Auf der Basis bislang ungenutzter Meeresprodukte kreiert die Köchin Anika Madsen eine exquisite Küche, die militant in Sachen Nachhaltigkeit ist. Ein gastronomisches Experiment

Noch vor einem Jahr lebte Anika Madsen in Kopenhagen, war Küchenchefin im Sternerestaurant «Fasangården», unternahm Ausflüge mit Freunden, hörte laute Musik und schlief wenig. Seit letztem Sommer dann das Kontrastprogramm: Die junge Dänin und ihr Mann liessen sich mitten im Nirgendwo an einem norwegischen Fjord nieder. Sie leben dort mit sechs anderen Bewohnern auf einer kleinen Insel vor der Küste der Stadt Rosendal und sind mit Leib und Seele im Restaurant der schwimmenden Plattform «Salmon Eye» tätig. Madsen ist Küchenchefin, Nico Danielsen ist Geschäftsführer und verantwortet den Speisesaal sowie die Rezeption. Gerade einmal 30 Jahre jung ist Madsen, aber hat 13 Jahre Erfahrung in der Haute Cuisine. Sie beherrscht das Handwerk virtuos und schwingt mit Inspiration und Überzeugung den Zauberstab, der eine perfekte Mahlzeit in etwas verwandelt, was nicht von dieser Welt zu sein scheint.


Die «Dining Experience» beginnt und endet mit einer Fahrt mit dem Elektroboot auf dem Hardangerfjord im Südwesten Norwegens. Die Gäste sollten rund sechs Stunden Zeit mitbringen, um die Insel, auf der wilde Beeren und alte Apfelsorten wachsen, zu entdecken, eine Waffel aus getrockneten Pilzen und Algenschaum zu schlemmen und dann am «Salmon Eye Centre» anzulegen, das eine Art Raumkapsel auf dem Wasser ist. In diesem eiförmigen Konstrukt, das mit 9000 Metallschuppen bedeckt ist und das aussieht, als würde ihm gleich James Bond im schwarzen Smoking entsteigen, informiert eine Ausstellung Neugierige über das Ernährungs- und vor allem das Genusspotenzial der Gewächse aus dem Meer. Im ersten Stock lädt das Gourmetrestaurant «Iris» zu einem völlig neuen Geschmackserlebnis ein. Die 18 (!) Gänge dieser Reise ins Unbekannte erforschen Zutaten, die noch nie zuvor verarbeitet wurden. Unterwassermuscheln, heimische Algen und vernachlässigte Fischsorten. Was passt dazu? Ausgewählte Weine, aber auch Kiefernzapfentee, fermentierte Säfte, Tee aus geräuchertem Rhabarber … Die neuen Geschmacksrichtungen sind so köstlich, dass Feinschmecker aus der ganzen Welt anreisen. Die von Kopf bis Fuss tätowierte, ebenso sanfte wie entschlossene Anika hat ein Ziel: ihre Gäste zu verwöhnen, ihnen aber auch die Augen zu öffnen für die mögliche Esskultur von morgen, damit die Menschen den Ozean mit demselben Respekt behandeln, den sie für die Erde einst hatten.

Das «Salmon Eye Centre» aus der Vogelperspektive: ein Informationszentrum über das Meer und das Restaurant «Iris».

Welcher Seeigel hat Sie gestochen, dass Sie sich hier niedergelassen haben?

Ich kannte Norwegen nur aus meinen Erinnerungen an Familienurlaube. Dann liess Eide Fjordbruk, der eine der grössten Lachszuchtfirmen leitet, das «Salmon Eye Centre» bauen, in dem seine Gedanken über die Ernährung der Zukunft präsentiert werden. Er nahm Kontakt mit mir auf, weil er wusste, dass die Geschichten, die meine Gerichte erzählen, seinen Überzeugungen entsprechen. Er lud mich ein, mir das Restaurant anzusehen. Was ich mit Nico kurz nach unserer Hochzeit im August letzten Jahres auch tat. Wir waren völlig überwältigt: Das Panorama ist so majestätisch, der Bau so futuristisch, die Vision von Wildprodukten so klar … Drei Tage lang konnten wir nur schweigen. Dann sagten wir nur: «Ja!» Wir hatten das Gefühl, in der Realität gelandet zu sein, in ihrer fundamentalsten Form. Und zudem hatte ich freie Hand

Und wie sieht diese neue Realität aus?

Wir sind beide Stadtkinder. Wir haben segeln gelernt, wir pflücken Beeren und entdecken Produkte, die ich nur vom Markt kannte. Ich hatte auch eine Morgensendung im dänischen Fernsehen und liebte es, dort für wenig bekannte Nahrungsmittel zu werben, die auf respektvolle Weise angebaut werden. Aber hier haben wir wirklich einzigartige Produkte von aussergewöhnlicher Qualität. Ich fühle mich wie ein Kind in einem Süssigkeitenladen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Der Seeigel! Es gibt hier eine invasive Art mit köstlichem Fleisch. Es war mir klar, dass man sich Zeit nehmen muss, die Seeigel zu ernten und zuzubereiten, auch wenn das eine Menge Arbeit bedeutet. In den Fjorden gibt es so viel Leben! Wir arbeiten mit Tauchern, die Algen, Muscheln und Weichtiere von Hand sammeln. Diese Produkte kommen direkt aus dem Meer auf den Teller und haben nichts mit industrieller Fischerei zu tun.

Und es gibt nicht nur das Meer …

In der Tat. In unserem Obstgarten wachsen zum Beispiel alte Apfelsorten. Als sie reif waren, fermentierten wir sie für unsere hausgemachten Getränke. Es ist sehr befriedigend, an die Grundlagen des menschlichen Lebens anzuknüpfen: sammeln, fischen, jagen, der Austausch mit den Nachbarn. Es ist der Traum einer Köchin!

Ist Ihre Einstellung zur Gastronomie militant?

Absolut! Ich hänge an der Idee von wilden Produkten, die ohne Kompromisse erkundet werden. Ich möchte wirklich, dass die Leute durch den Geschmack die Kostbarkeit erkennen. Die 18 Gerichte des Menüs haben alle eine bestimmte Geschichte, die beim Servieren erzählt wird. Die Idee ist, dass die Menschen einen Moment lang ehrfürchtig innehalten vor dem Schatz der Natur, der für sie zubereitet wurde.

Jede Zutat wird inszeniert. Wie dieser Lachsjungfisch auf seinem durchsichtigen Sockel …

Wir präsentieren ihn mit einem Schaum aus Pilzen, Algen und Insektenproteinen – ein Nahrungsmittel mit geringer Umweltbelastung. Und es ist köstlich! In meinen 17 Berufsjahren habe ich meine eigene Geschmacksbibliothek entwickelt. Ich habe immer in Sternerestaurants gearbeitet, war mit 25 Jahren Küchenchefin und halte heute ein ganzes Universum in meinen Händen! Ich bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Eines Ihrer Gerichte ist eine Art Trompe-l’oeil.

Ja, das falsche Herz, das ein Tatar aus Rentierfleisch enthält, das man normalerweise nicht roh isst. Ich bin begeistert von der Bewusstwerdung, die ein solches Gericht mit sich bringt. Kommende Saison werde ich übrigens auf etwas provokative Weise an der Idee der Wahrnehmung und der vorgefassten Meinungen arbeiten, die man in Bezug auf das Essen haben kann. Emotionen spielen bei unserer Ernährung eine so grosse Rolle!

Ein Herz zum Brechen: Rentiertatar in Kakaoschale und Heidelbeercoulis.

Gab es auch besonders herausfordernde Momente?

Ja, es gab einen einzigen Tag, an dem wir das Essen wegen des schlechten Wetters absagen mussten. Bis zum letzten Moment dachten wir, dass wir es schaffen würden, aber die Wellen waren so hoch, dass alles kenterte. Uns taten die Gäste unendlich leid, die von weit her gekommen waren. Aber das ganze Team musste evakuiert werden. Wir hatten dieses Szenario geübt, ohne wirklich zu glauben, dass es jemals eintreten würde. Plötzlich war der Mensch in seiner Zerbrechlichkeit wichtiger als alles andere. Das war eine grosse Herausforderung für das Team.

Haben Sie in der Vergangenheit schon einmal mit Ihrem Mann zusammengearbeitet?

Ja, als wir uns vor zehn Jahren kennenlernten. Ich war eine junge, sehr ehrgeizige Chefin und er war mein super kontrollierender Sous-Chef … Damals gingen wir beruflich getrennte Wege, weil wir nicht reif genug waren, um mit der Situation umzugehen. Im Laufe der Jahre haben wir jedoch festgestellt, dass wir ein tolles Team sind. Der Ortswechsel entsprach auch dem tiefen Bedürfnis, unser Leben zu verändern. Es ist wunderbar, auf der einen Seite des Hauses nur den Wald und auf der anderen Seite den Ozean zu sehen. Die Stille ist so kostbar. Genauso wie die Konzentration.

Wofür steht der Name Iris?

Iris war eine griechische Göttin. Sie war eine Botschafterin, und so sehe ich auch meine Rolle. Wir sind hier, um Licht in die Dunkelheit zu bringen – was übrigens auch die Funktion der Iris im Auge ist – und das bemerkenswerte Potenzial einer respektvollen und bewussten Nahrungskette unter der Meeresoberfläche oder an Land aufzuzeigen. Das ist ein neuer Luxus .

Die Metallstruktur des «Salmon Eye Centre» erinnert an die Schuppen eines Fisches.