Die Modeschöpferin Nadège VanhÉe-Cybulski prägt die Prêt-à-porter-linie von Hermès mit ihrem radikal zeitgenössischen Stil. Ein Treffen mit einer aussergewöhnlichen Frau.
Kraft. und licht. Das sind die Begriffe, die einem in Gegenwart von Nadège Vanhée-Cybulski unweigerlich durch den Kopf schiessen. Frauen, die ihr ungeschmink-tes Gesicht frank und frei in der Öffentlichkeit zeigen, haben Seltenheitswert. Nadège Vanhée-Cybulski ist jedoch eine davon: Die Augen der 43-Jährigen sind ungeschminkt, und als einzigen Schmuck trägt sie ihr rotblondes Haar. Sie weht herein, lässt ihre Daunenjacke auf die Rückenlehne des Sessels fallen, stellt ihre zahlreichen Stofftaschen auf den Boden und richtet ihren klaren und direkten Blick auf ihr Gegenüber.
Sich aufbrezeln: Wozu? Die Chefdesignerin der Damen-Prêt-à-porter-Kollektion von Hermès ist da ganz Kind ihrer Zeit – fest im Hier und Jetzt verankert. Die Kollektionen, die sie seit 2014 für den orangen Modegiganten kreiert, atmen denselben Geist. Intelligente, weil praktische Stücke, die allerdings nie auf ein Quantum Raffinesse verzichten: butterzartes Leder, zauberhafte Prints, erstklassige Verarbeitung bis zum kleinsten Detail.
Bevor sie zu Hermès stiess, arbeitet die aus Lille stammende Französin schon mit Martin Margiela und mit Phoebe Philo für Céline zusammen; zudem war sie Kreativchefin des minimalistischen Labels The Row in New York. Seit einigen Jahren ist sie nun zurück in Paris, wo sie mit ihrer Familie in ihrem geliebten Montmartre lebt. Wir treffen sie im kürzlich eröffneten Soho House Paris im ehemaligen Rotlichtviertel Pigalle. Ein Hotel, das nur Mitgliedern und deren Gästen offensteht – und das auf verblüffende Weise zur Designerin passt: auf den ersten Blick zurückhaltend, bei genauerem Hinsehen von einer schicken Lässigkeit.
Und weltgewandt obendrein: Die exklusive Kette zählt rund 30 Standorte in Metropolen rund um den Globus. Nadège Vanhée-Cybulski spricht mit sanfter Stimme; diese gewisse Nonchalance, mit der sie auftritt, verdankt sich der Selbstsicherheit, mit der sie ihrer Arbeit macht – und dem spürbaren Stolz, mit dem sie diese erfüllt. Und: Der Neugierde auf alle Überraschungen, die das Leben bereithält.
Die Sommerkollektion, die Sie soeben vorgestellt haben, sprüht vor Lebensfreude: strahlendes Gelb, sportliche Bustiers, besticktes Leder …
Als ich die Kollektion entwarf, befanden wir uns noch im Lockdown, aber das Schlimmste war überstanden. Ich spürte diese Vorfreude darauf, mich wieder mit Leuten zu treffen, gemeinsam etwas zu erschaffen. Deshalb hat diese Kollektion etwas sehr Optimistisches. Es wurde in den letzten Monaten so viel darüber diskutiert, was wir wirklich zum Leben brauchen und was nicht. Ich hatte das Bedürfnis zu zeigen, dass immer auch Schönes geschaffen werden muss. Der Austausch war schon immer eine wichtige Voraussetzung für kreative Arbeit. Ich wollte feiern, dass wir uns wieder berühren, in die Augen sehen, nach draussen gehen können.
Ihr Stil wurde oft als streng und nüchtern beschrieben. Jetzt zeigen Sie sich sinnlich und verspielt. Was ist passiert?
Als ich damals für Martin Margiela und The Row arbeitete – beides sehr schlichte Labels –, haben mich die Kritiker sofort in diese strenge Schublade gesteckt. Ein Etikett, das, wie ich finde, nicht wirklich zu mir passt. Und ohne hier übertrieben aktivistisch sein zu wollen: Ich glaube, dass eine Frau an der Spitze einer grossen Modemarke immer noch als Ausnahmeerscheinung gilt. Anstatt sich die Mühe zu machen, ihre Arbeit wirklich anzusehen, werden vorgefasste Meinungen auf sie projiziert.
Vielleicht hat dieses falsche Bild auch mit Ihrer Diskretion zu tun. Auf den sozialen Medien findet man Sie ja nicht …
Kann sein. Ich stelle mein Privatleben nicht öffentlich zur Schau, das stimmt. Aber es gibt ja nicht nur die sozialen Medien, sondern auch die Kleider! Hin und wieder habe ich mich gefragt: Sieht man es meinen Kreationen denn nicht an, was für ein fröhlicher Typ ich bin? Die Farbigkeit, die verspielten Details … Bei der Kundschaft ist die Botschaft glücklicherweise angekommen.
Das stimmt, die neuen Prêt-à-porter-Kollektionen sind sehr erfolgreich. Überhaupt weht durch die Maison Hermès in letzter Zeit ein frischer Wind …
Ich denke – hoffe! –, dass ich mit meiner Vision einer zeitgemässen Weiblichkeit dazu beigetragen habe, die Wahrnehmung der Hermès-Mode zu verändern. Als ich zu Hermès kam, war die Kollektion ein mit dem Reitsport assoziiertes Nischenprodukt. Dieses Image hat sie nun abgelegt. Was ich entwerfe, ist immer zweckmässig. Das macht es einfach, sich die Stücke zu eigen zu machen.
Sie sind seit sieben Jahren bei Hermès. Inwiefern hat sich Ihre Sichtweise in dieser Zeit verändert?
Oh là là, schon sieben Jahre, stimmt! Ich habe absolut kein Gespür für Zahlen … Was mich von Anfang an bei Hermès beeindruckte, war die Kompromisslosigkeit der Marke, was Qualität und Schönheit angeht. Nun durften wir erfahren – und das hat wirklich für eine kollektive Begeisterung gesorgt –, dass wir in der Krise an diesem Credo festhalten, ja, sogar zu kreativer Bestform auflaufen. Wir haben zusammengehalten, uns belastbar und solidarisch gezeigt. Dieses Bewusstsein hat uns allen viel Sinn gegeben.
Als Teenager sollen Sie eher in einem rockigen Brocki-Stil als mit Seidenfoulard unterwegs gewesen sein. Stimmts?
Stimmt. In den 1980ern wurde das Foulard von einer ganz bestimmten Sorte französischer Frauen getragen, etwa meiner Mutter oder Grossmutter. Das Seiden-Carré von Hermès gehört zur französischen Identität, ein bisschen wie der Eiffelturm. Damals wurde es mit einem gewissen bürgerlichen Konformismus assoziiert – auch wenn es in mir persönlich eher Assoziationen an Geschichten von fernen Ländern, fantastischen und wundervollen Welten weckte. Heute sehe ich es oft auf der Strasse, an Handtaschen oder um den Hals geknotet. Es wird teils als Objekt, teils als Kleidungsstück getragen, aber immer auf sehr persönliche Art und Weise.
Seide und Leder sind zentrale Materialien des Hauses Hermès. Was bedeuten sie Ihnen persönlich?
Für mich sind sie Inspirationsquelle. Ich verwende sie gern im Kontrast zueinander. Das Leder verarbeite ich streng, mit der Seide gehe ich etwas leichter, spielerischer, experimenteller um. Die Seide hat etwas so Befreites.
Wie arbeiten Sie? Was sind Ihre kreativen Routinen?
Diese Frage kann ich nicht wirklich beantworten. Bei mir ist jede Woche anders als die vorhergehende. Ich verbringe natürlich viel Zeit in unseren Ateliers in Pantin bei Paris. Wir arbeiten dort jeweils an drei verschiedenen Kollektionen gleichzeitig, was mir sehr gefällt. Denn dadurch entsteht eine Art Zeitraffer und wir können Verbindungen zwischen den einzelnen Kollektionen herstellen und an Langzeitprojekten herumtüfteln. Die Stickereien auf den Entwürfen dieses Jahres zum Beispiel haben ihren Ursprung in Recherchen, die wir vor mehr als zwei Jahren begonnen hatten und die bereits in vorherige Kollektionen einflossen. Um die jetzige Feinheit und Handfertigkeit zu erreichen, haben wir unsere Zusammenarbeit mit Ateliers in Frankreich vertieft und unsere Technik weiterentwickelt.
Und wie arbeitet Ihr Team?
Auch das kann ich Ihnen nicht wirklich beantworten! Wir sind etwa 30 Personen im Atelier. Diese Zahl ändert sich aber stetig, da wir je nach Projekt mit anderen Abteilungen zusammen-arbeiten. Mit Pierre Hardy, dem künstlerischem Leiter für Schuhe und Schmuck, arbeiten wir natürlich eng zusammen. Ich brauche sein Savoir-faire, um die Silhouetten der Kollektionen zu kreieren. Ich sehe mir aber auch gerne an, was sich in unserer neuen Beauty-Abteilung so tut, die sich ja noch im Entstehungsprozess befindet. Ich sehe mir zum Beispiel die Farbtöne der Lippenstifte an und überlege, ob ich einen davon in die Modeschau integrieren kann, und plötzlich habe ich eine Idee. Oh, dieses Pink – und zack!
Fehlt Ihnen das Reisen? Als Inspirationsquelle?
Ja, natürlich, wie uns allen. Aber Inspiration ist glücklicher-weise ortsunabhängig. Wir suchen sie jeden Tag aufs Neue. Momentan beschäftigt mich vor allem die Dynamik der Jugend des 21. Jahrhunderts. Ihre Themen sind ja für alle aktuell. Unser Verhältnis zu Klima und Umwelt wird sich in allen zeitgenössischen Errungenschaften, auch den kreativen, niederschlagen. Wir alle müssen uns im Rahmen unserer Möglichkeiten überlegen, wie wir nachhaltiger, verantwortungsvoller arbeiten können.
Glauben Sie wirklich, dass die Modewelt revolutioniert werden kann?
Im Moment ist wirklich viel in Bewegung. Junge Marken engagieren sich systematisch und setzen damit ein Zeichen. Auch einige grosse Modehäuser, nicht nur Hermès, handeln zunehmend gemäss des Fashion Pact 2019. Ich glaube daran, dass wir uns in die Richtung eines neuen Mode-Ökosystems bewegen. Wir machen kleine Schritte, aber jeder davon zählt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im Januar wird Hermès die ersten Lederwaren aus Sylvania-Leder lancieren, ein veganes Material auf Pilzbasis, das wir zusammen mit der Firma MycoWorks in San Francisco entwickelt worden ist. Es ist das Resultat langwieriger Arbeit; solche Neuheiten fallen ja nicht einfach vom Himmel. Man muss clevere Ideen konsequent verfolgen, nur dann wird sich das Nebeneinander von Mensch und Natur wirklich zum Guten verändern. Auf Englisch heisst es so schön: Each little choice matters.
Der Jupeteil dieses Sommerkleids punktet mit einem prächtigen Stickmuster aus Tüll und Leder. Bei den Outfits für Herbst/Winter 21/22 spielen weiche Materialen, die jede Art von Bewegung mitmachen, die Hauptrolle. Sinnigerweise wurden sie von einer Tanztruppe präsentiert – in einem Spektakel in drei Akten zwischen Paris, New York und Shanghai.
In diesem Zusammenhang steht Hermès nicht schlecht da: Die Maison hat eine lange Handwerkstradition.
Stimmt. Unsere verschiedenen Abteilungen arbeiten schon seit jeher eng mit Kunsthandwerkern zusammen. Dazu kommt, dass die Kollektionen überschaubar sind. In den Boutiquen lagert nie überschüssiger Bestand, jedes Geschäft bestellt entsprechend seiner Kundschaft. Die Menge ist also vernünftig, und Materialien werden nicht verschwendet. Ich könnte lang mit Ihnen über dieses Thema reden! Die heute so aktuelle Einstellung ist in der Identität der Maison Hermès verankert, und das freut mich sehr. Wir können aber in Zukunft noch viel mehr machen!
Und für Sie persönlich? Haben sich durch die aktuelle Krise auch gewisse individuellen Grenzen verschoben?
Ich kann die aktuellen Geschehnisse noch nicht analysieren. Dafür ist es zu früh; wir befinden uns noch zu sehr mittendrin. Ich hatte das Glück, dass ich in dieser Zeit produktiv war. Ich konnte meiner Arbeit von Zuhause aus nachgehen – ein Privileg! Für mich war vor allem die Zusammenarbeit des ganzen Teams erbauend. Wir haben uns alle gegenseitig unterstützt. Ich würde sogar sagen, dass unser Zusammenhalt gestärkt worden ist. Dasselbe gilt innerhalb meiner Familie mit unserer kleinen Tochter. Aktuell sprudle ich nur so vor Energie. Wir leben in einer spannenden Zeit mit vielen Möglichkeiten.
Auch die Art, wie wir uns kleiden, hat sich verändert.
Auf jeden Fall. Kleidung hat ihren Status als sozialer Indikator verloren und ist persönlicher geworden. Heute will man mit dem, was man anzieht, eine persönliche Botschaft vermitteln, seine Individualität unterstreichen. Zudem entwickeln wir uns zunehmend zu einer Freizeitgesellschaft und definieren uns immer stärker auch über unsere Hobbys und Interessen, und nicht mehr nur über unseren Beruf. Die alte Idee von Status und Prestige ist passé.
Und Sie, wie definieren Sie sich über Ihre Hobbys und Interessen?
Ich bin wohl ein schlechtes Beispiel, da mein Beruf eine grosse Schnittmenge mit meiner persönlichen Leidenschaft hat. Aber ich würde sagen, die Kunst ist meine Welt. Mein Ehemann ist Galerist, wir teilen die Neugierde für Kunst als Spiegel der Gesellschaft. Im Oktober war ich an der Frieze Art Fair in London, einer Messe für zeitgenössische Kunst, und habe dort sehr interessante Werke gesehen. Ich finde diese neue Dynamik in der bildenden Kunst unglaublich spannend. Es scheint, als wollten sich die Künstler von unserer superdigitalen Gesellschaft distanzieren. Als würden sie sagen: Ja, ich kann programmieren und kodieren, aber ich will auch weiterhin mein primäres Handwerk und die grundlegende Technik beherrschen.
« Kleidung hat ihren Status als sozialer Indikator verloren, ist persönnlicher geworden. »
EVerraten Sie uns, wie Sie sich morgens vor Ihrem Kleiderschrank für ein Outfit entscheiden?
Mich anzukleiden ist für mich wie Tagebuch schreiben. Ich überlege mir dabei, wer ich heute sein will. Mal bin ich in nachdenklicher Stimmung, mal fühle ich mich wagemutig … Heute trage ich ein Kleid aus grauem Wolljersey, in dem ich mich uneingeschränkt bewegen kann. Diese Woche finden die Anproben der Kollektionen statt, es sind also wichtige und körperlich anstrengende Tage.
Bald ist Weihnachten. Sind die Festtage wichtig für Sie?
Und wie! Letztes Jahr, während dem Lockdown, habe ich es mit der Deko auf die Spitze getrieben: Stechpalmenzweige, riesige Bescherungsstrümpfe aus dem Londoner Kaufhaus Fortnum & Mason … Es herrschte einen ganzen Monat lang Weihnachtsstimmung bei uns zu Hause! Auch dieses Jahr freue ich mich auf dieseBlase des glücklichen Zusammenseins mit meinem Mann und unserer kleinen Tochter.
Gibts Geschenke?
Was mich angeht, haben meine Liebsten so gut wie aufgegeben. Es ist schwierig, mich zu beschenken. Wenn ich wiederum jemandem ein Geschenk mache, versuche ich etwas zu finden, das wirklich zu der betreffenden Person passt, statt dass es meinem persönlichen Geschmack entspricht. Das ist schwieriger, als man denkt. Ich schenke gern Einrichtungsobjekte. Oder Gesellschaftsspiele. Und, ganz wichtig: Bücher!
Was lesen Sie gerade?
Ich lese immer mehrere Bücher parallel. Besonders bewegt hat mich jüngst der autobiografische Roman «The Cost of Living» der englischen Autorin Deborah Levy. Er zeigt anschaulich, was es auch heute noch bedeutet, eine Frau – zumal eine kreative – zu sein.