Mit seiner Maison Rabih Kayrouz feiert der libanesische Couturier einen symbolischen Neuanfang - und wirft alte Gewohnheiten über Bord.

Nicht im Headquarter am Boulevard Raspail, einem ehemaligen Theater, in dem Samuel Becketts «Warten auf Godot» uraufgeführt wurde, sondern in seinem Landhaus in Arles empfängt Rabih Kayrouz zum Interview. Er sitzt in einem weissen T-Shirt und mit akkurat gestutztem Bart hinter seinem Bildschirm am Küchentisch. Kein üppiger Stuck an der Decke wie in seinem Showroom und Atelier in Paris, sondern grau gestrichene Holzbalken. Eine Schlichtheit, die gut zu seiner aktuellen Gemütslage passt.


Kayrouz pendelte lange zwischen Orient und Okzident. Mit nur 16 Jahren kam er nach Paris, um an der renommierten Schule der Haute-Couture-Kammer Mode zu studieren. Nach einer Lehrzeit bei Dior und Chanel kehrte er nach Beirut zurück, wo er 1998 mit nur 25 Jahren sein eigenes Modehaus eröffnete. 2008 expandierte seine Maison nach Paris. Die erste Prêt-à-porter-Linie kam 2009 auf den Markt, in demselben Jahr, in dem Rabih Kayrouz auch das alte Theater bezog und in den erlauchten Kreis der Haute Couture berufen wurde. Er ist einer der wenigen Modeschöpfer, die immer noch die Mehrheit an ihren Unternehmen halten. Auch wenn er seit 2016 Finanzpartner zur Unterstützung im Boot hat, will er seine kreative Unabhängigkeit gegen alle Herausforderungen des Marktes bewahren.


Das Jahr 2024 markiert für ihn das 25-Jahr-Jubiläum seiner Prêt-à-porter-Linie und einen persönlichen Neubeginn: Kayrouz wurde 2020 bei der Explosion im Hafen von Beirut schwer verletzt und brauchte lange, bis er sich wieder erholte. Das komplett zerstörte Atelier in Beirut eröffnete erst im März dieses Jahres wieder an neuer Adresse, trotz angespannter politischer Situation im Land.

In Ihrer Prêt-à-porter-Kollektion für Herbst und Winter 2024 spielen Struktur, Leichtigkeit und monochrome Farben eine grosse Rolle. Was ist die Idee dahinter?

Wie bei allen Kollektionen, die ich heute entwerfe, geht es mir in erster Linie darum, ein Kleidungsstück herzustellen, das dazu einlädt, getragen zu werden. Als Couturier drücke ich mich mit Materialien, Farben und vor allem Schnitten aus. Sie bestimmen die Struktur oder besser die Architektur eines Stückes, das man bewohnen soll, das einen umschliesst, das bequem und lebenswert ist. Das ist die kurze und klare Botschaft. Ich mag es nicht, wenn Dinge geschwätzig werden müssen, um sich zu erklären.

Bei ein paar klar als Abendroben zu definierenden Stücken werden die Grenzen zwischen Büro- und Freizeitlook immer fliessender …

Es geht mir darum, dass sich die Frau nie verkleidet fühlt und von morgens bis abends Bewegungsfreiheit hat. Insofern denke ich nicht in solchen Kategorien. Ein Kleidungsstück soll theoretisch immer tragbar sein und sich dem Alltag der Trägerin anpassen. Natürlich bieten sich manche Stücke wegen ihrer Länge, ihres Volumens oder ihres Materials eher als Abendgarderobe an. Doch selbst diese sind aus ultraleichtem und knitterfreiem Seidentaft. Man kann die Kleider praktisch zusammenrollen und mühelos überwerfen.

Sowohl die Braut- als auch die Abendkleider des Designers sind opulent und komfortabel zugleich.

Sie präsentierten diese Kollektion nicht mehr mit einer Modenschau, sondern im kleinen Kreis in Ihrem Pariser Showroom und mit einem Video auf Ihrer Website. Warum?

Weil ich dieses ritualisierten Spektakels alle sechs Monate überdrüssig geworden bin. Modenschauen langweilen mich nur noch! Ich hatte lange Spass an den Inszenierungen, mir darüber Gedanken zu machen, mit welchen Kunstschaffenden und Themen ich diese auf die Beine stelle. Heute möchte ich meine Kollektionen auf eine ruhigere Art und Weise zeigen, bei der die Arbeit im Vordergrund steht und nicht die Show. Für mich fühlt es sich heute stimmiger an, auf privatere Weise Kundinnen und Presse einzuladen: Die Kundinnen sollen meine Mode anfassen und anprobieren können, das Handwerk erleben – und die Kleidung nicht nur bewundern am Körper einer anderen Frau wie dem eines Models.

Auch auf dem offiziellen Haute-Couture-Kalender fehlten Sie dieses Jahr.

Ich bin stolz darauf, immer noch Teil der Pariser Haute-Couture-Kammer zu sein, und fühle mich deren Werten und ihrem aussergewöhnlichen Savoir-faire verpflichtet. Nach wie vor entwerfe ich auch Haute Couture, nur präsentiere ich sie eben in einem privaten Kreis.

Ist das für Sie die Umsetzung des Nachhaltigkeitsgelübdes, das so viele Modehäuser während der Pandemie proklamierten, aber nicht einlösten?

Ich möchte niemandem Lektionen erteilen und vor allem nicht Marketing mit Greenwashing betreiben! Meine Arbeit als Couturier war immer schon gewissenhaft: Ich tue alles, was man meines Erachtens tun muss, um dieses Metier auf allen Ebenen respektvoll auszuüben. Doch ich möchte mich nicht mit Dingen brüsten, die selbstverständlich sein sollten. Es ist genauso überflüssig, wie immer zu betonen, man isst bio. Ich will einfach nur gut essen – und Mode machen, wie sie sich für mich richtig anfühlt.

Ihre Dinner, bei denen Ihr Lebenspartner und Food-Aktivist Kamal Mouzawak oft libanesische Hausmannskost servieren soll, sind unter den Pariser Modeleuten ähnlich begehrt wie früher, in die Küche von Alaïa eingeladen zu werden. Wie ist es dazu gekommen?

Ich liebe das Leben, und das bedeutet für mich, diese Liebe zu teilen. Und wo kann man das besser als an einem gemeinsamen Tisch? Zumal, wenn man dafür noch einen so schönen und grosszügigen Ort wie den unseren am Boulevard Raspail hat. Diese salonartigen Dinner habe ich schon gegeben, als sie noch nicht der grosse Trend waren. Auch da bin ich privater geworden. Statt wie früher 50 Leute an einen Tisch zu laden, sind es heute nur fünf oder sechs. Und ab und zu eine grosse Party, um das Spektrum zu erweitern.

Auf Ihrer Website teilen Sie nun halbprivate Gespräche auf Video in Ihrer Küche, zum Beispiel mit Marylin Fitoussi, der Kostümdesignerin von «Emily in Paris».

Dank ihr sind meine Entwürfe durch die Serie viel bekannter geworden. Marylin hatte von der Produktion freie Hand, welche Marken sie den Schauspielern vorstellte, und diese hatten auch ein Mitspracherecht. Und so hatte ich das Glück, dass ich Philippine Leroy-Beaulieu von Anfang an einkleiden durfte. Privat und in ihrer Rolle als Agenturchefin Sylvie verkörpert sie genau den Typ von Frau, den ich gerne anziehe: eine lustige, starke, feminine und elegante Grossstädterin.

Die Pariser Figur Sylvie (Philippine Leroy-Beaulieu, links im Bild) aus der Serie «Emily in Paris» ist eine begeisterte Anhängerin von Rabih Kayrouz’ Kreationen.

Hat das auch Ihre Verkaufszahlen geboostet?

Sicherlich. Da sich viele Frauen mit dieser Figur identifizieren, kamen sie danach auch zu mir.

Sie sind als Sohn einer Familie mit grossem Bäckereibetrieb auf dem Land aufgewaschsen, noch dazu während des Krieges im Libanon. Wie kamen Sie darauf, schon mit 16 Jahren in Paris Mode zu studieren?

Ich habe alle Sendungen im Fernsehen verschlungen, die mit Mode zu tun hatten: seien es Berichte über die Modenschauen in Paris oder auch Serien wie «Dallas» oder «Denver-Clan» (lacht). Auch meine Familie hat mich für Mode sensibilisiert. Gute Kleidung galt bei uns als Ausdruck von Höflichkeit, von Respekt dem anderen gegenüber. Man kleidete sich bei uns auf dem Land immer anständig, aber nie protzig. Man ging zwei Mal im Jahr shoppen und kaufte wenig, aber dafür Qualität: in Boutiquen, die schon damals französische oder italienische Marken führten. Eine Freundin sagte mir mal: Wir sind nicht reich genug, um billiges Zeug zu kaufen.

Sie haben nach Ihrem Studium bei Dior und Chanel gearbeitet, zwei Häuser, deren Gründer für diametral entgegengesetzte Modekonzepte standen. Was haben Sie dort gelernt?

Christian Dior war ein Mann, der Frauen anschauen wollte. Er entwarf Mode, die schön war, aber für die Trägerin wenig komfortabel. Gabrielle Chanel war eine Frau, die Kleidung für Frauen schuf, die tragbar und schön war. Letzteres habe ich mir selbst zu eigen gemacht.

Ganz anders als Ihre Landsleute Zuhair Murad oder Elie Saab scheinen Sie keine Mode für Prinzessinnen machen zu wollen. Woher kommt Ihr puristischer, funktionellerer Stil?

Weil ich dabei an die realen Frauen denke, die in meinem Leben eine Rolle spielten und spielen: Frauen, die sich bewegen, arbeiten, reisen, lachen, feiern und tanzen. Ich habe keine Traumfrauen im Kopf, und ich mag es nicht, Frauen als Fantasieobjekte zu verkleiden. Eine Frau soll durch meine Kleidung weder sexy noch streng erscheinen. Wenn sie darin sexy oder streng aussieht, dann, weil sie es ist! Diese Vorstellung, eine Frau durch Mode in eine andere zu verwandeln, finde ich lächerlich.

Ihre ersten Kundinnen in Beirut sollen Ihre Kleider empört auf den Borden geworfen haben. Warum?

Als ich in Beirut anfing, bot ich zuerst nur Braut- und Abendkleider an. Meine Kundinnen beschimpften mich zu Recht, weil die Kleider einfach nicht gut durchdacht waren. Ich war jung und unerfahren und danke den strengen Kritikerinnen heute. Genau dadurch habe ich gelernt, dass ich vor allem Frauen auf der Strasse und im Alltag kleiden möchte. Und dass auch Abend- und Brautkleider nicht nur schön, sondern auch bequem zu tragen sein müssen.

Ist es also ein falscher Eindruck, dass Frauen im Nahen und Mittleren Osten mehr Prinzessin als praktisch sein wollen?

Das ist ein respektloses, orientalistisches Klischee! Das ist so, als würde man heute die Pariserin oder die Amerikanerin pauschal kategorisieren. Ich lehne diese Art von Verallgemeinerung ab. Meine Mode, meine Schnitte und mein Stil sind sehr orientalisch geprägt. Es sind bequeme Kleidungsstücke, die den Körper umhüllen. Ich verteidige mit meiner Arbeit auf gewisse Weise die Idee eines reinen Orients: Einer, der die Sinne betört, einer, der empfindsam ist. Meine Mode ist orientalisch, aber nicht orientalistisch!

2020 überlebten Sie schwer verletzt die Explosion im Hafen von Beirut, welche auch Ihr Atelier zerstörte. Wie hat Sie das geprägt?

Es hat mein Leben in ein Davor und ein Danach geteilt. Ich sage immer, ich wurde im Libanon drei Mal geboren: das erste Mal 1973, das zweite Mal, als ich 1998 mein Modehaus eröffnete, und 2020, als ich das Geschenk der Wiedergeburt erleben durfte.

Sind Sie noch oft in Beirut?

Selten. Ich fliege nur noch für ein paar Tage im Jahr hin, um all die Menschen zu sehen, die mir wichtig sind: meine Familie, meine Freunde, mein Atelierteam und meine Kunden. Nicht nur ich, das ganze Land erscheint mir heute verletzt. Dagegen fühlt sich Arles immer mehr wie mein Zuhause an: nah am Mittelmeer, aber nicht weit von Paris. Eine lebendige, überschaubare Stadt, die meinem Bedürfnis nach mehr Ruhe, weniger Spektakel, Mondänität und Geschwätzigkeit wunderbar entgegenkommt.