Die norvegischen Fjord sind im Winter das Jagdrevier von Orcas und Buckelwalen. Unterwegs mit dem ehemaligen Trawler MS Cape Race.

Es gibt Begegnungen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. 20 Uhr. Das Schiff ist gerade vor der Insel Skorpa im Nordosten Norwegens vor Anker gegangen. Es ist stockdunkel, denn jenseits des Polarkreises wird es im tiefsten Winter schon gegen 14.30 Uhr Abend, schafft die Sonne es nicht über den Horizont. Die berühmte Polarnacht hat das Zepter übernommen. Doch den Kapitän der MS Cape Race, der in den kleinen, holzgetäfelten Speisesaal eilt, interessiert das nicht: «Gehen Sie an Deck, ich habe einen Wal gehört, er muss direkt neben uns sein!» Die Passagiere beeilen sich, schnell, schnell!

In der Dunkelheit, die nur von einem Lichtstrahl durchdrungen wird, der durch die Bullaugen fällt, ertönt ein Geräusch, das wie ein Nebelhorn klingt. Der Kapitän schwenkt den starken Scheinwerfer des Schiffes in die Richtung, aus der es kommt. Und da ist er! Ein riesiger, zehn Meter langer Wal schwimmt an der Seite des Schiffes durch das Wasser, das durch den Lichtstrahl aquamarinrot leuchtet. Doch das plötzliche Interesse an seiner Person gefällt dem Wal offensichtlich nicht: Er hebt kurz ab und taucht elegant in die Tiefe, nur die Schwanzflosse sendet einen letzten Gruss. Die wenigen Zuschauer an Deck sind einen Moment lang sprachlos. Bevor die Polarkälte ihnen in die Knochen kriecht und sie sich in ihre warmen Kojen zurückziehen.

Die Reise beginnt in Tromsø, ganz im Norden Norwegens. Eine charmante Kleinstadt, die die nördlichste Universität der Welt beherbergt und den Spitznamen Paris des Nordens trägt. Zugegeben, das ist übertrieben. Aber auch wenn es in Tromsø keinen Eiffelturm gibt, so sorgt die Stadt mit einer anderen Besonderheit für Staunen: Alle Gehwege in der Innenstadt sind beheizt. Von Tromsø aus starten viele Expeditionen zum Nordpol, nach Spitzbergen und Svalbard. Ab Oktober kommen die Heringe in die umliegenden Fjorde – und im Schlepptau ihre Jäger, Orcas und Wale.

Nach der Brücke in Tromsø beginnt das Abenteuer erst richtig. Hier leben weniger Menschen als Orcas pro Quadratkilometer.

Die MS Cape Race, ein tapferer kanadischer Trawler aus den 1960er-Jahren, der 2019 in Island von Grund auf renoviert wurde, kann selbst der härtesten Gischt trotzen und ist ihnen auf den Fersen. Mit ihrem stählernen Rumpf schreckt die MS Cape Race selbst vor Eis nicht zurück. Und dank ihrer relativ geringen Grösse kann sie sich durch die engsten Fjorde schlängeln und ganz nah an die Klippen heranfahren, die steil ins eisige Wasser abfallen. Dort, wo die Wale sich an den Fischen laben.

Aber jede Reise auf einem Schiff wie diesem und bei solch extremen Wetterbedingungen beginnt mit den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen. Freddie Hedger, der erste Offizier, erklärt den Happy Few – maximal zwölf Passagiere und acht Besatzungsmitglieder haben an Bord Platz –, wie man sich in den Rettungsanzug hineinzwängt (eine Weste würde in diesen Gewässern nicht viel nützen…), wie man die verschiedenen Arten von Alarmen unterscheidet und wo sich die Notausgänge befinden.

An Bord der MS Cape Race. Im vorderen Bereich befindet sich ein Salon mit einer Bar und einem Klavier. Hier werden die Mittags- und Abendmahlzeiten eingenommen.

Erster Killerwal in Sicht

Kaum hat man die Tromsø-Brücke und die fotogene Eismeerkathedrale hinter sich gelassen, stellt sich das Gefühl ein, nicht mehr Teil der Zivilisation zu sein. Von nun an gibt es mehr Orcas als Menschen pro Quadratkilometer. Auch wenn es ein einmaliger Moment ist, die erste Flosse eines Schwertwals in diesen dunklen Gewässern zu erspähen, wird schnell klar: Er wird keine Ausnahme bleiben. Die Meeresbewohner sind neugierig und sogar verspielt, nähern sich gerne dem Boot, tauchen unter ihm hindurch und folgen ihm für eine Zeit lang.

Der erste Buckelwal. An Bord herrscht grosse Aufregung und die Kameras knistern, um seinen Tauchgang festzuhalten.

Die Kleinsten weichen ihren Müttern nicht von der Seite und tauchen zeitweise fast vollständig aus dem Wasser auf. Einige haben sogar gelernt, vorsichtig den Kopf senkrecht aus dem Wasser zu strecken, um die Boote in der Umgebung zu beobachten und sich zu vergewissern, dass keine Gefahr droht. Dieses Verhalten wird als Spyhopping bezeichnet. Im Gegensatz zur Strasse von Gibraltar greifen die schönen schwarz-weissen Wale hier keine Boote an. Und sie ernähren sich ausschliesslich von Fischen, nicht von Robben oder Walkälbern. Biologen und Meeresexperten würden es begrüssen, wenn man sie nicht mehr Killerwale nennen würde, sondern den weniger negativ behafteten Begriff Orca benutzten.

Die Schwertwale sind beeindruckend – sie werden bis zu 10 Meter lang und 10 Tonnen schwer –, doch im Vergleich zu den Buckelwalen, der bei Weitem häufigsten Walart in diesen Gewässern, können sie einpacken. Mit einer Länge von bis zu 18 Metern und einem Gewicht von bis zu 45 Tonnen können Buckelwale etwa 50 Jahre alt werden. Trotz ihrer imposanten Statur erkennt man sie oft nur an ihrem «Atem»: wenn sie an die Oberfläche kommen und Luft aus ihren Blaslöchern ausstossen – der Strahl kann bis zu drei Meter hoch sein, begleitet von einem tiefen Ton.

Der Anblick dieser majestätischen Tiere, die in kleinen Gruppen leben, ist atemberaubend. Nach ein paar Minuten an der Oberfläche gibt eines der Tiere ein Signal und taucht senkrecht ab, gefolgt von allen anderen. Nach maximal acht Minuten, in denen sie in der Tiefe (sie können bis zu 150 Meter tief tauchen!) Plankton und Fisch verschlungen haben, tauchen sie gesättigt wieder auf, nehmen einen tiefen Atemzug und amüsieren sich eine Weile, bevor sie ihre Choreografie fortsetzen. Auf dem Deck klicken die Fotoapparate, begleitet von vielen «Wows!».

Treffen mit Alexs und HRC MN 387

Wenn man die majestätischen Meeressäuger beim Toben beobachtet, mehrere Stunden am Tag an Deck Schnee, Wind und beissender, nasser Kälte trotzt, weiss man den extremen Komfort im Inneren der MS Cape Race doppelt zu schätzen. Fast hat man Mitleid mit den Touristen, die dicht gedrängt in Zodiacs hocken und stundenlang bibbernd um die Wale kreisen. An Bord der MS Cape Race bereiten die Besatzungsmitglieder zwischen zwei Schwertwalflossen derweil eine Thermoskanne mit heisser Schokolade vor und backen einen Kuchen. Die holzgetäfelten Kabinen sind gemütlich, im Salon steht ein Klavier für Musikliebhaber, und es gibt sogar eine Sauna, um die kalten Glieder wieder aufzuwärmen. Für die ganz Mutigen, die nach dem Saunagang die Leiter hinunterklettern und einen Sprung in die arktischen Gewässer wagen, stellt der Kapitän sogar ein Zertifikat aus. Ein unvergessliches Erlebnis! Erst recht, nachdem man weiss, dass die Orcas gerne um das Schiff herumschwimmen  …

Die Orcas bewegen sich zu mehreren und sind ziemlich neugierig, nähern sich dem Boot und strecken sogar ihre Köpfe aus dem Wasser, um zu sehen, wie wir aussehen.

Reiseleiterin Michelle van Dijk, die eine Leidenschaft für Wale hat, sucht mit ihrer Kamera den Horizont ab. Wonach sie Ausschau hält? Nach der Schwanzflosse, die so etwas wie der Fingerabdruck des Tieres ist. Alle Fotos leitet sie an die Happywhale-Website weiter, um herauszufinden, ob dieses Exemplar schon irgendwo auf der Welt gesichtet wurde. Die Tiere legen Tausende von Kilometern zurück: HRC MN 387, einer der gesichteten Wale, schwamm am

  1. April 2023 vor der Küste von Guadeloupe. Ein weiterer Wal befand sich im Frühjahr 2024 in der Nähe der Küste der US-Jungferninseln. Alexs – dieser Wal trägt sogar einen menschlichen Namen! – wurde in den vergangenen Jahren häufig in den umliegenden Fjorden gesichtet. Kapitän Mario Essl hält den Feldstecher in den Händen und blickt konzentriert hindurch. Dank seiner Luchsaugen treffen die Passagiere oft auf das wilde Leben im XXL-Format.

Manchmal stoppt er dank des Sonars an Bord die Motoren des Schiffes über einem Heringsschwarm. Denn dort, wo sie sich befinden, lassen Wale und Orcas nicht lange auf sich warten. Es ist beeindruckend, auf dem Bildschirm die Ultraschallsignale eines Buckelwals zu sehen, der unter dem Rumpf des Bootes hindurchgleitet.

Egal, ob es schneit, regnet oder weht, es ist einfach zu verlockend, draussen zu bleiben, um einen Blick auf einen der majestätischen Wale zu erhaschen.

Auf der Suche nach Elchen

Das Abenteuer endet nicht, wenn die Nacht hereinbricht. Wenn die «Jagd» auf Wale nicht mehr möglich ist, wird der Anker gelichtet, und die Passagiere steigen in Zodiacs um, um an Land zu gehen. Auf dem Programm stehen Schneeschuhwanderungen, Begegnungen mit Elchen – auch sie sind imposant, friedlich und zeigen sich unbeeindruckt von ein paar herumstreunenden Menschen – und die Entdeckung von Inseln, die von der Welt abgeschnitten zu sein scheinen. Wie Skorpa, die in den 1980er-Jahren verlassen wurde. Nur eine Handvoll Familien kommt noch während der Sommersaison hierher, die Lichtjahre entfernt zu sein scheint.

Die Szenerie wirkt wie aus einem Drehbuch für Horrorfilme: Mit einer Stirnlampe schleichen die Passagiere zwischen der schneebedeckten Kirche und dem Friedhof hin und her. Und das alles mit dem «sea legs syndrome», dem leichten Schwindelgefühl an Land, das man nach einem langen Aufenthalt auf einem Schiff verspürt.

Ein paar Meilen weiter nördlich liegt die Insel Spildra. Im Gegensatz zu Skorpa herrscht hier regelrechtes Halligalli: Noch 18 Einwohner leben auf ihr. Dunvik besitzt ein paar Häuser, eine Strassenbeleuchtung, eine Art kleine Bar und einen winzigen Laden – man muss allerdings klingeln, damit die Ladenbesitzerin öffnet. Das Cheminéefeuer wird auf einem Fernsehbildschirm übertragen, und Gastgeber Roy, der Ehemann der Lebensmittelhändlerin, geizt nicht damit, persönliche Anekdoten auszuplaudern. «Ich bin viel weiter östlich geboren, gegenüber von Russland. Ich zog auf die Insel, als ich fünf Jahre alt war. Ich arbeitete ein bisschen in Tromsø, bevor ich wieder zurückkehrte, um hier vom Tourismus zu leben. Damals lebten viel mehr Menschen hier, es gab sogar eine Schule, heute gibt es nur noch zwei Bauern und ein paar Fischer   …»

Auf der (verlassenen) Insel Skorpa fühlt sich eine Wanderung mit Schneeschuhen und Stirnlampe wie ein Horrorfilm an, wenn man am Friedhof und an der Kirche vorbeikommt.

Leider müssen die anderen Klatschgeschichten aus der Gegend warten, denn es zieht ein Sturm auf, und die Passagiere müssen schnell zum Schiff zurück, damit es in der nahe gelegenen Bucht in Burfjord Schutz suchen kann. Vorbei mit eitel Sonnenschein: Am nächsten Tag fordert der Kapitän alle Passagiere auf, angesichts der angekündigten Wellen vorbeugend ein Medikament gegen Seekrankheit einzunehmen. Solange das Schiff in einem Fjord schippert, ist es relativ gut vor zu starkem Wellengang geschützt. Aber sobald es aus dem Fjord herausfährt, wird es mit voller Wucht getroffen, hin- und hergeworfen. Das geht so weit, dass die Besatzung alle losen Gegenstände – Tassen, Gläser, Bücher – sichert und die Passagiere dazu aufruft, das Deck nicht mehr zu betreten, solange die Wellen zu hoch sind. Den Orcas macht das schlechte Wetter nichts aus, sie scheinen sogar Spass daran zu haben, sich in die Wellen um das Schiff herum zu stürzen.

Zum Glück hält der Sturm nicht lange an. Und endlich, endlich zeigen sich auch die legendären Nordlichter! Ein zartgrün wabernder Schleier zieht sich über das Firmament. Aber abgesehen von diesen fotogenen Naturphänomenen beeindruckt der Himmel in diesen Breitengraden auch tagsüber. Eben noch stumpf grauweiss, zeigt er sich plötzlich perlmuttfarben. Und zack, ist auch schon alles wieder vorbei, als wäre es ein Traum gewesen. Den kurzen Lichtblicken braucht man aber nicht hinterherzutrauern, denn das Spektakel auf dem Wasser geht weiter. Vor der Küste von Hamnnes jagen etwa zwanzig Buckelwale, darunter zwei Kälber, systematisch nach Heringen. Von der Anwesenheit der MS Cape Race lassen sie sich nicht beirren. Glücklicherweise.

Ein (kleines) Nordlicht, trotz des bewölkten Wetters! Divulgâchage: Dieses Phänomen ist auf Fotos viel beeindruckender als in Wirklichkeit!

Denn obwohl die Begegnungen zahlreich und eher «intim» sind, achtet der Kapitän penibel darauf, den Tieren nicht zu nah zu kommen, um die Wale nicht zu beunruhigen. Es ist nicht verwunderlich, dass an Bord mit äusserster Sorgfalt vorgegangen wird, um die Tierwelt so wenig wie möglich zu stören: Der Besitzer des Schiffes, Nikolaus Gelpke, ist Meeresbiologe und setzt sich für den Schutz der Ozeane ein. Mit seinem Verlag «Mare» bringt er sogar eine Zeitschrift heraus, die sich einzig Geschichten rund ums Meer widmet.

Trotzdem – oder gerade deshalb – räumt Gelpke ein: «Whalewatching ist nicht nur positiv zu sehen. Aber wir nähern uns den Walen immer sehr vorsichtig, und oft lassen wir uns einfach treiben. Auf diese Weise entsteht eine Sensibilisierung für diese Tiere. Denn man schützt nur das, was man selbst liebt.»

Der Kapitän, Mario Essl, achtet sehr darauf, die Meerestiere so wenig wie möglich zu stören, wobei er von Radar, Sonar und Adleraugen unterstützt wird.

Auf nach Tromsø: Hinfahren, übernachten, einsteigen

Die Fluggesellschaft Edelweiss bietet Direktflüge zwischen Zürich und Tromsø an, Infos unter www.flyedelweiss.com.
Die MS Cape Race bietet je nach Jahreszeit verschiedene Arten von Kreuzfahrten an. Für sieben Nächte an Bord müssen Sie mit ca. 6475 Euro rechnen (inkl. Vollpension, Flug und einer Nacht in Tromsø). Die Hauptsprache an Bord ist Deutsch. Infos unter www.mscaperace.com.