Radikale Architektur inmitten wilder Landschaften: Norwegen lädt dazu ein, die Natur durch künstlerische gebäude mit neuen Augen zu sehen.

Die Reisende dürstet es nach Horizonten – und der Blick aus dem Fenster stillt die Sehnsucht. Fest in ihr warmes Duvet eingekuschelt, erstreckt sich der Lysefjord an der Südwestküste Norwegens zu ihren Füssen. Allein ein solches Bett, das in den Wolken zu hängen scheint, ist die Reise in den Norden wert. Das Schlafzimmer gleicht einem Adlerhorst, der von drei Glaswänden umgeben ist, die den Eindruck erwecken, dass man nur einen Schritt tun müsste, und man würde den Abhang hinunterpurzeln. Die einzige Gesellschaft: die Sterne, die in dieser klaren Winternacht auch durch die Glasdecke zu sehen sind. Wer will schon im Geplätscher der sozialen Netzwerke herumtollen, wenn das Naturschauspiel unsere übervernetzten städtischen Orientierungspunkte so sehr auf den Kopf stellt? Der Schnee, die Kiefern, die sich an den Felsen festklammern, die Granitblöcke, die am Hang balancieren. Es ist eine Rückkehr zum Wesentlichen …   

Am nächsten Tag wütet ein Schneegestöber vor den Fensterscheiben. Die «The Bolder Skylodge» bietet eine neue Vision der Luxushotellerie: sechs Hütten mit minimalistischer und gewagter Architektur, die in 170 Hektar unberührter Natur an den Fels gedockt sind, wo sich die Gäste für ein paar Nächte den Elementen stellen. Es gibt kein Empfangskomitee, die Gäste reisen mit etwas Proviant und dem Code an, der die Tür freigibt. Dann geht es los in die Weite. Zu Fuss, um die Umgebung zu erkunden, oder im Lotussitz – für einen kontemplativeren Ansatz.


Die Anlage wurde erst kürzlich auf einer Klippe errichtet, mit dem festen Willen, die Auswirkungen auf die Umwelt so gering wie möglich zu halten und die Gebäude durch ihre geringe Grösse, aber auch durch die Verwendung von Holz aus der Umgebung mit ihr zu verschmelzen. Das Restaurant, für das gerade die Baugenehmigung erteilt wurde, wird in den Fels gebettet sein. Meine Kabine – die Skylodge 1 – ruht auf einem einzigen zentralen Pfeiler, als stünde sie auf einer Zehenspitze. Das Bolder-Projekt ist das jüngste in Norwegen,  das einen innovativen Dialog mit den Elementen sucht. Seit einigen Jahren werden die klassischen nordischen Bauten – charmante, weiss gestrichene Holzhäuser mit spitzen Dächern – durch avantgardistische Objekte ergänzt, bei denen man über das Zusammenleben von Mensch und Wildnis reflektiert. In einem Land, in dem weniger als zwei Prozent der Fläche bebaut sind, ist das Feld der Möglichkeiten, was unberührte Natur angeht, weit. Die «Bolder Skylodge» ist das Werk des renommierten Architekturbüros Snøhetta mit Sitz in Oslo. Frank Denis Foray ist Co-Direktor des Büros und erklärt die Vision hinter dem Konzept: «Diese Region Norwegens ist besonders spektakulär und wir wollten unseren grossen Respekt vor ihrer Grösse zeigen. Von den Kabinen aus kann man die Landschaft wie einen Film betrachten.»

Die drei Pavillons des von Peter Zumthor entworfenen Zinkminenmuseums, die sich an den Berg klammern, wurden erst nach 14 Jahren im Jahr 2016.

Es ist offensichtlich, dass Norwegen als Experimentierfeld für Architektur gilt, die extremen Bedingungen standhalten muss. Laut Foray erfolgte die Initialzündung 2007, als das gefeierte Opernhaus in Oslo mit seinem esplanadenartigen, zum Meer hin geneigten Dach – ein weiteres Bauwerk von Snøhetta – eröff-net wurde. «Bis dahin», erklärt er, «hatte die Bevölkerung kein kulturelles Interesse an Architektur gezeigt. Als die Menschen auf das Dach kletterten, wurde ihnen plötzlich bewusst, wie ein Gebäude die Beziehung zur Landschaft verändern kann. Es eröff-nen sich neue Blickwinkel, neue Zugänge, neue Empfindungen. Diese Erfahrung hat wirklich kreative Felder initiiert, in denen sich Architekten austoben können.» Die Dynamik ist auch in dem Erfolg der Norwegischen Landschaftsrouten verankert, eines Projekts des Fremdenverkehrsamts, das bereits im Jahr 2000 begann, aber im Laufe der Zeit immer grössere Ausmasse annahm. Heute gibt es 18 markierte Routen. Sie sind flankiert von Rastplätzen, Aussichtsplattformen, aber auch von Kunstinstallationen. Auf diese Weise sollten die Norweger dazu gebracht werden, ihre Liebesschwüre an ihr eigenes Land zu erneuern, und davon abgehalten werden, ihr Geld in Ibiza auszugeben, wenn die ersten Herbstnebel aufziehen. Der Erfolg übertraf die Erwartungen und trug auch dazu bei, dass die Fjorde und ihre Steilküsten heute bei Touristen so beliebt sind. In der Nähe der Stadt Sauda beispielsweise folgt eine schwindelerregende Treppe mit 540 Stufen dem Wasserfall Svandalsfossen und ermöglicht es, die Kraft des Wassers hautnah zu erleben. Etwas weiter entfernt, in der Nähe von Sand, überspannt die Metallbrücke von Høsebrua den tosenden Fluss und zieht wie ein Bindestrich zwischen zwei Berghängen eine horizontale Linie inmitten all die Vertikalität. 

Anderswo, in der Dunkelheit einer engen Schlucht, hat der berühmte Schweizer Architekt Peter Zumthor ein Museum für eine ehemalige Zinkmine entworfen, die hier betrieben wurde: Drei Pavillons auf geteerten Kiefernstelzen sehen wie unheimliche mechanische Insekten aus. Jede Pause auf der Strasse, und sei sie noch so nützlich, nimmt kosmische Dimensionen an, da die Linien und oftmals die grossen Fenster den Blick auf eine Landschaft lenken, die wie inszeniert wirkt.
Die neue Sauna des «Energihotelett» folgt auch dem Ansatz der gerahmten Natur mit einer transparenten Wand mit Blick auf die Berge. Die Idee ist, im Dunkeln zu schwitzen, während die hellen Details von aussen ein abstraktes Werk zeichnen. Nackt vor der Unendlichkeit … Eine Sauna ist vielleicht keine architektonische Herausforderung, aber sie wurde mit Ehrerbietung geplant: Das Hotel befindet sich im ehemaligen Konferenzraum des Wasserkraftwerks, das 1963 vom Architekten Geir Grung entworfen und mit Respekt für den brutalistischen Geist der Zeit umgebaut wurde. Die Nebengebäude – und die Sauna! – wurden gerade von Tai Grung, der Tochter des Meisters, fertiggestellt. Auch hier strömen Ästheten und Liebhaber aussergewöhnlicher Gebäude herbei, trotzen Stürmen und Schneewehen im Winter, um diesen einzigartigen Dialog zwischen einem Gebäude und dem Ort, an dem es steht, zu erleben.

Gefrorene Wasserfälle und Schneeverwehungen

Die Südwestküste Norwegens, zwischen Bergen und südlich von Stavanger, ist eine der meistbesuchten Küstenabschnitte des Landes, weil die Fjorde spektakulär ins Land hineinragen. Die Strasse ist manchmal so schmal, dass zwei Autos nicht aneinander vorbeifahren können – achten Sie auf das «M»-Schild, das diese Passagen kennzeichnet! Man mag das sanfte Grün im Sommer und das saftige Gras, das die Schafherden nährt, lieben. Aber was für ein Anblick ist die Region in der Nebensaison, wenn die Touristen verschwinden, wenn die verschneiten Strassen kaum von den Weiden zu unterscheiden sind und wenn das zarte Rosa einer späten Morgendämmerung an sonnigen Wintertagen die Landschaft flutet! Hinter ihren zerbrechlichen Gitterstäben scheinen die gefrorenen Wasserfälle die Felsen einzuschliessen. Und dieser Himmel! Diese graubeigen Farbtöne, wenn das Licht schwindet!
Sogar die natürlichen Sehenswürdigkeiten sind bei Schneefall zugänglich, und das Sprichwort «Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung» kommt einem in den Sinn. Das gilt sowohl für die Schneereifen der Autos, die den Schneewehen trotzen (Dank an dieser Stelle auch ans beheizte Lenkrad!), als auch für die Schuhe, die mit einer robusten Sohle ausgestattet sind. An diesem watteweichen, schneebedeckten Morgen Anfang Dezember machen sich ein paar Dutzend Wanderer zum berühmten Preikestolen auf: einem flachen Felsen auf einer 604 Meter hohen Klippe über dem Fjord und Wahrzeichen der Region. Die vierstündige Wanderung führt durch feinsten Pulverschnee.

Es begann mit dem Öl

Stavanger und das Ölmuseum sollte man ebenfalls besuchen, um zu verstehen, warum die Norweger auf dem Feld des Bauingenieurwesens Meister geworden sind. Als die Entdeckung des schwarzen Goldes in der stürmischen Nordsee 1971 das Schicksal des Landes veränderte, mussten Ölplattformen für das offene Meer entworfen werden, die allen Wetterkapriolen standhalten. Im Museum werden diese überdimensionalen Stahlbetonkonstruktionen erklärt, etwa die Troll-Plattform, die 15-mal so gross ist wie der Eiffelturm und aus einer Million Tonnen Beton und Metall besteht. Die Bauwerke in den Bergen, die an Felsen befestigt sind, die unter Fjorden liegen und Wasserfälle überspannen, sind die Erben dieser Handwerkskunst

Wenn man an die riesigen Strassentunnel denkt, die derzeit unter dem Meer gebaut werden, damit das Land schneller durchquert werden kann, wird einem klar, dass die norwegischen Bauherren vor nichts Angst haben. «Wenn es etwas gibt, was wir in Norwegen gut können, dann ist es das Bauen mit den Elementen,» sagt Foray. Die norwegische Wirtschaft blüht, die Wünsche prasseln von allen Seiten ein und das Ingenieurwissen ist enorm.» Das Zusammenspiel dieser drei Elemente führt zu einem kreativen Bauboom, vor allem an entlegenen Orten wie dem Forsand-Hang, wo die Bolder-Kabinen stehen. Lange Zeit galt das Gefälle als zu steil, um bebaut zu werden. Doch das Wort «unmöglich» scheint aus der norwegischen Architektursprache getilgt zu sein. 

Man schaue sich  nur das Restaurant «Under» an, das in der Nähe der Stadt Lindesnes im Süden des Landes direkt in die Nordsee abtaucht. Wie ein halb gestrandetes U-Boot liegt es am Ufer, wie ein Betonriff, das allmählich vom Meeresboden besiedelt wird. Die Gäste betreten das Gebäude über das Festland und tauchen dann mehr als fünf Meter unter die Oberfläche ab, um zwischen Quallen und Plankton zu speisen. Feinschmecker, die das Glück hatten, an diesem aussergewöhnlichen Ort zu Tisch zu sitzen, sind überwältigt: Sie sprechen von dem Gefühl, das Meer zu essen, es zu atmen und davon, dass der Fisch hinter dem Glas direkt auf ihren Teller geschwommen sei.


Die grosse Stärke dieser futuristischen Bauten liegt darin, dass sie oft an unmöglichen Orten, mitten im Nirgendwo stehen. An Plätzen, die so unberührt sind, dass man sich kaum vorstellen kann, wie viel Energie man anderswo (z. B. in der Schweiz …) hätte aufwenden müssen, um eine Baugenehmigung zu erhalten. Ist Norwegen also ein Land ohne Glauben und Gesetz? «Natürlich gibt es Vorschriften», sagt Foray lachend, «aber die Diskussion ist so rege, dass eine penible Anwendung der Gesetze nicht das Mass der Dinge ist. Die Behörden hören sich die Argumente genau an. Wir können uns daher Verrücktheiten erlauben, die anderswo wahrscheinlich nicht durchgehen würden.» Es stimmt, dass Norwegen, anders als zum Beispiel sein Nachbar Schweden, gegen die Ausweitung der Städte ist. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt auf dem Land, die Landwirtschaft wird stark gefördert. Und überall sonst: Natur, so weit das Auge blickt. Selbst vom Zentrum Oslos aus ist sie nie weit entfernt. Sportler können von zu Hause aus mit ihren Ski und dem Bus zur nächsten Gondelbahn fahren. Um all diese abgelegenen Orte aufzupeppen und den Tourismus zu fördern, der die wirtschaftliche Rolle des Erdöls übernehmen soll, wird auf innovative Lösungen gesetzt. Sie verkörpern den Geist der Freiheit, den Stolz auf die Beherrschung der Elemente, und sie sind vor allem eine Hommage an den wildesten Trumpf des Landes: die erhabene Natur. 

Der Pier am Sundshopen-See (von Rever & Drage Architects) ist die neueste Ergänzung der Norwegischen Landschaftsrouten.

Entlang der Route …

The Bolder Skylodge Sechs Kabinen inmitten der rauen Natur. Eine Stunde von Stavanger entfernt.  Ab 315 Fr. pro Nacht.  www.thebolder.no

Energihotelett Ein sehr kunstvolles Hotel in einem alten Industriekomplex in Nesflatten. Ab 250 Fr. www.energihotellet.no

Restaurant Under Unterwasserlokal in der Nähe von Lindesnes. Wiedereröffnung im März geplant, mit einem über- arbeiteten gastronomischen Konzept. www.under.no
Panoramastrasse Ryfylke Die Strasse zwischen Bergen und Stavanger windet sich zwischen Fjorden und Bergen durch eine Region, die für ihre landwirtschaftlichen und maritimen Produkte bekannt ist. Es gibt aber auch viele spektakuläre architektonische Sehenswürdigkeiten.
Reiseveranstalter Voyageurs du Monde organisiert individuelle, massgeschneiderte Reisen. Das Expertenteam wird ergänzt durch den reaktionsschnellen Concierge-Service per WhatsApp. Neben den Büros in Lausanne und Genf soll Ende Jahr auch eins in Zürich eröffnen. www.voyageursdumonde.ch

 

Die Route in Bildern