Boucheron ist zwar das älteste grosse Juwelierhaus an der Place Vendôme, aber eines der innovativsten: Dank Kreativdirektorin Claire Choisne, die die Grenzen der Haute Joaillerie auslotet.
Die Place Vendôme in Paris ist längst ein Synonym für die Haute Joaillerie geworden. Boucheron, gegründet 1858, war der erste grosse Juwelier, der sich 1893 hier niederliess. An der Hausnummer 26 begründete er seine Traditionsadresse. Von den vergoldeten Stuckdecken, den Flügeltüren und den Versailles-Parkettböden sollte man sich nicht täuschen lassen: In dem historischen Ambiente sind heute zwei der avantgardistischsten Erneuerinnen des Metiers aktiv: Seit 2011 amtet Claire Choisne als Kreativdirektorin, Hélène Poulit-Duquesne seit 2015 als CEO. Die beiden Frauen formen die erste weibliche Doppelspitze überhaupt an der Place Vendôme.
Seitdem verblüffen die Kollektionen von Boucheron Kunden und Presse jedes Jahr aufs Neue: Ob sie echte Blütenblätter in Schmuck verewigen, Himmelswolken mit Aerogel nachbilden, dem flüchtigsten Material der Welt, das die NASA entwickelte, um Sternenstaub im Universum zu sammeln, ob sie mit dem Baustoffunternehmen Saint Gobain eine Technik, die eigentlich zur Beschichtung von Lichtsignalen auf Flughafenpisten verwendet wird, auf futuristische, holografische Colliers aus Bergkristallscheiben übertragen oder Motive aus der Pop Art und der Comic-Kultur high-jewelry-fähig machen – technisch und ästhetisch erweitert Boucheron konsequent die Horizonte der Juwelierkunst.
Bevor man in Claire Choisnes Kreativuniversum, das sich unterm Dach befindet, vordringt, muss man diverse Schleusen und Sicherheitsbeauftragte passieren. Wenn man die Tür zum Mansardenbüro öffnet, muss man aufpassen, dass ihre anderen zwei Gäste, die Katzen Grishka und Igor, nicht stiften gehen. Katzen haben Tradition bei Boucheron. Schon in den 1980er-Jahren schlich ein Stubentiger namens Wladimir als Maskottchen durch die Flure und wurde prompt zu einem beliebten Werbe- und Schmuckmotiv des Hauses. Von ihrem Schreibtisch blickt Claire Choisne aus der Vogelperspektive auf die Siegessäule, das Hotel «Ritz» – und auf die Konkurrenz. Die fast 1,80 Meter grosse Choisne ist in vielerlei Hinsicht einer der kreativen Leuchttürme am Platz.
Or Bleu, blaues Gold, heisst die neue Carte-Blanche-Kollektion, die das Wasser in all seinen Aggregatzuständen feiert. Im Winter vor zwei Jahren brachen Choisne und Poulit-Duquesne nach Island auf, um sich von der rauen Wasser- und Vulkanwelt der Insel inspirieren zu lassen. Die im Zuge der Reise entstandenen 26 Einzelstücke sind die Antwort aus Schmuck auf die dort beobachteten Naturphänomene: Mit einer neuartigen 3D-Drucktechnik verarbeitet sie nicht nur den schwarzen Vulkansand Islands, fängt auf Ringen und Colliers den Moment ein, in dem ein Tropfen auf die Wasseroberfläche fällt und kreisförmige Wellen erzeugt, oder zeigt in einem Earcuff, wie sich eine Welle bricht. Die Kaskade eines Wasserfalls wird zu einer 148 cm langen, filigranen Halskette aus Weissgold und 1816 verschieden grossen und geschliffenen Diamanten – die längste, die je in den Boucheron-Ateliers hergestellt wurde. 3000 Arbeitsstunden flossen in ihre Fertigung. Die Naturfotografien von Jan Erik Waider fangen kongenial und GPS-genau die Orte der Inspiration der einzelnen Stücke ein. Der dazu komponierte elektronische Soundtrack von Molécule macht das Naturerlebnis auch hörbar. Wir sprachen mit Claire Choisne über das, was sie inspiriert.
Was ist noch heute Ihre stärkste Erinnerung an die Reise nach Island?
Es war die unwirklichste und spektakulärste Landschaft, die ich je gesehen habe. Die Eishöhlen ganz besonders: Man hat darin das Gefühl, die Wellen des Ozeans seien über deinem Kopf in voller Bewegung schockgefrostet worden. Diesen Effekt habe ich in der Manschette Ciel de Glace in Bergkristall, Diamanten und Saphiren wiedergegeben. Ich habe noch immer Gänsehaut, wenn ich an all die Eindrücke und Geräusche von Eis und Wasser denke – und besonders an die Temperaturen von teils mehr als minus 20 Grad Celsius.
Nun haben Sie im Ring Quatre 5D Memory, einem Klassiker des Hauses, erstmals auch den Klang des Ozeans verewigt. Ist diese Innovation die Fortsetzung von Or Bleu – und was verbirgt sich dahinter?
Im Gegenteil! Eigentlich war der Ring der Anstoss für die Or- Bleu-Kollektion. 2021 erzählte mir François Pivan von Kerings Innovation von einer Technologie, die es ermöglicht, Daten mit einer speziellen 5D-Memory-Gravurtechnik für die Ewigkeit zu speichern, geschützt in einem kristallartigen Material. Eine hochpräzise und miniaturisierte Speicherung von enormen Datenmengen, die über Milliarden Jahre hinweg über ein relativ einfaches Mikroskop lesbar bleiben. Es hebt das Konzept der Zeit auf eine völlig neue Ebene. Also überlegte ich: Was ist so wertvoll, dass es auch noch in Milliarden von Jahren wert ist zu bewahren? Der Klang des Meeres natürlich! In Zusammenarbeit mit dem IRCAM (Institut für Akustik und Musikforschung in Paris) haben wir eine Klanglandschaft der Wellen entwickelt, die wir dann im Ring «eingekapselt» haben.
Warum ausgerechnet der Klang des Meeres?
Zuerst habe ich an Wissen gedacht, an künstlerische Errungenschaften der Menschheit, aber ich möchte mich immer mit etwas ausdrücken, was zugleich universell und persönlich ist. Also kam ich auf das Wasser, das Geräusch der Wellen. Wasser ist für alle ein lebenswichtiges und bedeutendes Element – und gleichzeitig ist es sehr persönlich und emotional für mich, denn ich bin am Ozean aufgewachsen. Dem Meer zuzuhören, hat mich immer beruhigt und entspannt.
Von Expeditionen in die Natur bis zu Alltagsbeobachtungen auf dem Rollfeld eines Flughafens – wie entstehen Ihre aussergewöhnlichen Ideen? Können Sie uns den kreativen Prozess beschreiben?
Meine kreative Reise beginnt fast immer mit einem Traum, der Suche nach einer bestimmten Emotion, die ich vermitteln will. In meiner Arbeit hinterfrage ich permanent den Begriff des Wertvollen: Und das muss nicht zwangsläufig der grösste oder seltenste Stein sein, sondern ist oft einfach nur ein schönes Gefühl oder Bild. Am Diamond Beach in Island zum Beispiel war ich berührt vom Kontrast des schwarzen Sandes und den kristallinen Eisbergen. Also verbiete ich mir nicht, auch schwarzen Sand in die Haute Joaillerie zu integrieren, während ich das Eis mit Diamantenpavés oder Bergkristallen nachempfinde. Ohne die absolute, künstlerische Freiheit, die mir Boucheron gewährt, wären meine Kollektionen allerdings nicht so möglich.
Dennoch: Wie gelingt es Ihnen, dabei immer wieder um die Ecke zu denken und Ideen zu generieren, die nicht naheliegend sind?
Meine grösste Inspirationsquelle ist das Visuelle. Ich muss ständig meine Augen nähren, indem ich Kunst, Architektur, Design und vor allem die Natur beobachte. Oft entstehen Ideen, wenn mein Gehirn zwei Dinge miteinander verbindet, die ich zu unterschiedlichen Zeiten gesehen habe. Diese Verbindungen führen zu neuen Konzepten und Designs. Mein Job besteht im Wesentlichen darin, zu entscheiden, welche Ideen gut sind und welche nicht. Ich filtere sie und konzentriere mich auf die besten. Doch, wie bereits gesagt: Dafür braucht man in erster Linie kreative Freiheit – und Zeit.
Was ist für Sie der beste Moment während dieses kreativen Prozesses?
Es gibt immer zwei: Der erste ist, wenn die Idee in meinem Kopf auftaucht und ich das fertige Schmuckstück schon wie ein Foto vor mir sehe. Der zweite Moment ist, wenn das Schmuckstück tatsächlich Gestalt geworden ist. Dieser Übergang von einer abstrakten Idee zu einem physischen Objekt ist immer wieder magisch.
Und dazwischen – wie gehen Sie mit Rückschlägen um, wenn sich die Ideen nicht so schnell realisieren lassen?
Manchmal arbeiten wir zwei bis drei Jahre an einem Stück, an einer Technik. In dieser Zeit kann es vorkommen, dass die Leute ungeduldig werden und nach einfacheren Lösungen suchen wollen. Es ist wichtig, während des gesamten Prozesses den Glauben und die Energie aufrechtzuerhalten, damit die Vision nicht verwässert wird.
Sie präsentieren immer zwei Kollektionen pro Jahr: die Histoire de Style zur Haute Couture im Januar, die eher traditionell orientiert ist, und die Carte Blanche im Sommer. Haben Sie ein Lieblingsprojekt?
Beide Projekte sind spannend, aber auf ganz unterschiedliche Weise. Bei der Carte Blanche habe ich völlige kreative Freiheit, was grossartig ist, aber auch einschüchternd sein kann, weil ich immer wieder aufs Neue ein leeres weisses Blatt füllen muss. Es dauert oft zwei bis drei Jahre, bis diese Kollektionen fertig sind, das ist ein langer und intensiver Prozess mit vielen, oft fachfremden Akteuren. Doch ich liebe diesen Austausch mit Wissenschaftlern oder Ingenieuren, die es uns ermöglichen, Stücke zu erschaffen, die über das herkömmliche Schmuckdesign hinausgehen. Die stilistischen Geschichtskollektionen sind dagegen ein anderes kreatives Spielfeld. Hier geht es darum, mit den Archiven und den Codes des Hauses Boucheron etwas Zeitgenössisches und Relevantes zu schaffen. Es ist herausfordernd, die Balance zwischen Gestern und Heute zu finden, aber genau das macht es so interessant. Tradition und Innovation sind für mich eigentlich kein Gegensatz, sondern ein Kontinuum.
Klang des Ozeans
Boucheron hat in seinem Ring Quatre 5D Memory den Klang des Wassers für Milliarden von Jahren eingekapselt.
Mit der Geschäftsführerin Hélène Poulit-Duquesne haben Sie offenbar die ideale Sparringspartnerin und Komplizin gefunden – welche Visionen, Wünsche und Leidenschaften verbinden Sie?
Unsere Mission ist es, die Branche voranzutreiben und für neue, mutige Konzepte zu öffnen. Wir haben beide dieselbe Philosophie, wie Schmuck heute sein sollte, denselben Pionier- und Ingenieurgeist, den Wunsch, die Grenzen ständig zu erweitern. Neuartige Technik nur um der Technik willen einzusetzen, ist dabei nicht das Ziel. Männer haben ja manchmal diese etwas nerdige Auffassung (lächelt). Innovation steht für uns immer im Dienst der Poesie, der Emotion und der Kunst. Es ist ein Mittel zum Zweck.
Sie haben unter sich eine Art Geheimkodex aufgestellt, an dem Sie all Ihre Kollektionen messen: Sie wollen alles, bloss kein «Tratra» machen – was bedeutet das?
(lacht) Tratra, damit meinen wir die Traditionen, die Codes der traditionellen Haute Joaillerie. Die sind kaum älter als 200 Jahre und auf seltsame Weise bis heute recht statisch geblieben, während sich die Mode, die Architektur oder das Design auf rasante Weise immer erneuert hat. Wir betrachten die Schmuckgeschichte auf einer grösseren Zeitskala und im breiteren Kontext. Die Ägypter vor 3000 Jahren, die Kulturen in Südamerika – die haben sich in Sachen Schmuck noch was getraut! Der totale Wahnsinn. Wir finden, dass die natürliche und verständliche Ehrfurcht vor wertvollen Steinen und Edelmetallen keine Angst machen sollte vor Kreativität und Veränderung.
Boucheron ist ein Schmuckhaus mit einer langen Tradition. War man auch schon vor Hélènes Ankunft so offen für Ihren unorthodoxen Ansatz?
Als ich hier anfing, war ich 35 Jahre alt und begann sofort damit, mit unkonventionellen Materialien wie Rohdiamanten zu experimentieren, mit denen ich die Pflastersteine des Place Vendôme nachbildete. Rohdiamanten in der Haute Joaillerie – das war damals ein Sakrileg! Aber genau das Collier war das erste, das aus meiner ersten Kollektion verkauft wurde. Cool, dachte ich, es gibt Menschen, die verstehen, was ich meine! Das ermutigte mich, weiter in diese Richtung zu gehen. Man bremste mich also auch vorher nie, aber erst mit Hélène konnte ich meine Freiheit auf einem noch höheren Level ausspielen.
Wie sind Sie eigentlich zum Juwelierhandwerk gekommen?
Meine Liebesgeschichte mit Schmuck begann erst recht spät. Als junge Frau interessierte ich mich nicht für Schmuck, was die älteren Damen um mich herum trugen, fand ich spiessig und altbacken. Ich wusste nur, dass ich in einem kreativen Handwerk arbeiten wollte. Ich liebäugelte mit dem Beruf der Architektin oder dem der Goldschmiedin. Ich kannte zwei persönlich: Der Architekt schien mir eher deprimiert zu sein, der Goldschmied hingegen glücklich. Also entschied ich mich, Goldschmied zu werden. Und mit der Arbeit kam schliesslich die Liebe zum Schmuck. Vielleicht sehen meine Kreationen deswegen heute auch anders aus, ich habe kein Schmuckgedächtnis, auf dem ich aufbaue, sondern gehe mit einem unbefangeneren Blick daran.
Glauben Sie, Ihre Kollektionen würden auch dem Gründer Frédéric Boucheron gefallen?
Unbedingt! Wir arbeiten mit grossem Respekt für die Geschichte dieses Hauses und sehen uns ganz in der Tradition von Frédéric Boucheron: Auch er war ein mutiger Erneuerer der Branche und wollte stets neue Wege in Technik und Ästhetik aufzeigen. Aber wir wissen mit all unserer Geschichte im Hintergrund auch: Nicht wir entscheiden, welche Schmuckstücke irgendwann vielleicht einmal Ikonen genannt werden, sondern die Menschen, die sie lieben und tragen – und die Zeit, in der sie sich bewähren.
Was für ein Typ von Schmuckträgerin sind Sie heute?
Ich mag vor allem Ringe, weil man sie – anders als zum Beispiel Ketten oder Ohrringe – auch selbst betrachten kann. Im Alltag trage ich oft zwei Ikonen des Hauses, den Ring Quatre und den Serpent Bohème.