Plötzlich betreiben alle grossen Beautymarken ihre eigenen Gärten. Mit integrierten Labors sind sie mehr als nur eine Augenweide: Hier wachsen die Ressourcen der Zukunft.

Noch bevor die Sonne zu hoch über den Horizont steigt, strömen die Pflückerinnen aufs Feld, grosse, flache Körbe in die Hüfte gestemmt. Heute werden die zarten Mohnblumen gepflückt; morgen sind der Jasmin, der Beifuss und die Rosengeranie dran. Wir befinden uns im Ourika-Tal im Hohen Atlas, etwa eine Autostunde von Marrakesch entfernt, wo YSL Beauty diesen Sommer genossenschaftliche Gärten eröffnet hat, in welchen – ganz nach dem Vorbild der zu L’ Oréal gehörenden Marke – die Welt der Körperpflege auf jene der Ästhetik trifft: Während die Pflanzen dafür bestimmt sind, Beautyprodukte mit ihren Wirkstoffen und ihrem Duft anzureichern (beim soeben lancierten Lippenstift «Rouge Pur Couture The Bold» kommen etwa Mohnblumen zum Einsatz), erkennt man in der Bepflanzung die strahlenden Farbkompositionen von Yves Saint Laurent wieder. Wir schlendern zwischen den Beeten herum, reiben hier ein Eisenkraut-, dort ein Salbeiblatt zwischen unseren Fingern und denken: Er hat etwas Magisches, dieser Ort. 

Die bekannte französische Modekritikerin und Yves-Saint-Laurent-Biografin Laurence Benaïm nickt begeistert, während sie durch die Reihen von Ringelblumen geht: «Für mich schlägt das Herz von Yves genau hier, in diesem Garten. Diese Landschaft transportiert seinen Zauber und seine Emotionen wie keine andere auf der Welt.» Die 61-jährige Journalistin half den auf Trockengebiete spezialisierten Landschaftsarchitekten Eric Ossart und Arnaud Maurières dabei, 40 nach den Prinzipien der regenerativen Landwirtschaft ausgewählten Pflanzenarten gemäss den von Saint Laurent erstellten Farbpaletten anzuordnen. 

Anders als das 2017 in Marrakesch eröffnete YSL-Museum ist der YSL-Garten freilich nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt (auch wenn man auf gelegentliche Sonderöffnungen hoffen darf). «Er ist in erster Linie für Forschungszwecke da», erklären die Landschaftsarchitekten. Damit entspricht er allerdings einem Trend: Viel mehr als nur ein spektakuläres PR-Tool sind firmeneigene Gärten ein wichtiger (und sehr kostspieliger) Schritt auf dem langsamen Weg hin zu ökologischer Verantwortung, transparenten Lieferketten und fairen Produktionsbedingungen. 

Stephan Bezy, seit 2012 Geschäftsführer von YSL Beauty, erinnert sich, während die rote Erde des Hohen Atlas auf seinen Schuhspitzen leuchtet: «Als ich meine Stelle antrat, merkte ich rasch, dass wir uns auf die Natur würden zurückbesinnen müssen. Schon damals galt in der ganzen Kosmetikbranche die Devise ‹Go natural or go home!›, die den herrschenden Zeitgeist, vor allem aber das Bedürfnis der Kundschaft und der Mitarbeitenden widerspiegelte. Die Frage lautete: Was für ein Projekt ist für uns sinnvoll? Und da kamen wir natürlich bald auf Marokko: Die Marke YSL hat diesem Land so viel an Inspiration zu verdanken. Es war an der Zeit, etwas zurückzugeben.» 

Am Anfang war der Safran

Aber einfach den Zauberstab schwenken und, hopp!, ein solcher Plan ist Realität geworden: So läuft das natürlich nicht. Das musste auch Caroline Nègre – damals wissenschaftliche Direktorin, heute zudem Beauftragte für die nachhaltige Entwicklung der Marke – feststellen, die man damals nach Marokko entsandte, um vor Ort nach einem kraftvollen Safran zu suchen. (Die Stempelfäden der Pflanze enthalten Anti-Aging-Wirkstoffe, die in der Pflegelinie «Or Rouge» Verwendung finden sollten.) Schnell war klar: Hier mahlen die Mühlen langsamer und ist alles etwas komplizierter.

Doch Caroline Nègre liess sich nicht entmutigen und ging eins nach dem anderen an. Sie pachtete Land, stellte die Ausbildung der Landwirte und die Qualität der Safranernte sicher – und trat so einen regelrechten Transformationsprozess los. Im Laufe der Jahre entstand eine Gemeinschaft von inzwischen 33 Frauen, die dem Safran-Projekt ihre Ausbildung (auch im Bereich Handel und Verwaltung) und eine feste Anstellung verdanken. Das Projekt weitete sich zudem vom Safran auf andere Pflanzen – und dadurch auch räumlich – aus. 

Heute, zehn Jahre später, verfügen die kommunalen Gärten im Ourika-Tal sogar über ein eigenes Labor, in dem die Pflanzen in ihrem frischesten Zustand analysiert werden. Und jedes Produkt von YSL Beauty enthält mindestens eine Ingredienz aus diesem firmeneigenen Garten Eden. «Das Projekt ist das Fundament unseres Engagements für die Umwelt», erklärt Stephan Bezy. Die Marke hat jedoch nicht vor, sich im Schatten der Orangenbäume auszuruhen: Das Vorgehen soll auch anderswo adaptiert werden, etwa in Haïti (wo der Konzern Vetiver bezieht), in Madagaskar (Vanille, Geranium) und in Indonesien (Patschuli). YSL Beauty engagiert sich ausserdem an der Seite der NGO Re:wild und will bis 2030 auf einer Fläche von 100 000 Hektar die Biodiversität wiederherstellen und schützen. 

Und was antwortet Caroline Nègre den Stänkerern, die hinter diesem Engagement Greenwashing vermuten? «Wir behaupten nicht, alles schon jetzt optimal zu machen. Wir lernen konstant dazu. Aber wir arbeiten transparent und eng zusammen mit den Menschen vor Ort. Ich kann Ihnen den Namen der Pflückerin nennen, welche die Ringelblume gesammelt hat, die in drei Monaten in Ihrer Creme sein wird.» 

Vom Feld in den Tiegel

YSL Beauty ist mit seinem Projekt nicht allein. Eifrig werden prachtvolle Gärten ins Leben gerufen, die den Beauty-Giganten als Inspirationsquelle dienen, die Versorgung mit Grundstoffen sicherstellen – und nicht zuletzt Umwelt-Engagement demonstrieren. Clarins zum Beispiel berichtet gern über sein zehn Hektar grosses Stück Land auf 1400 Höhenmetern inmitten wilder Natur in Serraval, in den französischen Alpen der Haute-Savoie. Das 1954 von Jacques Courtin-Clarins gegründete Unternehmen setzte von Anfang an auf die Wirkungskraft der Pflanzen. Nun finden sich in seinen Produkten zunehmend die Pflanzenarten aus diesem Landstück, das von der Permakultur profitiert und von Pferden ohne schwere Mechanik gepflügt wird: ein «beispielhafter Produktionsstandort». Seit 1993 ist das Unternehmen in der Berglandwirtschaft tätig. In der Höhe blühen hochwiderstandfähiger Gelber Enzian, Melisse, beruhigende Hauswurz und Frauenschuh, eine sehr seltene und gefährdete Orchideenart. Das Anlegen des Gartens brauchte Zeit, aber die Ergebnisse werden langsam sichtbar: 2019 wurden 1,5 Tonnen an zwanzig unterschiedlichen Pflanzenarten geerntet. Das Unternehmen strebt eine hundertprozentige Vom-Feld-in-den-Tiegel-Produktion an – und hat eine B-Corp-Zertifizierung für nächstes Jahr in Aussicht. 

Dior hat sich derweil auf die Königin der Blumen spezialisiert und 2021 einen Rosengarten eröffnet – als Hommage an die Rose von Granville, die trotz der Gischt auf den Klippen der Normandie, nahe des Geburtshauses von Christian Dior, blüht. Und so gehört dem Unternehmen nun ein sieben Hektar grosses Terrain mit bald 5000 verschiedenen Pflanzen. Die Ziele: Landschaftsschutz, Biodiversität und Forschung. Gerade kommt das erste Produkt aus dem Rosengarten auf den Markt: La Crème, eine Gesichtspflege, welche die Zeichen der Hautalterung mildert. 

Druck geriet. Im Moment stehen die Zeichen aber auf Revival: Im Zuge der allgemeinen Rückbesinnung auf Tradition und Handwerk legen aktuell diverse Big Player der Beautyindustrie eigene Felder und Gärten an. Im Herzen der Stadt Grasse hat die Luxus-Konzerngruppe LVMH im Jahr 2016 zudem ein aussergewöhnliches Projekt gestartet: Unter dem Namen Les Fontaines Parfumées wurde ein altes Landhaus in eine teils öffentlich zugängliche Forschungseinrichtung für Parfümerie umgewandelt. Starparfümeure wie Jacques Cavallier-Belletrud und François Demachy, beide in der Region aufgewachsen, arbeiten hier nun tagaus, tagein, während unter ihren Fenstern die Blumen ihrer Kindheit im institutseigenen Garten wachsen. 

Auch Christian Dior lebte in den 1950er-Jahren an diesem schönen Fleck der Erde: Sein Schlösschen La Colle Noire steht malerisch am Ende einer Eibenallee, umgeben – natürlich – von einem wunderschönen Garten (der die Farbpalette der Inneneinrichtung des Schlosses in Rosa, Grün und Weiss vorgab). 2016 wurden das Gut und die Ländereien durch die Firma Dior liebevoll auf Vordermann gebracht. 

Etwas weiter weg, jedoch immer noch in der Nähe von Grasse, weiht Lancôme diesen Sommer die Domaine de la Rose ein. Der Rosengarten mit 10 000 alten und lokalen Rosenarten ist eine Hommage an die Blume, die seit der Gründung der Firma im Jahr 1935 in ihrem Logo blüht. 

2000 verschiedene Kamelien

Pionierarbeit geleistet hat Chanel: Bereits seit 1987 pflegt die Traditionsmarke die Blumenproduktion in Grasse. Der firmeneigene Garten liegt indes im Südwesten Frankreichs, im rund 100 Kilometer von der Atlantikküste entfernten Gaujacq. Hier dreht sich alles um die Kamelie, jene zarte, aber robuste Blume aus der Himalaya-Region, die sich Gabrielle Chanel gern ans Revers steckte. Während sich die Wissenschaftler im Labor der chemischen Eigenheiten der Kamelie annehmen, blühen ringsum 2000 verschiedene Arten, die aus der ganzen Welt zusammengetragen wurden – darunter die Abkömmlinge der zwei Exemplare, die Mademoiselle Chanel vor über 100 Jahren bestellt haben soll! 

Wenn Blumen sprechen könnten, was würden sie uns wohl erzählen? Bestimmt eine Geschichte, in der es um Schönheit, Luxus und Tradition geht. Aber – nehmen wir an, dass es sich um zeitgenössische Blumen handelt – auch um Wertschätzung für die Natur und den schonenden Umgang mit ihr, um Transparenz, Zertifizierung und generationenübergreifende Verantwortung. Wenn man nur genau hinhört, hat uns jeder Garten etwas mitzuteilen. Wir sollten (wieder) lernen, die Ohren zu spitzen.