Im September trifft sich die Crème de la Crème des weltweiten Kunsthandwerks in Venedig. Die immersive Ausstellung Homo Faber verspricht wunderbare Entdeckungen und dreht sich dieses Jahr um den Lebensweg («The Journey of Life»), inszeniert von Filmregisseur Luca Guadagnino und dem Architekten Nicolò Rosmarini. Hier sind die fünf Höhepunkte, die uns bei dieser Ausgabe am meisten reizen.
Venedig ist immer einen Besuch wert. Auch im Sommer. Auch bei internationalen Ausstellungen. Die berühmteste, geheimnisvollste und zerbrechlichste aller historischen Städte verkörpert all das, was das menschliche Genie an Wertvollem schaffen konnte. Das gerade erschienene und ausgezeichnete kleine Reisebuch «Venise, la Vénétie est une fable» (Collection L’âme des Peuples, Editions Nevicata) erzählt von dieser Region auf eine lebendige und einfühlsame Weise. Das Buch der Genfer Journalistin mit italienischen Wurzeln Luisa Ballin wurde mit dem Prix Méditerranée 2024 ausgezeichnet und lässt sich wunderbar auf der Reise nach Venedig oder abends nach einem Risotto al Nero di Seppia lesen. Nach dieser Lektüre kann man noch tiefer in die bemerkenswerte Schöpfungskraft der Menschheit eintauchen.
Ausstellung Homo Faber, Stiftung Giorgio Cini, Venedig, vom 1. bis 30. September. Tickets für 16 Euro, in begrenzter Anzahl verfügbar auf https://homofaber.vivaticket.it/.
1. Die Strohdiademe von Nathalie Seiller Dejean
Die Kunsthandwerkerin: Ursprünglich war Nathalie Seiller Dejean Zeichnerin und illustrierte mit ihrem feinen und scharfsinnigen Strich Zeitungen wie Le Monde und Le Temps. Durch eine Anfrage einer Freundin aus der Modebranche, einen Schuh zu designen, verlagerte sie ihren Fokus auf Accessoires sowie auf alte Spitzen und historische Stoffe. Dann, während eines Aufenthalts in Genf, stiess die Liebhaberin edler Materialien in einem Brockenhaus auf eine Strohstickerei. Seitdem flechtet sie seit fünfzehn Jahren unglaublich raffinierte und filigrane Kopfschmuckstücke, bei denen man kaum annehmen würde, dass sie aus Stroh bestehen. Ihre Werke, die sie mit Federn, Glasperlen und Seesternen schmückt, werden in Galerien ausgestellt und verkauft und auf den Laufstegen der Modewelt gezeigt. «Ich jage dem Traum einer Fee hinterher, ein Kleidungsstück zu schaffen, das die Farbe der Natur einfängt», sagt sie.
Die Technik: Das Strohflechten hat in der Schweiz, insbesondere im Kanton Aargau, aber auch in anderen ländlichen Regionen wie dem Sensebezirk, im Wallis oder im Zürcher Unterland, eine lange Tradition. Ab dem 17. Jahrhundert zahlten Tagelöhner einen Teil ihrer Kosten, indem sie Strohhüte herstellten. Diese Nebeneinnahme entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Industrie und wurde durch neue Materialien wie Rosshaar, Hanf oder Raffia bereichert. Der schlichte Strohhut wurde schliesslich mit einer Fülle an Borten, Spitzen und Verzierungen geschmückt. Ein Museum in Wohlen, der Hauptstadt des ehemaligen Bootshuts, erzählt die traditionsreiche Geschichte des Strohs (www.schweizer-strohmuseum.ch/), die Nathalie Seiller Dejean mit ihrem virtuosen Know-how in die Gegenwart trägt.
Die Kunstwerke: In Venedig wird Nathalie Seiller Dejean drei ihrer Kunstwerke in dem Bereich ausstellen, der sich der Liebe widmet. Mit Hochzeitsdiademen zeigt sie die rituelle Bedeutung der Zeremonie im Laufe der Zeit.
2. Die neu interpretierte venezianische Küche
Der Koch: Der Chefkoch Salvatore Sodano leitet das ganze Jahr über das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant Local in Venedig (www.ristorantelocal.com). Als Sohn zweier Köche war die gastronomische Berufung für ihn zunächst ein Jux, bevor sie zur Lebensaufgabe wurde. Nach Aufenthalten in den USA und in London kehrte er 2018 nach Italien zurück und verfolgt seither seine Vision einer Küche mit lokalen Zutaten und traditionellen Rezepten, die durch ein äusserst raffiniertes Können veredelt wird. Bei der kreativen Menügestaltung der Ausstellung gibt Salvatore Sodano den Ton an.
Die Technik: Was ihn motiviert, ist sein Respekt vor den Produkten und vor den Berufen des Gastgewerbes. Salvatore Sodano arbeitet auf eine höchst präzise Art und Weise, die jegliche Verschwendung vermeiden und gleichzeitig die einzigartigen Aromen zur Geltung bringen will. Er serviert gereiften Fisch, fermentiertes Gemüse und experimentiert mit Oxidationstechniken.
Das Restaurant: Das gastronomische Highlight von Homo Faber finden Besucher in der Compagnia della Vela, dem Yachtclub mit Blick auf die Lagune. Reservierung erforderlich.
3. In Souvenirs verwandelte Überreste der Stadt
Die Kunsthandwerkerin: Die Designerin Michela Bortolozzi, geboren 1968 in Venedig, beschreibt sich selbst als «kreative Nomadin». Ihr vielseitiger Ansatz besteht darin, die Welt zu bereisen und die Begegnungen ihrer Reisen in Form von handgefertigten Kunstwerken festzuhalten. Sie passt sich von einer Technik zur nächsten an, lernt und improvisiert. Sie nennt dies «Hand in Hand gehen». Anfang 2020 kehrte sie, bewegt von der zeitlosen Atmosphäre und der zunehmenden Fragilität der Stadt, in ihre Heimat zurück. Um den Dialog mit den allgegenwärtigen Touristen aufzunehmen, kreierte sie eine Kollektion von Mitbringseln, die aus venezianischen Restmaterialien hergestellt und von den typischen Mustern der venezianischen Architektur inspiriert sind: recycelte Kerzen, Treibholz und sogar Lutscher in Form der venezianischen Gebäude. Nach dem Lutschen bleibt nur noch der Stiel – ein Denkanstoss.
Die Technik: Ihre symbolischste Kreation ist sicherlich die Kerze, geformt wie das «Rosone», das typische gotische Kleeblattmuster der Region. Die Kerzen werden aus zerbrochenen Kirchenkerzen und recyceltem Wachs hergestellt. In Workshops können Interessierte mit geschickten Händen ihre eigenen Kerzen herstellen. Ein Programm arbeitet sogar mit Inhaftierten zusammen. Alles dreht sich dabei um die Frage: Was bedeutet Venedig für mich persönlich?
Das Atelier: Das Atelier Relight Venice (Auf Deutsch etwa: Venedig neu verzaubern) befindet sich im Stadtteil Cannaregio, in der Nähe des Campo Santa Fosca, in der Calle Zancani 2430. Es ist Teil des Programms «Homo Faber in Città», das parallel zur Ausstellung Besuchern die verborgene Handwerkskunst Venedigs durch exklusive Besuche von Werkstätten und Ateliers näher bringen soll. Besuche sollten im Voraus angemeldet werden: info@relightvenice.com
4. Alte Weltkugeln gestalten mit Leonardo Frigo
Der Künstler: Der Londoner Leonardo Frigo war ursprünglich Geigenbauer, Musiker und Restaurator von Kunstwerken. In den letzten fünf Jahren hat er Dantes «Inferno» mit aussergewöhnlich feinen und akribischen Zeichnungen wie eine Art historisch inspirierter Comic umgesetzt. Die 34 Gesänge des ersten Teils der Göttlichen Komödie fanden ihren Platz auf 33 Violinen und einem Cello: Kunstwerke, die sowohl gehört als auch gelesen werden können. Aufgrund Frigos Leidenschaft für Illustration, verewigt er seine kostbaren, figurativen oder abstrakten Arabesken auf vielen raffinierten Objekten.
Die Technik: Das Zeichnen mit schwarzer Tinte, das der Kalligraphie nahekommt, hat eine lange Tradition, sei es auf Musikinstrumenten oder Weltkugeln. Nach zahlreichen Museumsbesuchen entschied sich Frigo, die Arbeit des franziskanischen Mönchs Vincenzo Coronelli fortzusetzen. Dieser Kartograf, der im 17. Jahrhundert in Venedig tätig war, ist bekannt für die Weltkugeln, die er vollständig von Hand zeichnete. Könige und hohe Würdenträger nahmen die Globen stolz als Geschenk entgegen.
Der Workshop: Unter der Schirmherrschaft des japanischen Autoherstellers Mazda, der die handwerkliche Qualität seines Designs hervorheben möchte, werden kreative Workshops für die Öffentlichkeit angeboten (mit Anmeldung unter: homofaber.vivaticket.it/en/event). Leonardo Frigo leitet einen dieser Workshops. Teilnehmende können ihre imaginäre Welt mit roter Tinte auf Miniatur-Weltkugeln aus Papier zeichnen, die nach alter Tradition hergestellt wurden. Täglich von 10 bis 11:30 Uhr.
5. Tiere aus Pappe von Josh Gluckstein
Der Künstler: Der 33-jährige Porträtmaler Josh Gluckstein hat es immer geliebt, in die Ferne zu reisen und wilde Tiere zu beobachten. Der umweltbewusste Künstler besuchte stets Second-Hand-Läden und baute seine Möbel oft aus gesammelten Materialien. Als die Pandemie den jungen Künstler in seinen vier Wänden in London einsperrte, begann er, aus dem einzigen verfügbaren Material, Pappe, die bedrohte Natur nachzubilden. Was dabei herauskam? Extrem realistische Tiere wie Tiger, Elefanten und Pangoline in Lebensgrösse.
Die Technik: Der wichtigste Aspekt der Skulpturen aus Pappe ist ihre Wiederverwertbarkeit. Gluckstein recycelt alle Reste einer Skulptur für die Schaffung der nächsten. Nichts wird weggeworfen, alles wird wiederverwertet.
Die Skulptur: Im Bereich «Nature» der Ausstellung präsentiert Josh Gluckstein seine bisher ehrgeizigste Skulptur: Ein 2,5 Meter hohes Korallenriff aus Pappmaché, das mehr als 50 Meeresarten darstellt. Dieser Fokus auf Biodiversität ist Teil des engagierten Ansatzes des Künstlers. Alle seine Werke sollen das Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit der Welt (und der Pappe) schärfen. Seine kürzliche Ausstellung «Trafficked» machte auf den illegalen Handel mit Wildtieren aufmerksam. Ein Teil der Einnahmen durch den Verkauf der Kunstwerke wird an Stiftungen zum Schutz von Tieren gespendet.