Der italienische Designer und Zeichner Hannes Peer bezieht sich auf historische Vorbilder. Das Ergebnis? Nostalgische Utopien.

Nein, Hannes Peer verkörpert nicht das Klischee eines Designers, der in anderen Sphären schwebt. Stattdessen ein kräftiger Händedruck und ein Blick, der Röntgenstrahlen gleicht. Doch der leicht martialische Eindruck, den die Cargohose erweckt, täuscht: Peer ist ein Quell an kreativen Ideen und an historischen Referenzen. Er erwähnt Joseph Beuys und Nietzsche, den Filmemacher Stanley Kubrick und den französischen Designer Pierre Paulin. Er spricht in einem rasanten Tempo, in einem Fluss, der von Stein zu Stein schwappt. Kurz innehalten, bitte! Wir brauchen eine Atempause, um die Möbel aus seiner ersten Zusammenarbeit mit Minotti zu entdecken. In Meda, in der Nähe von Mailand, wo das Designhaus seinen Sitz und seine Ausstellungsräume hat, und wo – wie viele finden – die besten Möbel «made in Italy» hergestellt werden.


Peer zeigt die neue Sofaserie Yves, die entsprechend den ausgewählten Elementen variabel ist: von klassisch-streng bis organisch-fliessend. «Schauen Sie», ruft er, während er sich auf einen runden Hocker mit winzigen Rollen setzt, «ich kann mich dieser Vertiefung des Sofas nähern und mich in einem intimen Vieraugengespräch mit jemandem unterhalten. Wenn wir uns nicht einig sind, kann ich durch eine einfache Bewegung der Beine Distanz schaffen.» Eine Anleihe bei Michelangelo und den Fingern, die sich an der Decke der Sixtinischen Kapelle suchen …


Der 48-jährige Peer wird in allen internationalen Rankings als einer der wichtigsten Designer gelistet. Der gelernte Zimmermann und Architekt hat sowohl Privatwohnungen als auch Firmensitze von Modemarken (Iceberg oder No. 21) und auch Hotels inszeniert, wie das kürzlich eröffnete «Pergola Résidence» in Südtirol, wo er geboren wurde. Oder das neue «The Manner» im New Yorker Stadtteil Soho. Seine Ästhetik wendet sich bewusst vom Purismus ab. Stattdessen dramatische, opulente und raffinierte Räume, in denen ein Bauhausstück neben einer Mingvase steht und der neue Tisch Nico aus grünem Marmor mit antiken Stühlen kombiniert werden könnte.


Es war dieser theatralische Ansatz, der Minotti dazu veranlasste, den Designer für eine Kooperation anzufragen. «Ich bin begeistert von seinem kontextuellen Ansatz, er hat mich sehr angesprochen», erklärt Roberto Minotti, der das Familienunternehmen gemeinsam mit seinem Bruder Renato leitet. Es geht nicht nur darum, schöne Möbel zu produzieren, sondern Szenen zu schaffen, in denen alle Elemente miteinander agieren, in denen die Empfindungen im Vordergrund stehen. Die Zusammenarbeit – wie auch die mit dem amerikanisch-mailändischen Designer Giampiero Tagliaferri – erfolgt zu einem sehr sensiblen Zeitpunkt für das Unternehmen: Nachdem der grosse Rodolfo Dordoni, der Designer, der seit 1998 alle Kollektionen des Hauses betreut hat, vergangenes Jahr im Alter von 69 Jahren viel zu früh verstorben ist, leitet Minotti eine neue Ära ein – mit jeder Menge frischem Schwung.

Die Caracalla-Thermen in Rom sind gerade in einer aufgewerteten Version der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

Was bedeutet die Zusammenarbeit mit Minotti für Sie?

Es ist eine wunderbare und spannende Arbeit, bei der wir uns über Jahre hinweg aufeinander zubewegt haben, um eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Vor allem zwei Dinge faszinieren mich: zum einen die zutiefst menschliche Seite eines Unternehmens, das ansonsten eine perfekte, sehr industrielle Erfolgsmaschine ist. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Stunden wir mit allen sechs Familienmitgliedern zusammengesessen und Ideen skizziert haben. Ich muss sagen: Ich habe mich verliebt  … beruflich gesehen! Zum anderen verblüfft mich die absolute Kompromisslosigkeit bei der Qualität bei allen Möbeln von Minotti. Die Nähte sind perfekt auf die Beine des Möbelstücks ausgerichtet, die Verarbeitung ist makellos. Für jemanden wie mich, der Stühle umdreht, um zu sehen, wie sie gebaut sind, ist das ein Geschenk.

Ursprünglich sollten Sie nur ein Sofasystem entwerfen – daraus sind 22 Möbelstücke geworden. Wie kam’s?

Das war nicht geplant. Wir haben uns von der Begeisterung mitreissen lassen, es war eine Art kreative Raserei. So entstanden ein Esstisch, Beistelltische, ein Bücherregal, ein Bett, ein Paravent  … Auch das ist die Magie des Menschseins: Dinge plötzlich aus reiner Lust möglich zu machen. Halten Sie sich fest: Die Variationen des Sofasystems Yves füllen 300 Seiten!

Das Sofa heisst Yves als Hommage an Yves Saint Laurent. Welche Beziehung haben Sie zur Mode?

Der Schaffensprozess von Couture und von gutem Design ist ähnlich. Um die perfekte T-Shirt-Passform zu finden, muss man
24 Stunden lang Modelle ausprobieren, um ein perfektes Sofa zu entwerfen, benötigt man etwa 15 Prototypen. Beides erfordert absolute Aufmerksamkeit für scheinbar unsichtbare Details. Ich weiss das so gut, weil mein Mann Modedesigner ist. Was Yves Saint Laurent angeht, so stellt er natürlich einen wichtigen Meilenstein in der ästhetischen Geschichte dar. Ich zolle ihm Respekt für die Art und Weise, wie er mit Codes gebrochen und Kunst in die Kleidung eingebracht hat. Ich denke dabei besonders an seine Mondrian-Kollektion, in der er es schaffte, etwas sehr Starres zu dekonstruieren, um daraus ein tragbares, organisches Stück zu machen. Der Ansatz war sehr radikal. Ich hänge an kulturell aufgeladenen Stücken, die das Zeug zu zukünftigen Klassikern haben.

Ihre Referenzen reichen von Yves Saint Laurent bis zu Michelangelo.

Ein Architekt oder Designer muss seine Inspiration aus sehr unterschiedlichen Quellen schöpfen, um Langeweile zu vermeiden. Aber ich verehre tatsächlich Michelangelos Pietà, die, wie mein Kunstgeschichtslehrer betonte, den Grundstein für die abstrakte Kunst legt. Stellen Sie sich vor: Ein Künstler aus dem 15. Jahrhundert vollendet sein Werk mit Absicht nicht und veröffentlicht diese Skizze. Dieses Konzept der Unfertigkeit ist meiner Meinung nach eine der stärksten Gesten in der Kunstgeschichte. Es lässt der Vorstellungskraft des Betrachters Raum.

Zurück zu den Möbeln: Was ist an Yves so besonders?

In einer Welt, in der viele Objekte zu laut sprechen, schreit es nicht, sondern vermittelt stattdessen eine Botschaft der Freiheit. «Drück dich aus!», sagt es, indem es dazu anregt, die Elemente auf klassische oder wellenförmige Weise zusammenzusetzen, sie in Serie oder als Einzelstück aufzustellen. Diese Möbel sind eine Einladung zum Spielen. Die Wahl des Käufers sagt viel darüber aus, wer er oder sie ist.

    Die Möbelserie Yves für Minotti ist eine Hommage an die disruptive Vision von Yves Saint Laurent.

    Sie beziehen sich oft auf die 1970er-Jahre, dabei waren Sie da noch nicht einmal geboren!

    Ich spreche gerne von nostalgischer Utopie – oder utopischer Nostalgie! Damit meine ich, dass jedes Zeitalter auf dem vorherigen aufbaut, dass jede Schöpfung aus ihren Vorgängerinnen schöpft. Es ist wie ein Zitat von Picasso: «Gute Künstler kopieren, grosse Künstler stehlen.» Dieser Ansatz ist schön: Er bedeutet einfach, dass man Ehrerbietung erweisen und seine Referenzen zitieren muss.

    Aber warum gerade die 1970er-Jahre?

    Die 1970er-Jahre stellten alles auf den Kopf. Sie schrien nach kreativer Freiheit. In der Ästhetik, aber auch in der Gesellschaft: Alle Träume schienen realisierbar. Dieser absolute Bruch mit den Normen ist sehr inspirierend. Ich habe sie nicht selbst erlebt, aber alle meine historischen Recherchen führen mich zu diesen Utopien zurück. Ich versuche, meinen Studierenden zu vermitteln, danach zu streben, die Welt zu verändern, anstatt im Metaversum zu träumen. In den 1970er- Jahren wurden im Design alle Codes gebrochen. Ein Designprojekt ist nur dann sinnvoll, wenn es – und sei es auch noch so klein – dazu beiträgt, eine andere Welt zu gestalten.

    In den letzten Jahren wurde Eleganz mit Purismus gleichgesetzt. Sie hingegen stehen für Eklektizismus und Überfluss.

    Für mich ist Minimalismus oft ein Mangel an Erfindungsreichtum. Ein Haus oder eine Wohnung sollte erzählen, wer die Menschen sind, die darin leben. Ich erschrecke immer ein wenig, wenn ich zehn Jahre später an einen Ort zurückkehre, den ich entworfen habe, und sich dort nichts bewegt hat. Man darf Ideen nicht mumifizieren! Der Eklektizismus kommt von dort: von dem, was jeder aus seinem persönlichen Leben mitbringt, so wie es sich bewegt und verändert.

    In Rom haben Sie sich gerade an den berühmten Caracalla-Thermen verdingt. Das neue Becken spiegelt römische Ruinen wider und bringt das Wasser zurück.

    Und das ist nur der erste Schritt zur Aufwertung der archäologischen Stätte, die mit einer Fläche von zehn Hektar riesig ist. Mit seinen Wasserspielen und Scheinwerfern ist der Ort sehr spektakulär und instagrammable. Aber der städtebauliche Ansatz ist viel tiefgreifender und wird es nach und nach ermöglichen, das im Jahr 216 n. Chr. eingeweihte Monument der Stadt zurückzugeben und zu neuem Leben zu erwecken. Vielleicht zeichne ich mich nicht immer durch übermässige Bescheidenheit aus, aber bei einem Projekt, das 2000 Jahre Geschichte bündelt, muss man sich wirklich bescheiden zeigen und sich in den Dienst jedes einzelnen Steins stellen.

    Das Wasser spielt eine wichtige Rolle.

    Was lag näher, als die Thermen sich selbst spiegeln zu lassen? Natürlich konnten wir das Wasser nicht wieder in das alte, innere Schwimmbecken einlassen, aber es ist, als hätten wir es symbolisch herausgezogen. Die Reflexion ist eine Utopie, aber das Wasser ist real – ich liebe dieses Spiel. Und es gibt einen filmischen Effekt, fast eine Anspielung auf Stanley Kubricks Monolith aus dem Film «Odyssee im Weltraum».

    Das Projekt beschäftigt Sie bereits seit drei Jahren.

    Und es hat mich verändert. Es hat meine Art, die Welt zu betrachten, verändert. Ich hätte nie gedacht, dass ein öffentlicher Auftrag dieser Grössenordnung, der politisch so sensibel ist, an ein kleines Studio wie das meine vergeben würde. Ich träumte davon, hatte Albträume. Und bei der offiziellen Einweihung sah ich plötzlich ein kleines Mädchen und einen kleinen Jungen mit dem Wasser spielen, dann kamen fünf, dann zehn weitere dazu. Ich fing an zu weinen. Dieser Ort war wieder zum Leben erwacht, die Radikalität meiner Vision hatte sich mit der Bürokratie vertragen und etwas Wunderbares geschaffen, das die Menschen dazu brachte, die antike Welt mit anderen Augen zu sehen.

    Erzählen Sie mir von Ihrem Mailänder Studio.

    Ich arbeite gemeinsam mit fünf weiteren Architekten. Ich möchte diese Grösse beibehalten, klein und gemütlich. Deshalb engagiere ich externe Studios für spezielle Aufgaben, die uns überlasten würden. Die gesamte gigantische Verwaltungsarbeit für die Caracalla-Bäder zum Beispiel wird ausgelagert. Wir konzentrieren uns auf die Recherche und das Konzept. Die Zusammenarbeit mit Minotti habe ich alleine gemacht. Das Studio hat die technischen Renderings gemacht.

    Wie leben Sie?

    Wir wohnen seit sieben Jahren in einer alten Mailänder Wohnung, in der der metaphysische Maler Emilio Tadini gelebt hat. Seltsamerweise bestand die einzige Extravaganz der Wohnung in ihren Böden, die von ihm und Bobo Piccoli, einem Keramiker aus den 1960er-Jahren, gestaltet wurden. Wir haben sie behalten, obwohl ich einige Wände einreissen wollte. Auf dem Boden kann man also die alte Anordnung der Räume ablesen, wobei die Brüche mit Gold hervorgehoben sind. Wie die japanische Kintsugi-Technik, mittels deren man zerbrochene Vasen repariert. Ich bin sehr empfänglich für Architektur, bei der ein Gebäude seine eigene Geschichte erzählt. Ich erspare Ihnen die Details, aber die Wand im Wohnzimmer ist mit kobaltblauen Plättchen verkleidet. Die Wirkung ist gewaltig!

    Hannes Peer entwarf schliesslich 22 Stücke, darunter den ersten Paravent des Möbelhauses.

    Sind Sie der Einzige, der über die Einrichtung entscheidet, oder hat Ihr Mann ein Mitspracherecht?

    Mein Mann ist genauso stur wie ich, und unsere grossen Debatten enden manchmal in homerischen Streitereien. Wir drohen, uns wegen Nichtigkeiten zu trennen, zum Beispiel wegen eines Kerzenständers, den der eine oder der andere wirklich hässlich findet.

    Kleidet er Sie als Modeexperte ein?

    Er hat sehr genaue Vorstellungen! Ich kleide mich immer sehr einfach und leger, aber er eigentlich auch. Viele Leute, die in der Modebranche arbeiten, tragen schlichte, gut geschnittene Kleidung, die qualitativ hochwertig, aber nicht protzig ist. Das ist erfrischend.

    Leben Sie gerne in Mailand?

    Ich liebe Schätze wie die von Pietro Portaluppi erbaute Residenz Villa Necchi Campiglio, den barocken Komplex der Rotonda della Besana oder das das Universitätsviertel, in dem ich wohne. Es besticht mit aussergewöhnlichen architektonischen Details. Es bricht mir jedoch das Herz, dass die öffentlichen Räume so wenig gepflegt werden. Es ergibt keinen Sinn, Neues zu bauen, wenn man nicht in der Lage ist, das Alte mit Respekt zu behandeln. Mein Traum war es, in New York zu leben, aber die Liebe habe ich in Mailand gefunden, mit einem Franzosen. Also bleibe ich, in guten wie in schlechten Zeiten. Theoretisch kann ich von jedem Ort aus arbeiten.

    Etwa von New York aus, wo Sie ein Hotel in Soho gestaltet haben, das bald eröffnet.

    Das ist ein innovatives Konzept, das von der sehr angesagten Gruppe The Standard entwickelt worden ist. Im «The Manner» ist alles so konzipiert, dass sich der Gast wie im Privathaus eines kunstliebenden Freundes mit exquisitem Geschmack fühlt. Umgeben von Menschen, die sich in guter Gesellschaft befinden.

    Wie sehr hat Sie Ihre Heimat Südtirol geprägt?

    Die Spuren sind tiefer, als ich dachte. Ich bin buchstäblich von dort geflohen, weil es so klein ist und so engstirnig. Mit 18 Jahren wollte ich die grosse weite Welt entdecken. Heute blicke ich gelassener auf die Berge und auf die Landschaft und merke, dass meine Leidenschaft für Details vielleicht von dort stammt. Als ich das letzte Mal dort war, unternahmen wir mit meinem 72-jährigen Vater – der übrigens in besserer körperlicher Verfassung ist als ich – eine 60 Kilometer lange Wanderung. Ich habe ein neues Gefühl
    der Zugehörigkeit verspürt.

    Arbeiten Sie manchmal dort?

    Ja, wir bauen gerade ein grosses Chalet in Cervinia, ebenso ein Hotel in Meran. Ich versuche, einen neuen Blick auf die lokalen
    Besonderheiten und die Atmosphäre zu werfen.

    Hat Kreativität schon in Ihrer Kindheit eine grosse Rolle gespielt?

    Meine Mutter Ursula Huber ist Künstlerin. Lange Zeit hatte ich ziemlich viel Respekt vor der Kunstwelt, aber dann habe ich sie auch in meine Arbeit integriert, mit ihr gespielt, und ich glaube, dass meine Architektur dadurch viel freier geworden ist. Mein Vater war Buchhalter. Sozusagen der Gegenpol.

    Haben Sie Geschwister?

    Nein. Und es ist möglich, dass alles darauf zurückzuführen ist … Die Art und Weise, wie ich in meinem Kopf allein lebe. Ich glaube sehr an die Kraft der Langeweile, um kreative Impulse zu erzeugen. Als Kind begleitete ich meine Mutter oft, z. B. nach Murano, als sie mit Glas arbeitete. Ich erinnere mich noch lebhaft an die schwitzenden Männer vor den 1500 Grad Celsius heissen Öfen. Als ich mich schliesslich auch traute, Glas in meine Arbeit einzubeziehen, habe ich gemerkt, dass ich völlig anders an die Arbeit herangehe als meine Mutter. Auch in dieser Beziehung habe ich eine mentale Barriere niedergerissen, was mir neue Möglichkeiten eröffnet hat.

    Was wünschen Sie sie für die kommenden Monate?

    So spannende Projekte wie die in Rom oder mit der Familie Minotti. Ich bin ein Arbeitstier. Ein Arbeitsbulimiker. Und ich empfinde es als unglaubliches Privileg, mit Schönheit zu arbeiten. Es gibt dieses wunderbare deutsche Wort – verrückt –, das so viel wie durchgedreht, nicht normal bedeutet. Aber das ist falsch: Wörtlich bedeutet es aus der Spur gekommen, ver-rückt. Ich mag Projekte, die mich dazu bringen, so zu denken.