
Er ist ständig auf dem Sprung: Der Lifestyle-Unternehmer Tyler Brûlé zelebriert die kulturelle Bedeutung von Reisen und menschlichen Begegnungen.
Es fällt schwer, sich zwischen dem japanischen Cheesecake und den Zimtschnecken aus dem Feinkostladen Ten Belles zu entscheiden. Das neue Café von «Monocle» hat gerade in der Rue Bachaumont in Paris eröffnet, direkt hinter den Halles. Als Hausherr überprüft der Journalist und Unternehmer Tyler Brûlé die Liste der zwölf Kaffeesorten auf der Karte. Die Einrichtung entspricht dem typischen schlichten Mobiliar aus hellem Holz, in einem Bereich stehen sorgfältig ausgewählte Objekte (wer möchte diese Reisepantoffeln? Diese Rollkoffer?), in einem Regal wird eine grosse Auswahl an Magazinen präsentiert. Go big!
Der ehemalige kanadische Kriegsreporter ist seit 2002 in der Schweiz ansässig. Damals korrigierte er von der Limmatstadt aus das Image der nationalen Fluggesellschaft. Doch sein Stil strahlt weit über das Zürcher Viertel Seefeld hinaus, wo er seine weltweite Basis errichtet hat. Sein Reich: ein verführerischer Kosmopolitismus, der die Menschen in Paris wie auch in Tokio anspricht. Sein Magazin «Monocle» (gegründet 2007) und der gleichnamige Radiosender befassen sich mit Design und Kunst, Business und Reisen. In drei Cafés mit schlichtem Chic und ausgewählten Leckereien kann man in den Seiten der Stilbibel blättern, während acht Boutiquen weltweit Kleidung und Accessoires anbieten, alles handwerklich gefertigt.
Dieses Universum aus dickem Papier und edlen Materialien ist der Gegenpol zu einer sich digitalisierenden Verlagswelt. «Monocle glaubt an die Kraft der anstossenden Gläser», heisst es in der Vorstellung der Gruppe. Brûlé geht es darum, eine internationale Gemeinschaft von rund 168’000 Stadtbewohnern auf fünf Kontinenten zusammenzubringen. Geeint durch den gleichen Anspruch an Schönheit, Qualität und besondere Momente. Auf den Tischen des Pariser Cafés lädt ein Schild dazu ein, den Laptop auszuschalten: «Danke, dass Sie uns helfen, diesen Ort zu einem echten Café zu machen.»
Mit 57 Jahren, mit sorgfältig gestutztem Bart und leicht ergrauten Schläfen, verkörpert der Mann genau das Bild, das seine Gruppe pflegt: elegant und solide zugleich. Mit festem Händedruck und direkter Art betrachtet er die Welt als ein grosses Erkundungsterrain.
Sind die Cafés die Erweiterung des Universums der „Monocle“-Magazine?
Sie sind natürlich eine Geschäftserweiterung, aber sie repräsentieren weit mehr als das. Wir haben das erste Café in London vor etwa 15 Jahren eröffnet. Eher zufällig, weil es in der Nähe unserer Büros kein nettes und günstiges Lokal gab. Dieser Café-Raum wurde praktisch zu einer Art Pilgerstätte, und wir stellten fest, dass unsere Leser aus der ganzen Welt eine starke Bindung zur Marke haben. Plötzlich hatten wir eine echte und wertvolle Plattform für den Dialog mit unserem Publikum. Alle Medien führen Marktstudien durch, um ihre Zielgruppe zu verstehen. Wir hingegen haben dieses tägliche Labor, um Menschen direkt zu treffen. Jeden Tag müssen die Mitarbeiter eine Erzählung darüber abliefern, was im Café passiert ist. Es gibt keine Kästchen zum Ankreuzen! Sie berichten, was den Leuten gefallen hat und worüber sie sprechen möchten. Viele Ideen kommen auf diese Weise an die Oberfläche.

Die Accesoire-Shops folgten bald, verbunden mit einem sehr kosmopolitischen Konzept.
Tatsächlich nahm ein japanisches Unternehmen Kontakt mit uns auf, um eine «Monocle»-Ecke in einem Kaufhaus in Tokio einzurichten. Dann ging alles Schlag auf Schlag: Los Angeles, Hongkong, Singapur … Die Motivation ist immer dieselbe: einen physischen Ort zu bieten, an dem unsere Leser unsere Titel kaufen und an einer bestimmten Weltsicht teilhaben können.
Das ganze „Monocle“-Universum ist also praktisch ein antidigitales Manifest.
Sagen wir es so: Wir fördern Gespräche und das Lesen auf Papier. Wir bieten ein breites Spektrum internationaler Titel an – «Le Monde», «Der Spiegel», der «Tages-Anzeiger» – und nicht nur «Monocle»-Produkte. Ich bin fest davon überzeugt, dass die gesamte Medienbranche Unterstützung braucht. Nur in einem starken Sektor kann man vorankommen. Und es ist lustig: Unser Werbeumsatz in der Schweiz ist um ein Drittel gestiegen, nachdem wir 2018 das Café in Zürich eröffnet haben. Es ist, als hätten die Werbetreibenden, von denen viele in der Schweiz ansässig sind, plötzlich den Markengeist besser verstanden. Aber wir wollen uns nichts vormachen: Ein Café mit einem Laden zu betreiben, macht auch einfach wahnsinnig viel Spass. Die nächsten Cafés werden wahrscheinlich in Genf, Mailand, München, Madrid eröffnen – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Warum Paris erst jetzt?
Lange dachten wir, dass der Einfluss Londons für Europa ausreicht, im globalen Sinne. Aber Paris hat in den letzten Jahren wirklich an Dynamik gewonnen, und wir müssen dort präsent sein, wo unsere Partner aktiv sind. Irgendwie überstrahlt Paris als Hauptstadt des Luxus und des Geschmacks den etwas schwindenden Stern Londons. Die Olympischen Spiele haben dazu beigetragen, aber nicht nur sie. Man spürt eine internationalere Energie, mit grossen französischen Marken, die sich bis nach Mexiko und Australien ausbreiten. Gleichzeitig trifft man plötzlich junge Dänen oder Schweden, die in Pariser Bars arbeiten, parallel zu ihrem Studium. Die grossen französischen Marken ziehen heute Talente von über-all an. Sie wollen dort sein, wo sich etwas bewegt.
Das internationale Karussell ist wieder in vollem Gange. Dabei haben alle während der Pandemie prophezeit, dass die Menschen anschliessend weniger reisen werden.
Ich habe nie an einen solchen Stillstand geglaubt, genauso wenig wie an Homeoffice oder Fernunterricht. Wir sind Menschen, wir brauchen den persönlichen Kontakt. Ich glaube instinktiv an die kreative Kraft von Menschen, die sich treffen, sich in einem Umfeld, das die Erfahrung mit Gerüchen, Texturen und Empfindungen bereichert, die Hand reichen. Reisen nährt und inspiriert.
Aber viele Ziele leiden unter Overtourism.
Vielleicht sind einige Orte zu stark frequentiert, aber ich denke, dass dies nur vorübergehend ist. Ich neige dazu, zu sagen, dass man sich beruhigen sollte, denn die Ströme werden sich von selbst regulieren. Die Touristen werden einfach weiterziehen, um andere Orte zu entdecken. Ist es nicht viel gefährlicher – wirtschaftlich und kulturell –, wenn Menschen aufhören, zu reisen und sich zu treffen?
Welche jüngsten Entwicklungen im Tourismum finden Sie interessant?
Ich denke stets in Bezug auf Möglichkeiten. Und ich finde, dass man dringend Nachtzüge wieder einführen sollte. Nehmen Sie die SBB, die heute davon sprechen, Zürich und London in sechseinhalb Stunden zu verbinden. Aber das ist das Äquivalent eines ganzen Arbeitstages – mit unsicherem WLAN und nicht wirklich viel Komfort. Das ergibt keinen Sinn! Allerdings würde ich es lieben, ein gutes Abendessen im Hauptbahnhof zu geniessen und um Mitternacht einzusteigen, um eine erholsame Nacht im Zug zu verbringen und am nächsten Morgen frisch und munter im Zentrum von London anzukommen. Dorthin sollten sich die Reisendenströme bewegen. Die europäischen Unternehmen könnten sich ein Beispiel an Japan nehmen, wo Zugreisen wirklich eine andere Dimension erreichen in Bezug auf Geschwindigkeit, Sauberkeit und Komfort.
Weitere Beispiele?
Ich finde das Phänomen Volotea spannend: Die spanische Fluggesellschaft, die auch von griechischen Investitionen profitiert, verbindet heute mehrere Städte, ohne über Barcelona zu fliegen. Diese Idee, sekundäre Städte miteinander zu verbinden, ist fantastisch, weil sie neue kulturelle und touristische Möglichkeiten eröffnet. Ja, Sie könnten sagen, dass diese Orte zu neuen günstigen Partyzielen werden – aber nicht nur das. Junge Unternehmer haben plötzlich Zugang zu einem unerwarteten Netzwerk.
Eine Destination, die Sie kürzlich beeindruckt hat?
Ich liebe es, zu beobachten, wie sich Städte neu erfinden. Nehmen Sie Bangkok, schon immer ein unglaublicher Ort mit einem Ruf für Gastfreundschaft und gute, preiswerte Restaurants. Aber es ist so viel mehr als das! Bangkok entwickelt sich zum Paris Südostasiens mit unglaublicher Kreativität und Raffinesse. Suchen Sie einen Stylisten? Einen Fotografen? Einen Designer? Sie finden eine Fülle an talentierten Menschen, die experimentieren und sich etwas trauen. Die neue Szene dort ermutigt zur Innovation. Dazu gehören auch japanische Köche, die Techniken ausprobieren, die sie in Japan vielleicht nicht gewagt hätten.

Ein Reiseziel, das angesagter ist denn je und das Sie sehr gut kennen…
Ich reise seit 35 Jahren nach Japan und mag die Art und Weise, wie sich das Land öffnet. Reisende erkennen heute, dass man dort mehr erleben kann als nur blühende Kirschbäume zu betrachten. Das Reiseziel ist das ganze Jahr über und dank einer hochleistungsfähigen Infrastruktur auch ausserhalb der Städte attraktiv. Aber wir Westler müssen auf eines achten: unsere Standards nicht überall durchzusetzen. Ich liebe Japan als Japan.
Welches Geheimnis gibt es, damit jede Region ihre Authentizität bewahrt?
Das ist die Herausforderung für jeden Reisenden: weniger urteilen, unsere Werte weniger aufzwingen und versuchen, die jeweilige Kultur besser zu verstehen. Es erschüttert mich, wenn ein japanisches Restaurant kritisiert wird, weil es nicht vegan ist oder nicht inklusiv, weil es den Gästen empfiehlt, kein Parfum zu tragen. Japan ist nun einmal kein Parfumland. In einem Restaurant dort zählt die Subtilität der Küchendüfte, zum Beispiel die fehlende Geruchsbelästigung durch ganz frischen Fisch. Man kann nachvollziehen, dass ein Koch diese Kultur bewahrt und seine Gäste bittet, nicht in einer Duftwolke aus Oud oder Patchouli zu erscheinen. Es geht nicht darum, «gegen» einen bestimmten olfaktorischen Geschmack zu sein, sondern «für» die Authentizität eines Ortes. Vielleicht ist eine authentische Reise nicht unbedingt bequem …
Welcher Ort vermittelt für Sie besonders gut eine Mischung aus Authentizität und Kosmopolitismus?
Ich denke da an das Museum für moderne Kunst Louisiana im Norden von Kopenhagen. Die Sammlung ist exquisit, und man fühlt dort wirklich, dass man sich in Dänemark befindet. Man merkt es an der Landschaft, der Nähe zur Stadt und auch in der Architektur. Oder das Hotel «Sanders», das sich mitten in Kopenhagen befindet: Es ist wunderschön und sehr lokal geprägt, mit einer echten Verbindung zur Strasse. Ich frage mich manchmal, ob ich nicht gerne ein solches Hotel leiten würde …

Hat die Schweiz es geschafft, sich ihre Authentizität zu bewahren?
Aufgrund ihrer hohen Preise zieht die Schweiz vor allem eine sehr wohlhabende Kundschaft an. Das zeigt sich an der Vielzahl von sehr luxuriösen Hotels, die sich alle ähneln und oft entwurzelt wirken, als würden sie hier nicht hinpassen. Ich bedaure die zunehmende Seltenheit des klassischen kleinen Schweizer Garnis, das seinen Gästen gute Betten, etwas raue Baumwolltücher, ein Fenster, das sich öffnen lässt, eine Dusche mit dem richtigen Druck und vielleicht einen kleinen Balkon bietet. Diese ehrliche Schweizer Qualität zu einem vernünftigen Preis, zwei oder drei Sterne, verschwindet allmählich. Nun, diese Entwicklung ist leider ein weltweites Phänomen. Wenn nur die grossen Hotels wenigstens Schweizer Designer und Architekten beauftragen würden, anstatt internationale Grössen zu importieren … Zumindest in der Schweiz sollte es genug Geld geben, um klügere Entscheidungen zu treffen.
Sie reisen mindestens 200 Tage pro Jahr. Kommt es vor, dass Sie in anderen Städten auch Ferien machen?
Oh nein! Im Sommer, wenn das Geschäft abflaut, bleibe ich in der Schweiz. Ich lebe in Zürich und habe ein Apartment in
St. Moritz. Beide Orte sind wunderschön, ich liebe es, dort meine Zeit zu verbringen.
