Hier war die Weltliteratur zu Hause: Orte, an denen Werke entstanden, die uns für immer Begeistern werden.

1. Goethe

Originalgetreu wieder aufgebaut

Das Haus  Im Zentrum von Frankfurt am Main stehen zwei grosse, miteinander verbundene Fachwerkhäuser, in denen einst die Familie Goethe wohnte. Johann Wolfgang wurde hier als Teil der dritten Generation im Jahr 1749 geboren – allerdings nicht ganz genau im selben Gebäude. Das Haus wurde 1944 nämlich bei einer Bombardierung der Alliierten komplett zerstört. Entgegen der Empfehlung der Stadtplaner, aber aufgrund der Berühmtheit des ehemaligen Bewohners, wurde das Haus identisch wieder aufgebaut. In einer permanenten Ausstellung wird die künstlerische Ader der damaligen Epoche beleuchtet.

Die Highlights Das Puppentheater des kleinen Johann Wolfgang sowie die Bibliothek seines Vaters.

Die passende Lektüre Mit nur 26 Jahren, kurz bevor er nach Weimar ging, schrieb Goethe hier seinen berühmten Briefroman «Die Leiden des jungen Werther», der ungeheuren Erfolg – und, tragischerweise, eine Suizidwelle – zur Folge hatte.

Goethe-Haus, Grosser Hirschgraben 21, Frankfurt am Main. Täglich geöffnet. www.frankfurter-goethe-haus.de

2. Colette

Kulisse einer frohen Kindheit

Das Haus  Der stattliche Bau, durch dessen Fenster mit himmelblauen Läden man in den friedvollen Garten blickt, liegt in Saint-Sauveur-en-Puisaye im Departement Yonne. Hier verbrachte Sidonie-Gabrielle Colette, besser bekannt nur unter ihrem Familiennamen, ihre ersten 18 Lebensjahre. Ihre Mutter Sido gab ihr hier die Liebe fürs Detail, für Pflanzen und Tiere weiter. 1891 musste die Familie das Haus wegen finanzieller Nöte verkaufen. Seit 2016 ist es als Museum, oder besser: als lebendes Buch zugänglich.

Das Highlight Die Einrichtung wurde so nachgebildet, dass es den Anschein hat, die Familie Colette hätte das Haus nie verlassen.

Die passende Lektüre  In fast all ihren Büchern erwähnt Colette ihre glückliche Kindheit und Jugend, vor allem in der «Claudine»-Reihe. Träumerinnen werden «Mein literarischer Garten» lieben, in dem Colette jede Blume wie eine enge und kostbare Freundin beschreibt

La Maison de Colette, 8-10, rue Colette, Saint-Sauveur-en-Puisaye, bis 16. Dez. geschlossen. maisondecolette.fr

3. Victor Hugo

Gesamtkunstwerk Hauteville House

Das Haus  Wäre er nicht Schriftsteller geworden, hätte aus Victor Hugo auch ein herausragender Innenarchitekt werden können. Das Haus in Saint-Pierre-Port auf der zweitgrössten britischen Kanalinsel Guernsey, wo er während dem Napoléon-Regime 15 Jahre im Exil lebte, richtete er mit grosser Sorgfalt ein. Das Haus hatte er mit dem Honorar für seine Gedichtsammlung «Les Contemplations» gekauft («vom ersten Balken bis zum letzten Ziegel», schrieb er). Der imposante, fünfstöckige Wohnsitz zeichnet sich mit einer für die damalige Epoche modernen, lebendigen und symbolträchtigen Ästhetik aus.

Die Highlights Der Korridor mit der Blumentapete – und der oberste, verglaste Stock (im Bild), Look-out genannt, wo Victor auf verstellbaren Tischen schrieb.

Die passende Lektüre Auf Guernsey entstand 1862 ein Meisterwerk der französischen Literatur: «Les Misérables».

Hauteville House, 38 Hauteville, St Peter Port, Guernsey. Geführte Touren (auf Voranmeldung) von April bis September. www.maisonsvictorhugo.paris.fr

4. Karen Blixen

Zwei Herzen in einer Brust

Das Haus  Siebzehn Jahre lebte die dänische Schriftstellerin in Kenia, wo sie eine Kaffeefarm führte – und ihr Herz an den Grosswildjäger Denys Finch Hutton verlor. Nach dessen Tod kehrte sie in ihr Elternhaus nach Rungsted zurück, 20 Kilometer nördlich von Kopenhagen. Direkt am Meer gelegen, ist das Haus samt angrenzendem Park ein wunderschönes Ausflugsziel. Übrigens: Auf Wunsch von Karen Blixen wurde das Gelände zum Vogelschutzgebiet erklärt.

Das Highlight Die Schriftstellerin liegt im Park begraben, im Schatten einer alten Buche. Aber wussten Sie, dass Karen Blixen nicht nur eine preisgekrönte Autorin, sondern auch eine begabte Malerin war? Im Museum sind zahlreiche ihrer Bilder zu sehen.

Die passende Lektüre  Blixens bekanntester Roman «Jenseits von Afrika» aus dem Jahr 1937 handelt von ihrer Zeit in Kenia. Sydney Pollack verfilmte das Buch 1985 mit Meryl Streep und Robert Redford in den Hauptrollen; der Film erhielt sieben Oscars.

Karen-Blixen-Museum, Rungsted Strandvej 111, Dienstag bis Sonntag geöffnet. www.blixen.dk

5. Dürrenmatt

Kultur im Pool- und auf dem Klo

Das Haus Doppelt hält besser: Im grünen Tal Vallon de l’Ermitage oberhalb von Neuchâtel gibt es gleich zwei Häuser, in denen der Schweizer Kultautor wirkte: Das 1952 gekaufte Familienanwesen und die 1965 als Arbeitsstätte errichtete Villa. Das Ensemble wird durch einen zeitgenössischen Bau von Mario Botta ergänzt. Ein ehrenwerter Rahmen für Ausstellungen und kulturelle Aktivitäten. Die aktuelle Hängung (bis zum 12. Februar 2023) befasst sich mit der Bedeutung des Spiels in der Literatur.

Die Highlights Die Toilette, die von Dürrenmatt, der auch Maler war, mit grinsenden Figuren in leuchtenden Farben bevölkert wurde (sozusagen seine persönliche «Sixtinische Kapelle»). Und das ehemalige Schwimmbad, das im letzten Jahr in eine Theaterbühne verwandelt wurde.

Die passende Lektüre In Erwartung einer Freiluftaufführung kommenden Sommer lesen wir das Stück «Der Besuch der alten Dame», welches das deutschsprachige Theater stark geprägt hat, noch einmal.

Centre Dürrenmatt Neuchâtel, 74, chemin du Pertuis-du-Sault, Neuchâtel, Mittwoch bis Sonntag. www.cdn.ch

6. Die Brontës

Pfarrhaus in der Heidelandschaft

Das Haus Im Backsteinhaus in Yorkshire taucht man in jene Welt ein, die man aus den Werken der Brontë-Schwestern Charlotte, Emily und Anne so gut kennt. Alles ist entweder im Original erhalten oder wurde anhand von Dokumenten (etwa Tapetenmustern, die man in Charlottes Heften fand) nachgebildet. Zahlreiche persönliche Gegenstände sind ebenfalls ausgestellt: Manuskripte, die Bibel des Vaters, eine Brauthaube (von Charlotte), eine Schreibschatulle (von Anne) … Als wäre die Zeit stehen geblieben!

Das Highlight Das Büro von Vater Patrick, in dem Anne und Emily Klavier spielten, die ganze Familie morgens und abends betete und der Kaplan zum ersten Mal den Roman seiner Tochter Charlotte las, «Jane Eyre».

Die passende Lektüre «Wuthering Heights» (dt. «Sturmhöhe»), der einzige Roman aus der Feder von Emily, bettet eine der berühmtesten tragischen Liebesgeschichten der Weltliteratur in die wilde Heidelandschaft Yorkshires ein, die das Haus umgibt.

BroBrontë Parsonage Museum, Church Street, Haworth. Mi-So 10-17 Uhr, Anmeldung empfohlen. www.bronte.org.uk

7. Virginia Woolf

Kreative Oase in Sussex

Das Haus Der Zweitwohnsitz von Virginia Woolf und ihrem Ehemann Leonard (einem bekannten Aktivisten der politischen Linken) wurde immer wieder erweitert und ergänzt, bis zum Tod der Schriftstellerin im Jahr 1941. Das Country Cottage aus dem 16. Jahrhundert, Monk’s House genannt, liegt im malerischen Dorf Rodmell in Sussex und wurde Mitte des letzten Jahrhunderts zu einem Rückzugsort und Treffpunkt für britische Intellektuelle.

Das Highlight Das Gartenhäuschen, in dem Virginia ihre Romane (um)schrieb und nahe an einem Nervenzusammenbruch war, weil es mit dem Schreiben und den Arbeiten am Haus mal wieder nicht voranging.

Die passende Lektüre Im Monk’s House vollendete Woolf 1931 «The Waves» (dt. «Die Wellen»), einen ebenso poetischen wie experimentellen Text. Die Monologe der Hauptfiguren kreisen oft um Gegenstände, die sie umgeben, als wärens rettende Inseln.

Monk’s House, Rodmell, UK, von April bis Oktober zwei Tage die Woche geöffnet. www.nationaltrust.org.uk/monks-house

8. Rousseau

Ein ganzes Haus für die Literatur

Das Haus Der Einzelgänger Jean-Jacques Rousseau wurde am 28. Juni 1712 an der Grand-Rue 40 in der Genfer Altstadt geboren. Die Familie blieb nur vier Jahre an dieser Adresse, danach zog sie ins Quartier Saint-Gervais. Vom ursprünglichen Haus blieb nur die Fassade übrig, der Rest erlebte zahlreiche Veränderungen. Zuletzt wurde der Ort zum Museum, das sich dem Gedankengut des grossen Philosophen der Aufklärung widmet. Bücherfans können im Café verweilen, am Buch- oder Schreibklub teilnehmen und vom umfassenden literarischen Programm profitieren.

Das Highlight Der Parcours ist in sieben Themen gegliedert und verknüpft die Ideen des Schriftstellers mit den Herausforderungen unserer Zeit – originell!

Die passende Lektüre Das 1762 veröffentlichte «Émile oder Über die Erziehung» handelt von der Kunst, die Menschen zu bilden («l’art de former des hommes»). Als erste Buch über die Erziehung bleibt es bis heute ein Referenzwerk.

Maison Rousseau et de la Littérature (MRL), 40, Grand-Rue, Genf. Dienstag-Sonntag, 11-18 Uhr, www.m-r-l.ch

9. Emil Zola

Liebe auf den ersten Blick

Das Haus  Zola suchte nach einem ruhig gelegenen Haus, in dem er seinen Rougon-Macquart-Zyklus weiterschreiben konnte – und verliebte sich in das Örtchen Médan unweit von Paris. Dank dem Erfolg von «Germinal» konnte der Autor sein Haus kontinuierlich erweitern: Zuerst kam ein quadratischer Turm dazu, dann ein sechseckiger. Nach Zolas Tod überliess seine Witwe das Haus der Assistance publique (öffentl. Gesundheitseinrichtung Frankreichs), die es für diverse Zwecke nutzte. 2021 wurde das Gebäude saniert, in seinen Originalzustand zurückgeführt und um ein Museum zur Dreyfuss-Affäre erweitert.

Das Highlight Das Motto des Schriftstellers, «nulla dies sine linea», kein Tag ohne Zeile, steht oberhalb des Cheminées im Schreibzimmer, dessen Buntglasfenster eine fast kirchliche Atmosphäre verbreiten.

Die passende Lektüre Das Haus kaufte sich Zola mit den Einnahmen aus dem Roman «L’Assomoir» (dt. «Der Totschläger»), der das Elend der Arbeiterklasse aufzeigt.

Maison Zola, 26, rue Pasteur, Médan. Besuch nur auf Voranmeldung. www.maisonzola-museedreyfus.com

10. Cervantes

Allein unter Damen

Das Haus Als der spanische Hof zu Beginn des 17.Jahrhunderts nach Valladolid umzog, folgte ihm der Steuereintreiber und Hidalgo Miguel de Cervantes, damals 57 Jahre alt. Im Gegensatz zu den Details aus dessen abenteuerlichem Leben ist sein bescheidenes Haus gut dokumentiert: Ein auf dem Grundstück ver-übter Mord gab nämlich Anlass zu einer gründlichen Untersuchung. Cervantes wurde erst verdächtigt, dann aber für unschuldig erklärt. Anscheinend wohnte er mit seiner Mutter, seiner Gattin, seiner unehelichen Tochter, seiner Schwester, mehreren Schneiderinnen und Dienerinnen – und einigen Prostituierten auf Besuch – im oberen Stockwerk des Hauses.

Das Highlight Die Bibliothek! Dort gibt es mehrere Originalausgaben von «Don Quijote» zu bewundern.

Die passende Lektüre Der erste Teil von Cervantes‘ Meisterwerk, das einfach nicht aus der Mode kommt, ist eine Parodie der ritterlichen Gesellschaft und wurde in eben diesem Haus geschrieben.

Museo Casa de Cervantes, Calle del Castronuevo de los Carneros, Valladolid, montags geschlossen. www.culturaydeporte.gob.es/museocasacervantes/fr/museo.html

Ein Buch geht dem Phänomen auf den Grund

Warum werden Häuser von Schriftstellern erhalten? Und weshalb besuchen wir sie? Die Schweizerin Nathalie Perrin knöpft sich solche Fragen in ihrem (selbst illustrierten) Buch «Rimbaud, Rambo, Ramuz» vor, das im Januar bei art&fiction erschienen ist. «Seit Langem besuche ich Häuser von Schriftstellern, ohne wirklich zu wissen, warum, und teilweise ohne ihre Bücher gelesen zu haben», schreibt sie.


Besonders prägten sie zwei Erlebnisse. Zum einen der Besuch des Hauses von Arthur Rimbaud in Äthiopien («Warum riskierte ich mehrere Male mein Leben (…), nur um schneller in Harar anzukommen, wo mein einziger Bezug zu Rimbaud das Lied von Renaud war?»). Das zweite prägende Erlebnis war das Chaos um die Rettung des Hauses von Ramuz in Pully, «Muette» genannt (im Bild).

Heute beten wir statt Heiliger Künstler an. Ihre Häuser sind Kultstättent geworden

Perrin hat folgende Erklärung parat: «Historisch kann man das so erklären, dass eine Übertragung der Heiligenverehrung erst auf Philosophen, dann auf Schriftsteller und Künstler, heute auch auf Musiker und Politiker stattgefunden hat.» Anders gesagt: Manuskripte und Objekte (selbst die unbedeutendsten) von grossen Autorinnen und Autoren sind zu einer Art Reliquien geworden und ihre Häuser zu heiligen Stätten.


«Die Besucher trauen sich teils nicht, an diesen Orten zu sprechen», weiss Nathalie Perrin zu erzählen. Diese Sakralisierung und ihre touristischen Auswirkungen erklären die Vermehrung von Häuser-Museen, deren Echtheit teilweise zweifelhaft ist (Descartes soll an zwei verschiedenen Orten geboren worden sein und Goethe in nahezu 35 Häusern gelebt haben …).


Aber gibts auch vorbildliche Beispiele? «In den Häusern von Dürrenmatt und Rousseau wird deren literarisches Werk neu belebt», meint Perrin. Ein weiterer Liebing von ihr: Die geniale Villa Malaparte, die vom grossen Architekten Adalberto Libera für den ebenso grossen Schriftsteller Curzio Malaparte erbaut wurde.