Seit über 100 Jahren verteidigt das ärmellose Shirt beharrlich seinen Platz im Kleiderschrank. Ein Rückblick auf seine bewegte Geschichte.

Schlicht: Das ist wohl das Adjektiv, das im Zusammenhang mit dem Tanktop am häufigsten auftaucht. Was passt zu Jeans? Ein schlichtes Tanktop! Frau trägt Anzug? Lässt sich mit einem schlichten Tanktop kombinieren! Ein Tüllrock à la Ballerina? Kriegt durch ein schlichtes Tanktop mehr Bodenhaftung!

Kein Wunder, spielt das Teil eine modische Schlüsselrolle, die mit seiner Urfunktion als Unterwäsche schon lang nichts mehr zu tun hat. Heute gehts um den Kontrast, den das bisschen Stoff zum Rest eines Tenues setzt. Mal sorgt es für eine relaxte Note, mal für Sexiness – schliesslich ist da nicht mehr viel, das den Körper drunter bedeckt. Man denke nur an die Muckis von Rapper 50 Cent: Nie stachen sie mehr ins Auge als dergestalt «betanktopt»!

Doch das ärmellose Unterhemd punktet noch in anderer Hinsicht: als Basisteil einer zeitlosen, ergo nachhaltigen Garderobe jenseits der Fast Fashion. Ein modischer Dauerbrenner, den man erfinden müsste – wenn dies Ende des 19. Jahrhunderts, als die ersten mechanischen Strickmaschinen losratterten, nicht schon passiert wäre. Erdacht als Arbeitsklamotte für die Entlader in den Häfen von London und Marseille, musste es leicht, schweisssaugend und eng anliegend sein, um sich ja nicht in irgendwelchen Räderwerken zu verfangen. Im Französischen heisst das Shirt entsprechend Débardeur (Entlader, Hafenarbeiter).


Und noch einen zweiten französischen Ausdruck muss man sich merken: Richelieu. So heisst die Maschenart, die bei Rippware zum Einsatz kommt – und die in den 1920ern zunächst Strumpfproduzenten für elastische Bündchen nutzten. Doch rasch kam Ripp auch bei Wäsche zum Einsatz, da es dehnbarer, luftiger, kurz: komfortabler als herkömmliche Ware war. Im aargauischen Aarburg war es eine gewisse Pauline Zimmerli, die den Transfer des Rippstricks vorantrieb und damit zum Aufblühen der Trikotindustrie in der Schweiz beitrug. Das Zimmerli-Feinrippshirt Richelieu, in den 30ern entwickelt und seit 2002 auch für Damen erhältlich, trägt dieses Stück Modegeschichte noch heute im Namen.

Arbeiter-Outfit im Wandel

Und wenn wir schon bei den Namen sind: In Paris, wo die Gemüsekistenschlepper in Les Halles die Ärmel ihrer Pullis kappten, war diese Kreation bald als Marcel bekannt – nach dem Strickwarenfabrikanten Marcel Eisenberg aus Roanne, der die Erfindung kommerzialisierte. Und wo kommt das englische «Tanktop» her? Von den ärmellosen Gwändli, die man zum Schwimmen im Tank – so nannte man früher einen Pool – überzog.
Das ärmellose Shirt ist also ein Kind der Industrialisierung. Und als solches mit dem sozioökonomischen Wandel verstrickt, den diese mit sich brachte: Je mehr Arbeiter ihre Jobs an Maschinen verloren, desto mehr wurde das typische Arbeiter-Outfit ein Symbol für prekäre Lebensumstände. Kein Wunder, steckte auch Hollywood rohe Mannsbilder vorzugsweise in Tanktops – allen voran Marlon Brando in «Endstation Sehnsucht» (1951) in der Rolle des prügelnden und vergewaltigenden Stanley Kowalski. (Bis heute hallt diese üble Konnotation im Tanktop-Synonym Wife Beater nach.) Dann gings weiter mit Paul Newman in «Der Clou» (1973), Robert De Niro in «Wie ein wilder Stier» (1980), Sylvester Stallone in «Rambo» (1985) und Bruce Willis in «Stirb langsam» (1988). Und auch rabiate Ladys zogen sich Tanktops über: Sarah Connor in «Terminator» (ab 1984) und natürlich Lara Croft in «Tomb Raider» (ab 2001).

Und im richtigen Leben? Da hielt das Top mit dem Ersten Weltkrieg in die Damengarderobe Einzug, wenn auch nur langsam: Weil die Männer an der Front waren, musste die Frauen zuhause deren Alltagsaufgaben übernehmen – und damit hatte das unbequeme Korsett definitiv ausgedient. Und als die Garçonnes (in Europa) und die Flappers (in den USA) sich die Haare kurz schnitten, nonchalant den Jupe gegen Hosen eintauschten und genüsslich Zigaretten pafften, passte das maskuline Unterhemd gut ins Bild – theoretisch. Praktisch hatten nur ein paar wenige Bohemiennes – etwa Renée Perle, die Muse des Fotografen Jacques-Henri Lartigue – den Mumm, sich in dieses bisschen Stoff zu zwängen, das im Grunde mehr zeigte als verhüllte. Vor allem, wenn man so gut bestückt war wie Renée, deren üppiger Vorbau wohl auch heute, in der sich wieder breit machenden Prüderie, pikierte Blicke provozieren würde.

Was für ein Unterschied zur betanktopten Jane Birkin, die in den Sixties den Androgyn-Chic mitbegründete! Überhaupt ist das Tanktop textilgewordener Widerspruch: Es ist Unterwäsche – die man offen zur Schau trägt. Es hat etwas Unschuldiges – mit einer verwegenen Note. Es kann vor Testosteron strotzen – oder unerhört feminin wirken. Es wurde als Arbeitskleidung geboren – und macht sich prima im Ausgang. Isabelle Crampes, Kuratorin der Ausstellung «Vêtements modèles», hat sich monatelang mit der Geschichte des Tanktops befasst. In der Schau kommt das Hemdchen zu kulturhistorischen Ehren – neben der Espadrille, dem Kilt, dem Blaumann und der Jogginghose. «Es war eine irre spannende Recherche. Jedes historische Foto eines Tanktops, das wir fanden, war ein Puzzlesteinchen – wobei das komplette Bild uns zeigt, wie wir uns als Gesellschaft verändert haben. Dieses bisschen Baumwollstoff, das uns in praktisch unveränderter Form über 150 Jahre begleitet hat: Es sagt so viel über uns aus!»

Und heute? Steht Authentizität hoch im Kurs. Und so setzen gleich mehrere Hersteller auf eine Produktion wie – fast – anno dazumal: Das Tanktop der französischen Marke Eminence kommt ohne Seitennähte aus und schmiegt sich regelrecht an den Körper. Ausstellungsmacherin Isabelle Crampes ist im Zuge ihrer Recherche auf das Start-up Sugar gestossen, das eine Ladung historischer Unterhemden gerettet und, zeit-gemäss eingefärbt, unter die Leute gebracht hat. Als der Vorrat aufgebraucht war, trieb Sugar alte Strickmaschinen auf, mit denen nun nach traditionellem Rezept Nachschub herstellt wird.


Und bald wird man sich sogar wieder ein original Marcel zulegen können: Der Jungunternehmer Thomas Lucien Marcel Sardi hat letztes Jahr die Société Etablissement Marcel gegründet, um der altehrwürdigen Firmengeschichte ein neues Kapitel hinzuzufügen – unter Verwendung von lokalen und Fairtrade-Materialien.