Make-Up ist bloss firlefanz? Nicht doch. Ein Blick in die Geschichte des Lippenstifts zeigt, dass er je nach Epoche sogar ein Todesurteil sein konnte - oder Leben gerettet hat.

Lang genug war er aus dem Necessaire verbannt. Es machte schlicht keinen Sinn, sich in Zeiten von Corona die Lippen zu schminken. Jetzt aber, wo wir uns zumindest teilweise wieder ohne Masken zeigen dürfen, kommt er endlich wieder zum Zug, der gute alte Lippenstift. Grund genug, einen Blick in seine Geschichte zu werfen.

Natürlich mag es ein reiner Zufall sein, dass Aimé Guerlain für seine erste Make-up-Kreation den Namen «Ne m’ oubliez pas» wählte. Vielleicht handelte es sich aber auch um eine Vorahnung von Monsieur Guerlain, der dank dem scharlachroten Stick aus gefärbtem Bienenwachs, Rizinusöl und Hirschtalg ein klein bisschen unsterblich wurde: als Begründer des modernen Lippenstiftes, wie wir ihn heute kennen. Was indes unbestritten ist: Dass besagte Lancierung im Jahr 1870 ein Meilenstein in der Geschichte des Lippenstifts war, die immerhin bis in die Jungsteinzeit zurückreicht. «Dank Grabfunden weiss man, dass schon damals rote Farbe verwendet wurde, um sich das Gesicht zu bemalen», sagt Michaela Lindinger, Kuratorin im Museum Wien – und Lippenstiftsammlerin seit ihrem zwölften Lebensjahr. «Rot gilt seit jeher als Signalfarbe, um Macht und Kampfbereitschaft, aber auch Sinnlichkeit zu demonstrieren.»

Oder um seine Stellung innerhalb der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Im alten Griechenland waren rote Lippen das Erkennungszeichen von Prostituierten. Bei den Ägyptern wiederum waren sie ein Indiz für Wohlstand: Nur Frauen und Männer – ja, die auch! – aus der Oberschicht konnten sich die Farbstoffe leisten, mit denen der Mund rot, pink, orange und gar blau-schwarz geschminkt wurde. Für 50 Gramm Karminrot beispielsweise waren nämlich bis zu 150 000 zerquetschte Schildläuse nötig! Die bekannteste Anhängerin diese Mode war übrigens keine geringere als Kleopatra.

50 V. CHR.

Im alten Ägypten ist es der Oberschicht vorbehalten, sich die Lippen zu schminken. Klar, dass Kleopatra den Trend mitmacht!

Der Wandel kam mit der Cochenillelaus, die spanische Eroberer in der Mitte des 16. Jahrhunderts aus Südamerika heimbrachten. Michaela Lindner: «Diese Tierchen verfügten über einen höheren Farbstoffgehalt als die europäischen Läuse; die Herstellung der Farbe wurde billiger.» Modefans wie Elisabeth I. von England nutzen die Gunst der Stunde und färbten sich die Lippen als Kontrast zum weiss gepuderten Gesicht knallrot. Sehr zum Unmut von Sittenwächtern wie dem italienischen Philosophen Tommaso Campanella, der die Todesstrafe verlangte für «jede Frau, die ihr Gesicht schminkt, um schön zu wirken». Nicht ganz so weit ging das britische Parlament mit dem Entscheid von 1770, der besagte, dass Männer ihre Ehe annullieren konnten, falls sie von einer Frau mit geschminkten Lippen zur Heirat verführt worden seien. Weil sie auf Nummer sicher gehen wollte, soll Katharina die Grosse darum auf künstliche Farbe im Gesicht verzichtet haben: Der Legende nach liess sich die Regentin stattdessen von ihren Dienerinnen die Lippen ansaugen oder leicht anbeissen, um den Effekt von Lippenstift zu imitieren.

1575

Elisabeth I. von England kontrastiert ihre roten Lippen gern mit einem weiss gepuderten Gesicht.

Wirklich gefährlich wurde es dann während der Französischen Revolution. Wer sich mit geschminktem Mund zeigte, riskierte im wahrsten Sinne des Wortes Kopf und Kragen, da diese Mode nur bei den Aristokraten verbreitet war. Eine Laune der Geschichte, dass es rund 100 Jahre später ebenfalls Franzosen waren, die den roten Lippen zum Revival verhalfen. Zwei Parfümeuren aus Paris war es gelungen, rote Pomade mit Hirschtalg zu festigen. Als sie ihre Erfindung an der Weltausstellung in Amsterdam 1883 zeigten, «war allerdings niemand wirklich begeistert von dieser als saucisse – zu deutsch: Würstchen – verspotteten Kreation, die wie ein Wachsmalstift aussah, aber ein kleines Vermögen kostete», erzählt Lindinger. Der Schauspielerin Sarah Bernhardt war das wurst. Sie liebte ihren «Stylo d’ Amour» und nutzte ihn ganz bewusst für provokante Looks.

1910

Sarah Bernhardt ist ein Fan des „Stylo d’Amour“.

Mit «Patriot Red» gegen die Nazis

«Rot ist ein Blickfang», bestätigt René Koch, Gründer des Lippenstiftmuseums in Berlin, der natürlich jene Studie kennt, gemäss welcher Frauen mit geschminkten Lippen sieben Sekunden länger angeschaut werden als solche «oben ohne». Als hätten sies gewusst, trugen auch die Suffragetten rote Lippen bei ihrem Protestmarsch 1912 in New York, als sie für das Frauenwahlrecht demonstrierten. Unterstützung gab es von Beauty-Legende Elizabeth Arden, die als Zeichen der Solidarität ihre Produkte verteilte. «Noch schminkten sich sonst vor allem Damen aus dem Showbiz und der Halbwelt die Lippen. Aber als in den Zwischenkriegsjahren das neue weibliche Selbstbewusstsein mit der Erfindung der praktischen, robusten Hülle zusammenfiel, die fortan das bis dahin übliche Zellophan ersetzte, wurde der Stift endgültig zum heiss begehrten Gut», sagt Michaela Lindinger. Kino-Diven – Clara Bow, Louise Brookes, Mae Murray – befeuerten den Trend zusätzlich: «Das waren die Influencerinnen von damals!»

1912 – Die Suffragetten in den USA werden von Elizabeth Arden mit Lippenstiften ausgerüstet.

Dann kam der Zweite Weltkrieg – und mit ihm «Victory Red» und «Patriot Red» von Elizabeth Arden, mit denen die Moral der Frauen im US-Militär, aber auch daheim gestärkt werden sollte. «Aus dem gleichen Grund ermutigte der britische Premierminister die Britinnen zum Tragen von Lippenstift», so Lindinger, die in Gesprächen mit Überlebenden erfahren hat, wie sogar in Konzentrationslagern Lippenstift verwendet wurde. «Die Frauen dort schminkten sich vor allem, um gesund auszusehen und die Selektierungen zu überstehen. Zudem befeuerte dieses kleine Stück Normalität ihren Lebensmut. Mich hat das sehr berührt.»

Die letzte Revolution ist für René Koch die Erfindung des Drehlippenstifts durch die Amerikaner in den Nachkriegsjahren: «Ein Dreh, und die Farbe kommt phallusartig nach oben. Damit ist der moderne Lippenstift auch ein erotisches Symbol.» Und danach? «1956 wurde der erste Lippenstift mit Geschmack lanciert. Später kamen lichtreflektierende Pigmente, pflegende Inhaltsstoffe, neuartige Texturen sowie eine riesige Auswahl an Farben hinzu.» Und Ende 2021? Feiert der Stift nach fast zwei Jahren Pandemie ein fulminantes Comeback. Als Begleiter bei der Rückkehr in die neue Normalität – die hoffentlich viele unvergessliche Momente für uns bereithalten wird. Das wär bestimmt auch im Sinne von Aimé Guerlain.

1956

Guerlain ist ein Pionier in Sachen Lippenstift.

1980

Madonna setzte in den 80s auf „Russian Red“ von M.A.C – und mit ihr eine ganze Generation.

2021

Minaudière mit Hülle in limitierter Auflage von Dior.