Im Stickerei-Unternehmen Forster Rohner AG entstehen seit über einem Jahrhundert begehrliche Stoffe für die Haute Couture.
Ihn hätte man hier nicht unbedingt erwartet. Von der Rückseite einer ratternden Nähmaschine schmachtet ein blutjunger Eros Ramazzotti die Betrachtenden als Aufkleber an. Im Laufe der Jahre ist sein Antlitz verblichen. Schliesslich sitzt Nachstickerin Enrica di Rienzo schon seit 40 Jahren an jener grauen, mit Bildchen übersäten Maschine, an der sie die Zukunft kreiert – Stoffe, in denen die Models später in Paris, Mailand und New York über die Laufstege schweben werden. Textile Träume für die Haute Couture und für ausgefallene Prêt-à-porter.
Einer von ihnen hängt jetzt in den Läden von Bottega Veneta. Jenem gehypten italienischen Modehaus, auf dessen neuen Creative Director Matthieu Blazy derzeit alle ihre Augen richten. An den Schauen für Herbst/Winter zeigte das It-Label Kleider aus transparenten Lagen – darauf artifiziell glänzende, geschwungene Linien und runde, wie ausgestanzt wirkende Cut-outs. Bei der Technik des Hypertube wird Flüssigsilikon durch die Düse eines modifizierten Flachbettplotters auf feine Baumwolle appliziert. Ganze zwei Tage muss das Material trocknen und aushärten, bevor es weiterverarbeitet werden kann. Damit das Silikon später nicht an der Haut modehungriger Bottega-Jünger klebt, wird der Stoff auf der Rückseite von Hand mit einer transparenten Folie überzogen.
Textilien, die zu Haute-Couture-Kreationen verarbeitet werden, stammen oftmals tatsächlich aus der beschaulichen Ostschweiz. Hier blickt man von den grosszügig verglasten Büros über die Stadt, beobachtet, wie der Frühling in den Sommer übergeht, der Herbst in den Winter.
Bei Forster Rohner ist alles ein ständiger Kreislauf, nicht nur die Jahreszeiten. Gegenwart und Avantgarde geben sich Nadel und Faden in die Hand. So türmen sich im Herzen des Unternehmens, das 1904 von Conrad Forster-Willi gegründet worden ist, dicke, in Leder gebundene Bücher, die eine halbe Million Designs umfassen. Dior, Schiaparelli, Balenciaga, Chanel – in der «Bibliothek» ist das künstlerische Erbe von nahezu 120 Jahren sorgfältig dokumentiert: Auf zwei Seiten sind je eine Stoffprobe und ein Bild jenes Looks eingeklebt, zu dem man den Stoff geliefert hat.
«Damals hat man nicht während der Show Bilder gemacht, sondern danach. Man ist mit den Kleidern ins Studio gefahren und hat die neuen Entwürfe am Model drapiert. Es ist dokumentiert, wie man die Frau sah», sagt Emanuel Forster, Co-Chef des Familienunternehmens, während er mit dem Finger über Guipure und Superposé, eine aufwendige, freistehende Stickerei, fährt. Ab 1973 hat man dafür sogar mit dem damals noch nicht zu Ruhm gelangten Fotografen Helmut Newton zusammengearbeitet.
Das Archiv dient als Inspiration
In einem anderen Ordner: Celebritys in St. Galler Stickerei. Da ist ein Fetzen von Pippa Middletons Hochzeitskleid abgelegt, ein Bild von Michelle Obama bei der Vereidigung ihres Mannes und eins von Schriftstellerin Amanda Gorman auf dem «Vogue»-Cover. Die heiligen Hallen atmen Zeitgeist – und dienen nicht nur dem eigenen Designteam als Inspiration für neue Ideen: Um sich von der Vergangenheit stimulieren zu lassen, stöbern die grossen Traditionshäuser heute gerne im Archiv, in dessen Zentrum ein
Modell der ältesten Stickmaschinen der Welt bestaunt werden kann. In der Stickhalle nebenan steht die modernste.
Spulen mit unterschiedlichen Farben und Fäden für die Nähmaschinen.
Einzelne Pailletten werden zu einem Faden verbunden.
Hier ist es ohrenbetäubend laut. Man versteht Emanuel Forster kaum. Er steht zwischen riesigen, hektisch rotierenden Maschinen: Laser, die Chanel-Kamelien ausschneiden, Drucker, die winzige Pailletten prägen. In den Regalen stapeln sich bunte Folien wie ein Regenbogen bis unter die Decke, auf einem Tisch liegen Silikonmuster, die man von den futurischen Entwürfen einer Iris van Herpen kennt.
«Alles, was schnell in Paris sein muss, machen wir hier: Runway-Kreationen, VIP-Anfertigungen, einfach alles, was super dringend ist», erklärt Forster. «Die industrielle Produktion sitzt im Ausland. Bei uns geht es mehr wie in einer Werkstatt zu – wenn man einen Hammer braucht, nimmt man einen Hammer. Wenn man eine Säge braucht, nimmt man eine Säge.» Nachgebessert wird in der Finissage von Menschenhand. Wie von Enrica di Rienzo an ihrer alten Nähmaschine.
In St. Gallen sitzt das Kreativzentrum des Unternehmens: um Ideen zu generieren, aber auch, um die Tradition und das Handwerk zu bewahren. Man macht technische Versuche, es wird viel ausprobiert. Innovation lautet das Zauberwort. Produziert werden in der Ostschweiz noch Prototypen und höchst exklusive Kleinstserien. Die grosse Serienproduktion geschieht in den eigenen Fabriken in China, Bosnien und Rumänien. Als Dienstleister für Modehersteller habe Forster Rohner diesen auf dem Pfad der Globalisierung folgen müssen: «Dort produzieren, wo die Kunden sind», erklärt Forster. Immerhin: Von den weltweit rund 800 Mitarbeitenden der Unternehmensgruppe arbeiten 200 in St. Gallen.
Die Stickmaschine 1,5 Yard wird für Musteraufträge verwendet.
Ein fertiger Paillettenstoff hängt als Muster im Atelier.
Das dortige Kreativlabor ist in verschiedene Divisions unterteilt, die als selbstständige Töchter der Forster Group eine relativ hohe Unabhängigkeit geniessen, etwa die Inter-Spitzen AG, die die traditionellen St. Galler Stickereien immer wieder zeitgemäss neu interpretiert.
Ihre Stoffe kommen hauptsächlich bei Lingerie-Labels wie Victoria’s Secret zum Einsatz, wo Emanuel Forster übrigens vor über 20 Jahren ein Praktikum absolvierte. Zudem hat Forster Rohner das Traditionsunternehmen Jakob Schlaepfer übernommen, das für besonders experimentelle Designs steht – und auch für die aktuellen Entwürfe von Bottega Veneta verantwortlich zeichnet.
Wie so oft fand das italienische Luxushaus die Inspiration im Archiv, das Design kam ebenfalls aus Mailand. Für den Auftrag haben die Experten von Forster Rohner, die aus aller Welt stammen, zwischen bunt-glitzernden Moodboards die Köpfe mit dem Team von Bottega Veneta zusammengesteckt: Über ein halbes Jahr lang wurde mit dem Kunden am finalen Effekt getüftelt. Emanuel Forster schaut aus dem Fenster seines Büros ins satte Grün vor der Stadt und sinniert: «Es ist immer eine Suche. Nach Neuem, mit Altem.»
Bottega Veneta
Für Kleider der aktuellen Herbst/Winterkollektion des italienischen Modehauses wurden in St. Gallen komplett neue Stoffe designt. Die geschwungenen Linien wurden mittels Silikon erzeugt. Es hat sechs Monate gedauert, den Stoff zu entwickeln.
Emanuel Forster
Schon als Kind kam der heute 49-jährige Familienvater gern in die Stickerei, durfte dort spielen. Nach seinem BWL-Master, den er in St. Gallen und China absolvierte, führt er die Forster Rohner AG heute in vierter Generation.