ich mag es, wenn ein Outfit ein Eigenleben entwickelt und die Wahrnehmung eines Moments verändert. Was die Bedeutung der aktuellen Mode angeht: Es ist schwierig, in Echtzeit zu erkennen, was die aktuelle Mode über unsere Zeit aussagt. Aber wahrscheinlich wird man das in ein paar Jahren sehen, wenn man zurückblickt. Ich bin nach wie vor von der soziokulturellen Bedeutung der Kleidung überzeugt. Und sei es nur durch die grundlegende Energie, die in der Wahl des Tagesoutfits steckt. Ein ziemlich genussvoller Moment! 

Eine Art Kunst, die man trägt.

Ich finde das Wort Kunst zu stark, und nur sehr wenige Designer verdienen, dass ihre Entwürfe so genannt werden. Aber Mode bleibt ein individuelles Ausdrucksmittel. Und auch ein Zeichen der Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, der man sich zugehörig fühlt. 

Sie selbst tragen viel Schwarz.

Ja, ich trage oft Schwarz, aber auch Weiss und Camouflage-Prints. Und ich habe den ganzen Sommer über rosa Shorts getragen! Nein, im Ernst, ich bin eigentlich für Farben empfänglich, aber ich arbeite vor allem für andere. 

Gleichzeitig achten Sie darauf, Ihr Image zu kontrollieren. Für Porträts haben Sie sich von Grössen wie Paolo Roversi oder Nick Knight fotografieren lassen.

Es stellt sich doch die Frage: Ist das ein Porträt von mir? Von der Marke? Was will eine Zeitschrift? Wenn wir Aufnahmen machen, nimmt die Zeitschrift am Ende immer ein super stylishes und super seriöses Bild – das Klischee des Designers – und lässt die Bilder weg, auf denen ich lache, obwohl ich mich selbst als fröhliche Person sehe. Der beste Weg, um zu verstehen, wer ich bin, ist, mir auf Instagram zu folgen. Dort habe ich auch die nicht gedruckten Bilder vom Shooting für die «New York Times» gepostet, um diese andere Seite von mir zu zeigen: sanfter, friedlicher, echter.

Ihr Nacken ist auf Instagram fast genauso oft zu sehen wie Ihr Gesicht. Was hat es mit den Tattoos auf sich?

Mein Kreuz hat einen hohen Wiedererkennungswert, die Leute erinnern sich daran! Es ist das Werk meines lieben Freundes, des talentierten Schweizer Künstlers Maxime Plescia-Büchi vom Studio Sang Bleu. Wir haben das Design gemeinsam für den gesamten Rücken entworfen, und er hat es in zwei Sitzungen umgesetzt.

Welches Stück aus Ihrer Kollektion AW 2023-2024 Alyx verkörpert Ihre Vision für diese Saison am besten?

Sowohl für Alyx als auch für Givenchy würde ich das Stück nennen, mit dem die Modenschau eröffnet wurde. In beiden Fällen handelt es sich um Outfits, bei denen das Tailoring, die Schnitttechnik, wirklich im Vordergrund steht. Das ist ein Bereich, den ich in letzter Zeit bei beiden Marken beobachte – natürlich mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Schneiderkunst sollte cool und tragbar sein.

Wie das Herrenoutfit für den nächsten Frühling: ein Anzug, aber ohne Ärmel, quasi ein Overall…

Das ist eine Arbeit aus dem Schneideratelier. Das Stück wird am und für das Model angefertigt und ist praktisch nahtlos. Wenn man genau hinschaut, ist es wie Architektur aufgebaut, mit einer sehr präzisen Montage und einem einzigartigen Fall. Eine solche Meisterleistung ist bei Prêt-à-porter undenkbar.      

Und das Fischmotiv auf einigen Givenchy-Damenmodellen?

Meine Freundin Carine Roitfeld (Designerin und ehemalige Chefredaktorin der französischen «Vogue», Anm. d. Red.) und ich haben die Archive durchforstet – so beginnen wir jede Saison: Wir wählen 30 bis 40 Kleider von Hubert und den nachfolgenden Designern des Hauses aus, um den Geist einzufangen. Carine war begeistert von diesem Muster. «Ein Fisch! Ich will einen Fisch tragen!» Also sagte ich: «Okay, machen wir das!» Es lag eindeutig ausserhalb meiner Komfortzone, aber im Grunde mag ich dieses Gefühl. Es ist, als würde mich dieses fremde Thema mit einem Flüstern ermutigen, es trotzdem zu tun. 

Kreativität überschreitet Genregrenzen, das ist wunderbar

Sie pendeln derzeit zwischen Mailand und Paris. Gefällt Ihnen das Leben in Europa?

Ich liebe es! Ich bin hierhergezogen, um bessere Produkte herstellen zu können. Egal, ob Schuhe, Taschen, Textilien oder Schmuck: Die Qualität ist in Europa einfach höher. In New York kann man aussergewöhnliche Einzelstücke anfertigen lassen, aber sobald man mehrere hundert Stücke produzieren will, ist das Know-how in Frankreich und Italien zu finden. 

Und man isst gut! Ich habe gehört, dass Sie Kurse im Sous-Vide-Kochen belegen?

Ja, das stimmt. Und ich züchte Tomaten auf meinem Balkon. Letztlich tendiere ich kulinarisch immer zu einem guten Nudelgericht oder gegrilltem Gemüse.

Sie haben auch viel Sport getrieben, trainieren Sie noch?

Ich mache jeden Morgen ein Split-Training in meinem Studio. Ausserdem mache ich zweimal pro Woche Yoga. Ich versuche, mich an diese Routine zu halten, aber das ist nicht immer einfach. In den Ferien habe ich mit meinem 14-jährigen Sohn Sport getrieben. Ich muss mich anstrengen, damit ich mich ihm gegenüber nicht wie ein alter Mann fühle. 

Mit welcher Musik bringen Sie sich in Schwung?

In den Ferien habe ich die Playlist der Mädchen durchgeackert: gute Popmusik von Justin Bieber, Miley Cyrus, Taylor Swift. Wenn die Kinder zurück bei ihren Müttern sind, höre ich wieder den Soul-Gospel von Montell Fish oder die Lieder von Dijon, einem Künstler aus Los Angeles. Und YSI! Ich mag diesen finnischen Künstler und seine Art von experimentellem, fast meditativem Pop sehr. Ich habe eine Single sogar als Soundtrack für ein Givenchy-Video verwendet.