Seitdem sich die Schweizer Armee von der heimischen Wolle abgewandt hat, ist das Naturgarn zum abfallprodukt geworden. Gibt es noch Rettung? Junge Kreative möchten daran glauben. Und sie tun es.
Isolierend, atmungsaktiv, antiallergisch, biologisch abbaubar, widerstandsfähig, feuerfest … Es gibt unzählige lobende Adjektive, um das Material Wolle zu beschreiben. Doch die Schafe (und vor allem ihre Züchter!) haben Grund zu zittern. Denn das kostbare Garn muss aufwendig veredelt werden und entspricht nicht mehr heutigen Rentabilitätskriterien. Von der Zucht über die Schur bis hin zur Verarbeitung – die Waschen, Kardieren und Kämmen umfasst – ist die Wollproduktion in Europa extrem teuer geworden.
Die Konsequenz: Die natürliche Ressource wird als Abfall betrachtet. Ab ins Feuer! Wie konnte es zu dieser Fehlentwicklung kommen? Es ist kein Geheimnis, dass die Textilproduktion eine der umweltschädlichsten Industrien ist. Dabei wird aber oft übersehen, dass es sich nicht nur um synthetische Materialien oder Baumwolle handelt, die viel Wasser verbraucht und Pestizide benötigt. Auch die scheinbar harmlose Wolle aus Australien hat keinen Grund, stolz zu sein. Die massive Einführung von Schafen in den frühen 1800er-Jahren machte das Land zwar zum grössten Wollproduzenten der Welt, hatte aber katastrophale Auswirkungen auf die Umwelt. Die Weidehaltung führte zu einer massiven Entwaldung, die ganze Gebiete verödete.
Und in der Schweiz? Warum sollte man die lokale Wolle nicht als ökologische Alternative aufwerten, indem man die Umwelt, das Handwerk, die althergebrachten Fertigkeiten und nachhaltige Projekte in den Vordergrund stellt? Die Antwort liegt auf der Hand: Es fehlt die Infrastruktur, da die Branche vor fast 30 Jahren zusammenbrach und die Verarbeitung von Schweizer Wolle zum Erliegen kam. Die Krise verschärfte sich ab 2002, als der grösste lokale Kunde, die Schweizer Armee, seine Uniformen nur noch mit Kunstfasern produzieren liess. Kurzerhand wurde der Verein Laines d’ici (www.lainesdici.ch) gegründet mit dem Ziel, lokale Wolle aufzuwerten und zu erhalten, ähnlich wie bei verschiedenen Initiativen rund um den Globus.
Zwischen Forschung und Design
«Oltre Terra» wurde vom Nationalmuseum Oslo in Auftrag gegeben und ist eine umfassende Studie über Wolle, die vom italienischen Designerduo Formafantasma durchgeführt wird. Es geht um die Geschichte, die Ökologie und die globale Dynamik der Wollproduktion. Nach Ansicht der beiden Designer ist «Wolle nicht einfach ein Material, sondern erweitert die Überlegungen, um die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten innerhalb eines Ökosystems zu erforschen». Konkret gibt es eine Vielzahl kreativer Talente, die versuchen, diesem Material, das Jahrhunderte von Emotionen in sich trägt, ein neues Leben zu schenken.
Emma Casella, frisch gebackene Absolventin der ECAL (Ecole cantonale d’art de Lausanne), hat zwei Projekte zur Aufwertung von Wolle entwickelt. Das erste ist ein charmantes «Swiss Baby Box Newo»-Set für Neugeborene, das sich an einer ähnlichen, von der Regierung geförderten Initiative in Finnland orientiert. Das zweite Projekt knüpft an das Erbe der Militärdecke an: «Sleewo» ist ein Schlafsack aus Schweizer Wolle und Naturfasern, der geöffnet als Picknickdecke verwendet werden kann.
Das Set Swiss Baby Box Newo für Neugeborene wurde von Emma Casella entworfen. Sie möchte Wolle wieder aufwerten.
Eine weitere junge Designerin, die Wolle in eine modische Richtung lenkt, ist Sophie Fellay, Absolventin der HEAD (Haute école d’art et de design) in Genf. Die Designerin arbeitete für The Row in New York, bevor sie ihr Studio Remo in der Schweiz gründete. Ihr Ziel? Ein nachhaltiger und lokaler Ansatz, Schweizer Wolle wird von Hand zu weichem Filz mit marmorierten Farbtönen verarbeitet. So entstehen Kapselkollektionen in limitierter Auflage, die mit Sorgfalt in unserem Land hergestellt werden. Vergangenen November organisierte Fellay im Rahmen der Design Days in Genf einen Workshop, bei dem die Teilnehmer in das Kardieren und Spinnen von Wolle eingeführt wurden. Er wurde mit Filature de l’Avançon durchgeführt, einem Verein, der dazu aufruft, lokaler Wolle wieder mehr Wert zu verleihen. In der Schweiz produziert ein Schaf zwischen zwei und fünf Kilogramm Wolle pro Jahr, das ergibt im Durchschnitt 1225 Tonnen Rohwolle. Genug Stoff also für viele kuschlige Strickwaren …
Limitierte Jacke vom Studio Remo von Sophie Fellay. Aus Schweizer Wolle, die in weichen Filz verwandelt wurde.
Neue Verwendungszwecke
Ähnliche Initiativen entwickeln sich überall – wenn auch in kleinem Massstab. Das in Lausanne ansässige Unternehmen Mover hat bei seiner hochwertigen Sportbekleidung den Polyester im Futter von Jacken und Hosen durch Merino ersetzt. Während die Marke hauptsächlich neuseeländische Wolle verwendet, ist ihre wärmste Jacke vollständig mit Swisswool Alpaka gefüttert. Das Zürcher Designstudio Yan-Co steht hinter dem jungen Label Unsung Weavers. Die Kollektion begann mit einer Reihe von Mänteln, die aus Wolldecken oder Gebrauchskleidung – Schäferumhängen oder Klosterjacken, die in griechischen Dörfern eingesammelt wurden – handgenäht wurden. Jedes Stück lässt das alte Handwerk der Weberei wieder aufleben. Die umgearbeiteten Vintage-Stoffe haben abgeschnittene Säume, bestickte Hosenanzüge und wurden mit pflanzlichen Mitteln gefärbt.
Grüne Winterjacke der Lausanner Sportswear-Marke Mover aus Bio-Baumwolle, die mit Schweizer Alpakawolle Swisswool gefüllt ist.
Die rustikalen Fasern der Schafe gewinnen zwar langsam wieder an Bedeutung, sind in der Mode aber weiterhin umstritten, da sie sich nicht so weich auf der Haut anfühlen wie Merino. Dafür zeichnen sich andere Verwendungszwecke ab: Schweizer Wolle kommt zum Beispiel als Dämmmaterial für Gebäude, als Gemüsefilz oder als Sofapolsterung zum Einsatz. Der italienische Möbelhersteller Tacchini hat 2023 einige Sessel und Möbelstücke in sein Sortiment aufgenommen mit einer Polsterung aus lokaler Wolle. Wenn die darbende Branche in der Schweiz und in Italien wieder an Fahrt gewinnt, wird dies von leidenschaftlichen Kreativen unterstützt, die auf die emotionale Bedeutung des Naturmaterials achten. Die Verbraucher sollten ihnen dabei folgen.
Wolle für Möbel
Der italienische High-End-Hersteller Tacchini setzt auf eine Polsterung aus heimischer Wolle für bestimmte Sessel und Sofas.