Bauten aus rohem Beton sind heute echte Pilgerstätten. Ein Hoch auf den Brutalismus!

1. La Jolla (USA)

Inklusive Blick auf das Meer

Der Ort Das Salk Institute in La Jolla, einer noblen Vorstadt von San Diego, beeindruckt mit einem atemberaubenden Blick auf den Pazifik. Von der Strassenseite aus unscheinbar, fasziniert es zur Meerseite hin mit rohen Betonsäulen, einem Travertin-Innenhof mit Wasserlauf und eindrucksvollen Vordächern. Fast königlich anmutend, beherbergt das Gebäude ein Meeresbiologieforschungsinstitut, das nach Jonas Salk, dem Erfinder des Polio-Impfstoffs, benannt ist. Salk selbst arbeitete 1963 gemeinsam mit dem estnischstämmigen Architekten Louis Kahn an dessen Entwurf.

Nicht verpassen Das Gebäude allein ist den Besuch wert, aber es gibt noch mehr in der Umgebung zu entdecken. Der Norden San Diegos beherbergt einige der berühmtesten brutalistischen Bauten der USA. Besonders hervorzuheben ist die Geisel Library der University of California, deren Form an die endemische Lambert-Zypresse erinnert. Die ersten beiden Etagen der Bibliothek sind öffentlich zugänglich.

Salk Institute, www.salk.edu/de

2. Lyon (Frankreich)

Verstecken spielen

Der Ort Das Lugdunum-Museum versteckt sich auf dem Fourvière-Hügel, der die Stadt Lyon überblickt. Architekt Bernard Zehrfuss, einer der führenden Figuren der französischen modernistischen Bewegung, hat es geschafft, seine Struktur aus rohem Beton zurückhaltend in die Umgebung einzufügen. Das 1975 erbaute Museum verschmilzt geradezu mit der Landschaft dieser archäologischen Stätte, wo das römische Amphitheater und das Odeon in voller Pracht erhalten geblieben sind. Eine spiralförmige Rampe verbindet die Räume miteinander.

Nicht verpassen Etwa eine Stunde südwestlich von Lyon gelegen, stehen in Firminy-vert mehrere Gebäude, die von Le Corbusier entworfen wurden, darunter ein Kulturhaus, ein Stadion und eine Kirche mit ikonischem Dach, die zwischen 1965 und 1970 erbaut wurden. Das Schwimmbad und die Wohneinheit – die unweigerlich an die in Marseille erinnert – wurden von André Wogenscky, einem Schüler des berühmten Architekten aus La Chaux-de-Fonds, errichtet.

Lugdunum-Musée et Théâtres Romains, www.lugdunum.grandlyon.com

3. La Chaux-de-Fonds (Schweiz)

Uhrentempel

Der Ort La Chaux-de-Fonds, die Welthauptstadt der Uhrmacherei, beherbergt im Museumspark das MIH, das renommierte Internationale Uhrenmuseum. Dieses brutalistische Gebäude, vom Neuenburger Architekten Georges-Jacques Haefeli als eine Art Höhlenraum gestaltet, beherbergt die grösste Uhrensammlung der Welt. Es ist ein beeindruckender Bau: An der Oberfläche gleiten zwei Wellen aus rohem Beton über den Rasen, während eine dritte die Besucher ins Innere zieht. Wie bei diesem Architekturstil üblich, harmoniert die rohe Materialität perfekt mit der umgebenden Natur.

Nicht verpassen La Chaux-de-Fonds ist auch die Geburtsstadt von Le Corbusier und seit 2009 UNESCO-Weltkulturerbe. Im Jahr 1912, als er noch Charles-Edouard Jeanneret heisst, entwirft er eine Villa für seine Eltern, das berühmte Maison Blanche. Vier Jahre später, nach einer Reise in den Orient, gestaltet er die Villa Turque. Das ganze Jahr über werden verschiedene Führungen angeboten.

Musée international de l’horlogerie, www.mih.ch

4. Hérémence (Schweiz)

Glaubensbunker

Der Ort Sie sieht aus wie eine gigantische postmoderne Skulptur, eingebettet in die dunklen Holzhäuser des Dorfes Hérémence: Die Kirche Saint-Nicolas zieht zweifellos alle Blicke auf sich. Erbaut wie ein Felsen vom Architekten und Künstler Walter Maria Förderer, einem der radikalsten Vertreter dieser Architekturbewegung, verbirgt sie einen überraschend hellen und luftigen Innenraum – der Spiritualität zuliebe. Das Bauwerk wurde 1968 mit dem gleichen Beton errichtet, der kurz zuvor für den Bau der Grande-Dixence-Staumauer verwendet wurde. Die Westschweizer Presse war damals nicht gerade wohlwollend gegenüber diesem Pfarrzentrum.

Nicht verpassen Nur ein kurzer Spaziergang führt zum anderen Betonriesen von Hérémence, der Grande-Dixence. Die höchste Staumauer der Welt misst 285 Meter in der Höhe und 748 Meter in der Länge. Es gibt Licht- und Ton-Führungen durch das Innere, und Adrenalinliebhaber können die kolossale Struktur sogar auf einer Seilrutsche erleben.

Kirche Saint-Nicolas, www.heremence-tourisme.ch

5.Flaine (Frankreich)

Bauhaus am Berg

Der Ort Futuristisch? Dystopisch? Ein bisschen von allem. Die Bergstation Flaine, weniger als eineinhalb Stunden von Genf entfernt, ist ein brutalistischer Hotspot, entworfen vom ungarisch-amerikanischen Architekten Marcel Breuer. Als Mitglied der Bauhaus-Bewegung skizzierte er unter anderem das Whitney Museum in New York oder das UNESCO-Haupt-quartier in Paris. In den Wirtschaftswunderjahrenkonzipierte Breuer diese avantgardistische Stadt mit unterirdischen Galerien, autofrei im Zentrum und mit Kunst als zentralem Element. Ein Wahrzeichen dieser Utopie ist das Gebäude Bételgeuse, dessen Sockel aus der Felswand hervorzuragen scheint und Besucher auf der kurvenreichen Strasse empfängt.

Nicht verpassen Fans von Marcel Breuers Architektur werden erfreut sein, dass sich viele seiner Werke in der Schweiz befinden. Dazu zählen das Klosterheim Baldegg, das Wohnbedarf-Geschäft in Zürich und die Villa Koerfer bei Ascona im Tessin. Sie verkörpern eindrücklich Breuers innovative Designs.

Bergstation Flaine, www.flaine.com

6.Paris (Frankreich)

Voller Kunst

Der Ort Eine kleine brutalistische Stadt im 7. Arrondissement von Paris. Hier befindet sich der Hauptsitz der UNESCO, der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Das Hauptgebäude, bestehend aus sieben Etagen, bildet eine Art dreiarmigen Stern und empfängt die Besucher mit einem monumentalen Betondach. In den umliegenden Gärten und in den weiten Gängen stehen und hängen zahlreiche Kunstwerke. Hier ein Giacometti, dort ein Calder, da ein Picasso … Das Gebäude ist das gemeinsame Werk der Architekten Bernard Zehrfuss, Marcel Breuer und Pier Luigi Nervi.

Nicht verpassen Wenn man bereits in Paris ist, lohnt es sich, einen Ausflug  zu den bedeutendsten brutalistischen Schönheiten des Grossraums zu unternehmen. Besonders zu erwähnen sind das Viaduc de Montigny (bekannt als das «Versailles des Volkes»), der Sitz der Kommunistischen Partei Frankreichs, entworfen von Oscar Niemeyer, das Centre National de la Danse in Pantin und das Haus von Brasilien, 1958 von Le Corbusier realisiert. 

UNESCO-Hauptsitz, www.unesco.org/en/visit-us

7.Prag (Tschechien)

Spionageturm

Der Ort Man nennt es im Englischen einen «Landmark», ähnlich wie die Karlsbrücke. Der Fernsehturm von Žižkov mit seinen 216 Metern Höhe ist ein perfekter Orientierungspunkt in der Stadt Prag. Zwischen 1985 und 1992 erbaut, besteht er zwar nicht aus Beton, doch sein radikales und funktionales Erscheinungsbild macht ihn zu einem würdigen Vertreter des Brutalismus. Ursprünglich wurde er vom kommunistischen Regime errichtet, um die Bevölkerung zu überwachen und Radiosignale zu stören. Was einst als lästiges Überbleibsel galt, ist mittlerweile der heimliche Stolz der Stadt, besonders seitdem die Riesenbabys des Künstlers David Černý an ihm emporzuklettern scheinen.

Nicht verpassen Der Zugang zum Café-Restaurant im ersten Stockwerk (in 66 Metern Höhe) ist kostenlos, und man kann weiter bis zu den Aussichtsplattformen auf 93 Metern hinaufsteigen. Schwindelfreien empfehlen wir, das Zimmer im «One Room Hotel» zu mieten, das eine atemberaubende Aussicht über die Dächer Prags bietet.

Fernsehturm von Žižkov, www.towerpark.cz

8.London (England)

Ein Labyrinth

Der Ort Der Barbican-Komplex im Norden Londons ist ein weitläufiges Ensemble von Gebäuden, das Wohnungen, ein Theater, Ausstellungsräume, eine Bibliothek, eine Kunst- und Musikschule und  grosszügige Fussgängerzonen umfasst, die es ermöglichen, sich bequem von einem Ende des Geländes zum anderen zu bewegen. Nun gut, einige Kritiker unken auch, dass die Strassen so angelegt sind, dass man gar nicht anders kann, als sich in ihnen zu verirren … Das ursprüngliche Gelände, das durch den Blitzkrieg während des Zweiten Weltkriegs verwüstet worden war, wurde vollständig von einem Trio britischer Architekten – Peter Chamberlin, Christoph Bon und Geoffry Powell – gestaltet, die stark von Le Corbusier beeinflusst wurden. Besonders fotogen ist der zentrale Innenhof mit seinen Erholungsbereichen und üppigen Wasseranlagen, wo man herrlich entspannen kann.

Nicht verpassen Der spektakuläre Wintergarten  ist der zweitgrösste in London und kann kostenlos besichtigt werden.

Barbican-Komplex, www.barbican.org.uk

9.Chandigarh (India)

Die Traumstadt

Der Ort Le Corbusier hat seine Genialität und seine Ideen weltweit verbreitet, aber nirgendwo sonst hatte er so viel Freiheit und geografischen Raum, um sein Konzept in einem so grossen Massstab zu entwickeln, wie in Chandigarh. Unterstützt von seinem Cousin Pierre Jeanneret sowie den Architekten Jane Drew und Maxwell Fry, entwarf er auf Wunsch von Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister Indiens nach der Teilung im Jahr 1947, die Stadt Chandigarh. Im Epizentrum befindet sich das Kapitol mit den kolossalen Gebäuden des Obersten Gerichtshofs, der Legislativversammlung und des Sekretariats des Staates Punjab. Seit der Aufnahme in das Weltkulturerbe im Jahr 2016 wurde das gesamte Gelände einer willkommenen Auffrischung unterzogen, und Besichtigungen sind möglich.

Nicht verpassen Während das Kapitol den «Kopf» der von Le Corbusier erdachten Stadt bildet, hat der Architekt auch viele andere öffentliche Gebäude sowie Wohnblöcke skizziert, die weitgehend im Originalzustand erhalten geblieben sind. 

Chandigarh, www.lecorbusier-worldheritage.org/en

10.Lissabon (Portugal)

Garten Eden

Der Ort Die Lisboeten kommen in erster Linie hierher, um den weitläufigen Park zu geniessen. Doch im Herzen des Gartens der Calouste-Gulbenkian-Stiftung erhebt sich ein gigantisches Juwel aus rohem Beton, mit klaren Linien und Vordächern, die bewegliche Schatten über die Fassaden werfen. Im Inneren beherbergt das Museum eine der bedeutendsten privaten Kunstsammlungen der Welt, die von der Antike bis hin zu den grössten modernen Künstlern reicht. Die Sammlung wurde auf Wunsch von Calouste Gulbenkian gegründet, einem armenischen Geschäftsmann und leidenschaftlichen Kunstliebhaber.

Nicht verpassen Dieser bedeutende Mann führte ein abenteuerliches Leben. Er wurde durch Ölquellen zum Multimilliardär, erlebte den Untergang des Osmanischen Reiches und die Neuordnung des gesamten Nahen Ostens. Sein Schaffen wird  – teils romanhaft – in den Büchern «Der Mann von Konstantinopel» und «Ein Millionär in Lissabon» von Jose Rodrigues dos Santos erzählt.

Gulbenkian-Sammlung, www.gulbenkian.pt

Vom hässlichen Entlein…

Die Schönheitsideale ändern sich im Laufe der Zeit, wie ein Blick auf Gemälde der Renaissance zeigt. Dasselbe gilt für die Architektur, insbesondere den Brutalismus. Dieser Stil, geprägt durch den rohen Charakter des Betons und das Fehlen überflüssiger Verzierungen, wurde lange missverstanden. Ein Beispiel: 2008 wurde das Rathaus von Boston als das hässlichste Gebäude der Welt eingestuft. Auch die Kirche Saint-Nicolas d’Hérémence stiess bei ihrer Errichtung auf wenig Begeisterung.  Man muss jedoch zugeben, dass brutalistische Bauten oft keine Kompromisse eingehen, sie sind häufig monumental.

Lange Zeit wurden diese hauptsächlich in den 1950er- bis 1970er- Jahren errichteten Gebäude von den Behörden vernachlässigt. Erst seit Kurzen haben Erhaltungsorganisationen zum Schutz der Bauten aufgerufen, seit Teile von Le Corbusiers Werk in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen  wurden. Zuvor unbeachtete Bauten wie der eindrucksvolle Velasca-Turm in Mailand rücken nun ins Rampenlicht. Kürzlich wählte die Modemarke Bally das Gotham-artige Bauwerk aus, um dort ihre neuste Kollektion zu präsentieren. Beton, der neue alte Trendstoff.