Sterneköchin Clare Smyth liebt es, aus einfachen Produkten grandiose Gerichte zu zaubern. Kartoffeln, Eier, Dinkel? Her damit!

Schwarzer Hosenanzug und weisses Hemd: Das Outfit der englischen Spitzenköchin Clare Smyth ist genauso schlicht wie die Produkte, die bei ihr auf dem Teller landen. Und die bei ihren Gästen dennoch ein strahlendes Lächeln hervorrufen. Genau so eines, welches über Smyths Gesicht wandert, wenn sie über ihre Arbeit spricht.

Mit 44 Jahren ist sie die erste und einzige Frau in Grossbritannien, die vom Guide Michelin mit drei Sternen geadelt wurde – für ihre Leistungen in ihrem Londoner Restaurant Core by Clare Smyth im hippen Notting Hill. 2021 eröffnete sie im australischen Sydney ihr zweites Restaurant Oncore, bald soll ein familiäres Restaurant im Londoner Stadtteil Chelsea folgen. Auf der Karte? Traditionelle englische Gerichte, die auf ein neues Niveau gehoben werden. Smyths Vision einer kompromisslosen Haute Cuisine: anspruchsvolle Gerichte aus scheinbar unprätentiösen Zutaten kreieren. Es geht ihr nicht um die grosse Show, ihr zentrales Anliegen ist gesundes Essen, das regional verwurzelt ist: «Es gibt so viele grossartige Produzenten direkt vor meiner Haustür, die ich herausstellen möchte.»


 Wir treffen Smyth bei einem Besuch in der Schweiz. Sie ist Botschafterin der Uhrenmanufaktur Hublot. Was auf den ersten Blick erstaunt, ergibt durchaus Sinn. Denn die Köchin nimmt sich vor allem eins: Zeit. Luxus manifestiert sich bei ihr nicht in weissen Tischdecken oder Gerichten, die man kaum aussprechen kann, sondern in liebevollen Details. Das Geschirr und das Besteck in ihren Restaurants sind selbst entworfen und in Grossbritannien handwerklich hergestellt, aus den Lautsprechern tönt Gute-Laune-Musik von den Rolling Stones oder Fleetwood Mac, und die Stammgäste erhalten eine eigens für sie bestickte Serviette.

Clare Smyth sagt: «Es sind die Menschen, die ein Restaurant reich machen: die Mitarbeitenden im Service und in der Küche, aber auch die Gäste.» Clare Smyth ist nicht nur Künstlerin, sondern auch Geschäftsfrau, die ein Unternehmen mit 57 Mitarbeitern leitet. Ihr Ziel: dass regionale Produkte auch in anderen Ländern mehr Beachtung finden – von der Kantine bis zum Sternerestaurant. Ein Kreislauf, der die frisch geerntete Kartoffel in ein ganz neues Licht setzt. Wie wär’s?

Die Kartoffel! Ihr Ruf hängt davon ab, wie sie zubereitet wird.

Als wir Core – ein Name, den man im Englischen als Synonym für Herz verstehen kann – 2017 eröffneten, stellte mein Küchenchef Jonny Bone fest, dass ich jeden Tag Kartoffeln esse. Er meinte: «Wir müssen sie unbedingt auf die Speisekarte setzen, das ist so typisch für dich!» Ich bin auf einem Bauernhof in Irland aufgewachsen und habe den Appetit auf dieses Grundnahrungsmittel nie verloren. Bei mir zu Hause am Meer war die Erde mit Salz angereichert, hatte eine tiefe Mineralität, die die Felder regelrecht parfümierte

Also marinieren wir die Kartoffeln mit Algen, um diese Meeresaromen hervorzuheben. Dann fügen wir Fischrogen hinzu – Forellen- und Heringseier passen am besten zur Textur der Kartoffel, sowohl vom Geschmack als auch von der leichten Knusprigkeit her. So viel also zum Thema Kaviar (schmunzelt). Am Ende wird das Gericht mit einer Buttersauce und einer Explosion von Frische im Mund in Form von Kräutern und Blumen perfektioniert.

Sie setzen auf lokale Produkte, die mit jeder Menge Liebe gepimpt werden.

Meine Küche ist eine Hommage an die Erzeuger, an die Art und Weise, wie sie arbeiten. Jedes Gericht entsteht aus einer bestimmten Zutat heraus und aus der Botschaft, die sie vermittelt. Ein Beispiel: Ich liebe Dinkel, das Korn wird in England seit über 3000 Jahren angebaut. Dieses alte Getreide erlebt gerade ein Comeback, und zwar dank eines aussergewöhnlichen Geschäftsmannes, der die interessantesten Sorten auswählt und sie in Bioqualität anbaut.

Roger Saul ist Gründer der Luxusmarke Mulberry, inzwischen arbeitet er in der Lebensmittelbranche und lebt mit seiner Familie auf einem riesigen Landgut. Durch seine berufliche Laufbahn hat er ein besonderes Gespür für Qualität und gesellschaftliche Trends. Das ist Bioluxus!

Wie verarbeiten Sie den gesunden Dinkel?

Ich liebe die Herausforderung, eine vermeintlich banale Zutat in ein Festmahl zu verwandeln. All meine Fähigkeiten und meine Kreativität fliessen in diese Aufgabe. Aus Dinkel mache ich eine Art Risotto, das aber viel leichter als normal ist. Ich mag das Korn besonders gerne in
Kombination mit wilden Pilzen und Bärlauch.

Wie intensiv ist die Suche nach den passenden Produzenten?

Menschliche Netzwerke faszinieren und beschäftigen mich sehr. Man geht einen langen gemeinsamen Weg, der aus einem engen Austausch und vielen Verkostungen besteht. Unser Lieblingsschafzüchter arbeitet zum Beispiel auf dem Hof, der einst Beatrix Potter gehörte. Die wunderbare englische Schriftstellerin und Illustratorin schrieb 1902 die Kindergeschichte von «Peter Hase». Er ist etwa siebzig Jahre alt, und seine Welt ist nach wie vor ausgesprochen idyllisch. Sein Bauernhof ist wahnsinnig inspirierend – sehr englisch.

Inwieweit gehen die Produzenten auf Ihre Wünsche ein?

Der Kräuter- und Blumenproduzent lacht mich immer aus und sagt: «Schnell, schnell! Ich muss dieses Blatt jetzt abschneiden, denn in 30 Sekunden wird es zu gross für Ihre Gerichte sein!» Das ist Ultrapräzision, ich weiss. Aber Qualität hat ihren Preis, und die Produkte, die ich suche, erhält man nur, wenn man ein ausgezeichnetes Vertrauensverhältnis hat – und einen gewissen Sinn für Humor.

Vielleicht fasziniert mich auch die Präzision der Hublot-Uhren deshalb so sehr. Es scheint durchaus Parallelen zwischen der Gastronomie und der Uhrmacherei zu geben.

Einer von Clare Smyths Lieblingsbauern ist ein Kartoffelfanatiker – der Wert auf seine Anonymität legt.

Gibt es noch andere Gemeinsamkeiten?

Wir haben eine gemeinsame Vision, wie wir Dinge angehen. Wir überschreiten Grenzen und scheren uns nicht um Konventionen. Sie arbeiten mit Hightech-Keramik statt mit Gold, ich mit Zwiebeln statt mit Hummer. Die Kühnheit ist dieselbe. Ich liebe es! Es ermöglicht einem, junge Generationen anzusprechen. Gastronomie ohne weisses Tischtuch und Silberglocke, Uhren im neuen Gewand.

Tragen Köchinnen und Köche wie Sie dazu bei, dass wir uns gesünder ernähren?

Das hoffe ich. Ich merke auf alle Fälle, dass meine Gäste das Gemüse am Ende einer Mahlzeit mit anderen Augen betrachten. Das Rüebli, das sie oft vernachlässigt haben, erscheint ihnen plötzlich als eine neue Quelle von Aromen. Das ist Teil der Bildung, die ich vermittle.

Abgesehen vom lokalen Gemüse – was ist das nächste grosse Ding in der Gastronomie?

Köche, die einen ähnlichen lokalen Ansatz verfolgen wie ich, sind noch in der Minderheit. Aber ich denke, wir werden uns weiter vom massiven Fleischkonsum wegbewegen, hin zu einer Aufwertung von Fisch und, ja, auch einem Schwerpunkt auf Gemüse. Und wir werden lernen, weniger zu verschwenden. So werden völlig neue Gerichte entstehen. In meinem Restaurant verschwenden wir kein einziges Lebensmittel, niemals. Food Waste ist ethisch nicht vertretbar.

Wie managen Sie drei Restaurants gleichzeitig?

Ich habe das Glück, ein fantastisches und sehr loyales Team zu haben. Viele meiner Mitarbeitenden begleiten mich seit zwölf Jahren. Meine einzige wirkliche Motivation, neue Restaurants zu eröffnen, ist es, meinen Mitarbeitenden Chancen zu bieten und ihnen Verantwortung zu übertragen. Um nachhaltig zu arbeiten und keine Talente zu verlieren, gibt es keine andere Möglichkeit, als zu wachsen. Es ist ein System, das sich selbst nährt, und ich bin sehr stolz darauf, junge Menschen auf diese Weise zu begleiten.

Zu Ihrem Geschäftsmodell gehört auch Diversifikation.

So ist es. Wir bringen diesen Sommer eine Reihe von Profimessern auf den Markt, die von einer der ältesten Messerschmieden des Landes hergestellt werden. Wir Köche benutzen nur die besten Werkzeuge, und ich teile dieses Wissen gerne mit der Öffentlichkeit. Und sie sind so schön!

Eines der Signature Disches des Restaurants Core ist „Potato and roe“.

René Redzepi schliesst sein renommiertes Restaurant Noma Ende 2024 mit der Begründung, dass die Gastronomie nur einträglich ist, wenn die Angestellten ausgebeutet werden.

Die angeprangerten Missstände sind real, gehören heute aber weitestgehend der Vergangenheit an. Inzwischen kämpfen viele dafür, die Kultur in den Küchen zu revolutionieren.

Was kann dazu beitragen, die Kultur zu verändern?

Die Herausforderung besteht darin, die Kosten der Gastronomie transparent zu machen. Wenn man versucht, möglichst billig zu arbeiten, erzeugt man eine Kultur des Missbrauchs. Wir müssen die Professionalität unserer Industrie hervorheben. England ist diesbezüglich nicht sehr weit fortgeschritten. Ich starte gerade ein Projekt für eine Hotelakademie mit der Universität Birmingham. Der Bedarf ist enorm, vor allem weil Grossbritannien politisch nicht mehr Teil Europas ist und unsere jungen Leute nicht mehr bei den grossen Häusern, zum Beispiel in Frankreich, ausgebildet werden können. Diese Situation macht mich sehr traurig. Grundsätzlich muss der Gast den Wert der Gastronomie erkennen, indem er den Preis dafür zahlt. Wir verbinden die Menschen miteinander, wir sorgen für Wohlbefinden. Ich glaube, dass es definitiv einen Markt für Spitzenleistungen gibt.

Wie sieht es bei Ihnen aus: Kochen Sie zu Hause oder meiden Sie den Herd?

Ich liebe es, zu Hause zu kochen! Ich habe ein Team von 20 Personen an einem Ort und 30 an einem anderen, also greife ich nur sporadisch selbst zum Kochlöffel. Zu Hause koche ich für meinen Mann und mich einfache Gerichte wie Ofenpoulet oder Grilliertes. Während der Lockdowns war das Einzige, was mir Spass gemachte, das tägliche Kochen.

Leben Sie im Zentrum Londons?

Ja, in einem Haus mit kleinem Garten, aber ich habe leider nicht die Zeit, dort viel anzubauen. Es braucht viel Energie, Know-how und Liebe, um Gemüse zu ziehen.

Gastronomie verbindet die Menschen, sorgt für Wohlbefinden und Wiedergutmachung.

Welche Gerichte aus Ihrer Kindheit haben Ihren guten Geschmack geprägt?

Ich bin mit Eintöpfen aufgewachsen, mit rustikalen Gerichten, die ewig köcheln: Irish Stew, Getreidesuppen, in Milch pochiertem Fisch.

Gab es einen gastronomischen Aha-Moment?

Ich arbeitete in den Schulferien in den örtlichen Restaurants und tobte mich dort aus. Ich wurde dazu angeregt, zu experimentieren. Früher dachte ich, ich würde einen «richtigen» Beruf mit Perspektiven ergreifen. Dann wurde mir klar, dass man auch in der Gastronomie Karriere machen kann. Ich begann, über Sterneköche zu lesen. Als ich 15 Jahre alt war, stiess ich auf das Kochbuch «Cuisine Naturelle» des Schweizers Anton Mosimann, der damals Meisterkoch im Dorchester Hotel in London war. Ich habe es verschlungen und bin nie wieder davon losgekommen.

Sie arbeiteten dann für Terence Conran in Australien, bei Alain Ducasse in Paris und für Gordon Ramsay in London.

Und schliesslich auch mit Anton Mosimann! 2018 kochten wir gemeinsam das Essen für die Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle. Sie hatten mich angefragt, aber ich habe keine Catering-Infrastruktur. Also bat ich darum, mit dem Unternehmen zusammenarbeiten zu dürfen, das Anton heute leitet. Wir trafen uns um 6 Uhr morgens an diesem sonnigen Tag im Mai und krempelten die Ärmel hoch. Später dann in Festkleidung, er mit einer Fliege geschmückt. Es war wie ein Kreis, der sich in meiner Karriere schloss – 30 Jahre nachdem ich sein Buch gekauft hatte.