Der Italienische Künstler Pietro Ruffo betrachtet die Welt mit einem Hauch von Magie - für Institutionen, Hotels und das Luxuslabel Dior.

Sein Haar und sein Bart wirbeln wie wilde Tintenstriche um sein Gesicht herum. Aus diesem Haarwirrwarr blicken braune Augen durchdringend in den Bildschirm: «Sie müssen nach Rom kommen, um die Villa Giulia zu sehen, Renata…» Dort, in seinem Atelier, so nah und doch so fern, erzählt Pietro Ruffo mit Leidenschaft von dieser innigen Verbindung zur Geschichte, zum Ursprung der Menschheit, die ihn die Gegenwart durch ein mystisches Prisma sehen lässt.

Ausgezeichnet mit dem prestigeträchtigen Titel «Italienischer Künstler des Jahres 2024», wurde Pietro Ruffo durch seine handgezeichneten traumhaften Globen bekannt. Wie jene, die er auf der letzten Biennale in Venedig zum Thema Migrationsströme präsentierte. Sein Stil ist unverkennbar, mit seiner fast obsessiven Akribie, seiner Art, den Raum mit einer Fülle von Details zu fluten, sowohl botanischen als auch erträumten, anatomischen wie auch himmlischen.

Er schwingt seinen Bic-Kugelschreiber, mit dem er alle seine Werke signiert, mit Inbrunst. Kenner halten Ausschau nach diesen blauen krakeligen Unterschriften, die oft an überraschenden Orten zu finden sind, nicht nur an den Wänden von Galerien: auf den Silos der Baustelle der U-Bahn-Linie C in Rom, auf den Segeln, die die Arkaden des Etruskischen Museums in Rom beschatten, oder auf den Weihnachtsverpackungen des Hauses Dior, die überall auf der Welt über die Verkaufstresen wandern. Das Wort hat der Zauberer.

Die Weihnachtskampagne von Christian Dior Parfums zum Jahresende dreht sich um das Thema Zirkus. Wie sind Sie an dieses Thema herangegangen?

Der Zirkus ist eine Hommage an Bewegung, Anmut, Staunen. All das sind Dinge, die mich berühren. Meine Zeichnungen sind vor allem für Schachteln und Verpackungen gedacht. Dieses Motiv soll die Objekte in eine poetische Welt versetzen, in der Akrobaten, Jongleure und Sterne miteinander tanzen.  

Wie sieht das Originalwerk einer solchen Arbeit aus?

Ich stelle mir ein quadratisches Blatt Papier mit einer Seitenlänge von 90 Zentimetern vor. Ich bin ausgebildeter Architekt und denke daher aus einer zentralen Perspektive, um mein Motiv zu organisieren. Wie bei einem Architekturprojekt fertige ich eine Serie von etwa zehn Zeichnungen im Format 90 × 90 Zentimeter an, die ich anschliessend digitalisiere und freistelle. Eine Welt voller Magie, die hinter dem Vorhang erscheint. Die Elemente sind so angeordnet, dass das Motiv vom Zentrum aus strahlt. Da ich die Zeichnung für Dior entworfen habe, habe ich den Glücksstern gewählt.

An Hommage an die Legende, die erzählt…

… dass Monsieur Dior einen eisernen Stern auf einem Trottoir gefunden und ihn als Zeichen des Schicksals genommen hat, um das nach ihm benannte Modehaus zu eröffnen. Er achtete sehr auf die Symbole, die ihm die Welt sandte. Er interessierte sich auch enorm für Sternbilder und Tarotkarten. Ich finde mich in dieser Sensibilität wieder.

Was sind Ihre persönlichen Erinnerungen an den Zirkus?

Ich war vielleicht zwei oder drei Mal im Zirkus, meine Eltern waren keine besonderen Fans. Trotzdem erinnere ich mich an das Gefühl, als ich mit Mama und Papa im Auto ankam und dann plötzlich der Vorhang aufging und wir in eine andere Dimension eintraten, die der Wunder. Später habe ich dieselben Emotionen durch die Augen meines Sohnes wiedererlebt. Ich bin besonders empfänglich für diesen Moment, in dem der Akrobat sein Trapez loslässt. Es ist ein Moment des Wartens, der sehr intensiven Spannung, des angehaltenen Atems. Genau darum geht es: diesen Moment des Staunens zu Weihnachten wiederherzustellen.

Wie feiern Sie Weihnachten?

Als ich klein war, war der Höhepunkt – noch mehr als das Auspacken der Geschenke – natürlich die Ankunft des Weihnachtsmanns. Mit meiner Familie feierten wir Weihnachten in den Bergen, ich habe sehr lebendige Erinnerungen an dieses verschneite Dorf in den Abruzzen. Eine echte Krippenatmosphäre. Als Erwachsener ist es eine wahre Freude, zu sehen, wie die Kinder staunen.  Ich bin selbst zum Weihnachtsmann geworden, zuerst für meine Neffen, dann für meinen Sohn …

Und was gab es zu essen?

In Italien, von Rom bis zum Stiefelabsatz, isst man an Heiligabend Fisch. Aber mein Vater stammte aus Bologna und wir assen ein Fleischgericht, vor allem aber Tortellini, unglaubliche Tortellini! So klein und fein, dass sie der Legende nach aus dem Bauchnabel eines jungen Mädchens geformt wurden. 

Ce globe terrestre appartient à l’installation L’immagine del Mondo que Pietro Ruffo a présentée au pavillon de Venise, lors de la dernière Biennale, en 2024.

Um auf Ihre Zusammenarbeit mit Dior zurückzukommen: Was berührt Sie an diesem Haus?

Unsere Zusammenarbeit begann 2017 mit der Gestaltung eines Laufstegdekors zum 70-Jahr-Jubiläum des Hauses. Das war in Les Invalides in Paris, wo sich das Grab Napoleons befindet. Dieser riesige Raum wurde zu einer 3000 Quadratmeter grossen Bühne für eine mythische Reise, die Monsieur Dior 1952 in alle Ecken der Welt unternommen hatte. Ich stellte Pflanzen und Tiere aus aller Welt dar. Dann begann ich, Zeichnungen für Drucke, Stickmotive und im dritten Jahr diese Weihnachtskampagnen für Christian Dior Parfums anzufertigen. Ich komme aus einer Welt, in der Luxus keine Rolle spielte. Aber ich war von Anfang an empfänglich für die historische Dimension der Mode, für all die wunderbaren Archive. Die Interessen von Monsieur Dior decken sich weitgehend mit meinen: seine Leidenschaft für Blumen, seine Faszination für Astrologie oder Tarotkarten. 

Fliessen diese Themen auch in Ihre künstlerische Arbeit an?

Alles, was ich tue, fliesst in meine zukünftigen Arbeiten ein. Bei allen meinen Projekten gehe ich das Thema auf die gleiche Weise an. Ich vertiefe es durch Lesen. Jedes Buch explodiert wie ein Feuerwerk in meinem Kopf und lässt Hunderte von Bildern entstehen. Und meine Art, Notizen zu machen, Erlebtes und Gesehenes in Skizzen umzuwandeln. Sie werden zur Grundlage für zukünftige Zeichnungen. 

Eines Ihrer letzten Werke ist diese aussergewöhnliche Serie von Vorhängen für das Etruskische Museum in der Villa Giulia in Rom.

Die Villa Giulia ist wie ein Freilichttheater konzipiert, ein wunderbarer Ort. Ich habe dort einen Urwald dargestellt, eine Art paradiesischen Dschungel.

Und diese traumhaften Globen, die Sie berühmt gemacht haben, woher rührt diese Leidenschaft?

Alles beginnt mit Papier. Papier und Landkarten – beide werden übrigens auf Italienisch mit dem gleichen Wort bezeichnet: carta. Während meines Architekturstudiums begann jedes Projekt mit einer Landkarte des jeweiligen Baugebiets. Wir Studenten vertieften uns in die Architektur der umliegenden Gebäude, in die Morphologie des Geländes. So studierte ich immer mehr Landkarten, zunehmend dann auch historische. Was mir an ihnen gefällt, ist ihre Subjektivität. Jede erzählt eine bestimmte Geschichte.

Das heisst…

Es ist immer der Auftraggeber der Karte, der sie ausrichtet und sogar die Daten beeinflusst. Wer konnte historisch gesehen Karten herstellen lassen, deren Produktion sehr teuer war? Die Päpste zum Beispiel, einige Botschafter, Könige, Kaiser. Wenn ich also Zeichner bin und der König von Frankreich mich bittet, eine Landkarte zu zeichnen, werde ich Frankreich in die Mitte der Karte setzen und es hervorheben. Das Land wird zum Beispiel etwas grösser sein, als es in Wahrheit der Fall ist, und meine Zeichnung wird Frankreichs Einfluss in der Welt hervorheben, indem sie beispielsweise die Entdeckungen und Errungenschaften des Landes darstellt. Wenn mich hingegen der Kaiser von Japan um eine Karte bittet, wird diese Karte ganz anders aussehen. 

Sie selbst lassen Traumwelten entstehen – mit der Spitze Ihres berühmten Bic-Kugelschreibers.

Ich mag es, dass dieser Stift ein Instrument des Alltags ist. Und er sagt immer die Wahrheit. Mit Farbe kann man ein Bild Schicht für Schicht korrigieren. Mit einem Bleistift kann man radieren. Aber mit dem Bic-Stift bleibt jeder Strich erhalten – und wenn man einen Fehler retuschieren will, macht man am Ende ein Loch ins Papier. Er ist das Instrument der Aufrichtigkeit. Und auch das des Unterbewusstseins, mit dem man kritzelt, während man an etwas anderes denkt. Erinnern Sie sich an diese Festnetztelefone im Flur der Wohnung, auf einer Konsole neben einem Hocker? Dort kritzelten wir, eine Art automatisches Schreiben.

Deshalb benutzen Sie immer einen blauen Strich?

Es ist der Stift, der mir seine Farbe aufgezwungen hat, und nicht umgekehrt. Und natürlich fügt sich dieses Blau in eine künstlerische Tradition ein, von den portugiesischen Azuleos über italienische Fayence und mediterrane Ästhetik bis hin zur anderen Seite der Welt, nach China.

Des voilages recouverts de dessins au stylo Bic s’insèrent dans l’architecture de la Villa Giulia, à Rome.

Wie ist Ihr Verhältnis zu anderen Farben?

Ich beschränke mich meist auf das Zeichnen. Für das Haus Dior fertige ich Zeichnungen in Weiss und Blau an und gebe dann Farbempfehlungen. Dieses Mal wurden sie berücksichtigt, mit Arbeiten in Gold und Silber. Aber die endgültige Entscheidung liegt bei den Ateliers von Dior. Um ehrlich zu sein: Ich bin farbenblind.

Aber die Zeichnungen hinter Ihnen in den Ateliers sind in Ockertönen gehalten…

Es handelt sich um ein spezielles Papier, das man «carta da spolvero» nennt. Es ist ein gelbliches Papier, das früher für die Vorzeichnungen von Fresken verwendet wurde. Ein Fresko wird in Arbeitstage unterteilt. Der Künstler weiss, dass er beispielsweise einen Quadratmeter pro Tag schaffen kann. Der Arbeiter bereitet die Oberfläche vor und zeichnet sein Motiv mit Kohle auf diese Vorzeichnung. Anschliessend sticht er kleine Löcher hinein – diese Technik wird Sinopia genannt –, um die Konturen nachzuzeichnen. Dann bläst er Kohle hinein, um die Silhouette auf die Wand oder die Decke zu übertragen. Diese Vorzeichnungen sind ein Wunderwerk und begeistern mich sehr. Es ist, als würde ich den Geist der Renaissance weiterleben lassen.

Wie in der Renaissance arbeiten Sie in einem Atelier.

Genau! Mit fünf oder sechs Mitarbeitern arbeiten wir gemeinsam an grossen Tischen an den Projekten. Ich bin der Einzige, der Zeichnungen anfertigt, die sehr persönlich sind. Jeder hat eine andere Aufgabe: Einige schneiden aus, andere machen Marouflagen, zeichnen, scannen und vieles mehr. Das geht von 9 Uhr morgens bis 14 Uhr nachmittags. Danach geht jeder seiner eigenen künstlerischen Arbeit nach, und ich bleibe mit Sofia, der Leiterin des Ateliers, für alles, was mit neuen Projekten, Verwaltung, Terminen usw. zu tun hat. 

Sie haben in diesem Jahr auch an der Gestaltung eines Hotels in Rom mitgewirkt, das faktisch zur grössten Dauerausstellung Ihres Werks geworden ist.

Das erinnert auch an den Geist der Renaissance! Damals arbeiteten Architekten und Künstler viel zusammen. Und ich muss sagen, dass das «art’otel» an der Piazza Sallutio ein sehr schönes Projekt war, weil wir sehr eng und konsequent zusammenarbeiteten. Die künstlerischen Kreationen sind nicht nur Bilder, die an der Wand hängen, sondern sie sind eng in das architektonische und hoteleigene Konzept integriert. Es geht darum, den Besuchern Instrumente an die Hand zu geben, um Rom aus verschiedenen Perspektiven zu sehen. Die Stadt profitiert von vielfältigen architektonischen, aber auch geologischen Schichten. Und ihre Beziehung zu den Sternen hat ihr Schicksal in der Antike stark beeinflusst. So habe ich dieses Gebiet in verschiedenen Phasen dargestellt, darunter auch als von tropischem Regenwald überwuchert, mit dieser üppigen Natur, einer Kraft, die sich jeder Kontrolle entzieht. Das ist weit entfernt von den gepflegten Gärten des Jardin du Luxembourg in Paris zum Beispiel.

Sie haben eine sehr starke Beziehung zu Rom. Haben Sie immer dort gelebt?

Ja, diese Stadt begeistert mich seit 46 Jahren. Sie ist eine Mutter, eine Geliebte. Aber nach und nach verwandelt sie sich auch in einen Sohn, eine Tochter. Denn jeder Römer ist sich bewusst, dass er ihr gegenüber eine Verantwortung hat. Es handelt sich zwar um eine historische Stadt, ein Freilichtmuseum, aber auch um eine Stadt, die lebt. Und wir als Künstler, Architekten, Politiker und Bürger haben die Aufgabe, sie zu schützen und ihr Wachstum bestmöglich zu fördern.

Wie sieht Ihr idealer Tag in Rom aus?

Ich liebe es, mich dort zu verlaufen. Ich kenne die Stadt – ich bin Architekt und habe Architektur unterrichtet –, aber sie überrascht mich immer wieder an jeder Strassenecke. Im Gegensatz zu einer Stadt wie Paris, die so schön, so imperial und so homogen ist, trifft in Rom das Schöne auf das Hässliche. Das erzeugt eine Art Energie, eine Spannung zwischen dem Erhabenen und dem Abstossenden, die jede Sekunde spürbar ist. Diese elektrische Spannung ist der Grund, warum ich diesen Beruf ausübe. 

Une welches Projekt begeistert Sie derzeit besonders?

Meine Einzelausstellung in Paris, die Ende November in der Galerie Pron beginnt. Ich mag Paris sehr und kenne die Stadt gut: Ich besuchte eine französische Schule. Mein Grossvater war Maler und lebte dort. Daher betrachte ich Paris mit dem gleichen Blickwinkel der Schichtung, mit dem ich auch Rom betrachtet habe.