In Rüti spannen Geschichte und Zeitgeist ein straffes Netz: Der altorfer Liegestuhl mit den bunten Kunststoffschnüren ist seit 75 Jahren ein schweizer Designklassiker.

Die Holzstufen auf dem Weg ins Dachgeschoss knarzen. Zwischen den Balken scheint die Sonne auf altrosa Stühle und lichtgrüne Tischchen. Sie stehen im Ausstellungsraum, scheinbar hingeworfen, in Wahrheit aber sorgfältig kuratiert. Hübsch anzusehen und doch funktional – Schweizer Klassiker. Der zeitlose «Haefeli Gartenstuhl» mit den Latten. Das puristische «Roth Bett» mit den geschwungenen Stahlrohren. Der «Altorfer Liegestuhl» mit den bunten Kunststoffschnüren, die krakelige Linien auf nackte Haut zeichnen.

Seitdem Andreas Mantel denken kann, steht eine Spaghetti-Liege bei ihm im Garten. Sie ist seine erste Erinnerung an Embru. 1904 gründete Hermann Hess-Honegger die Eisen- und Metallbettenfabrik Rüti AG, die Mantel heute als Embru führt und damit die vierte Generation der Eigentümer vertritt. Schon sein Grossvater besass ein elektrisches Bett der Werke, mit dem es sich als Kind wunderbar spielen liess. Hoch. Runter. Hoch. Runter.


Das Bett als Initialzündung: Was mit der Herstellung von Stahldrahtmatratzen und Eisenbetten begann, atmete schnell Zeitgeist. Auf historische Ereignisse reagierte man mit Sortimentsdiversifikation: von der Zusammenarbeit mit Architekten des «Neuen Bauens» in den 1930er-Jahren über die Schulmöbel der 1950er, die mit den Kindern mitwachsen, bis zum modularen Systemmöbel «eQ» aus den 2000ern, das ohne Werkzeug montiert wird. Heute verkauft Embru auch Spitaleinrichtungen. Unangefochten an der Spitze der beliebtesten Produkte innerhalb der Designkollektion hält sich Mantels Kindheitserinnerung: der «Altorfer Liegestuhl», der als Urvater aller Spaghetti-Stühle dieses Jahr 75-Jahr-Jubiläum feiert. Dabei entwarf ihn 1948 kein namhafter Architekt, sondern Huldreich Altorfer, der Sohn des damaligen Firmendirektors.

Am Anfang war das Stahlrohr

Silber glänzende Rohre unterschiedlichster Durchmesser stapeln sich bis unter die Decke in der Fertigungshalle im beschaulichen Rüti. «Das ist ganz typisch für uns: Ein Rohr, das später in einem privaten Garten landet, lagert neben einem, das in einem Pflegebett verbaut wird», sagt Mantel. Das sei auch der Grund, warum Embru seit mehr als hundert Jahren besteht – auf den unterschiedlichsten Märkten.

Stahlharte Flexibilität. Es summt laut. Funken fliegen, wenn Laser Löcher bohren. So präpariert wandern die Rohre, die zum Gestell des «Altorfer Liegestuhls» werden, an die Rohrbiegerei. Der Automat bringt die Einzelteile in Form. Per Hand wird nachgeprüft, ob die Winkel stimmen. Beim Betreten der Schlosserei schallen einem Hip-Hop-Beats entgegen. Blaustichige Flammen lodern auf. Da, wo ein Roboterarm die eingespannten Komponenten mit einer Schweissnaht zum Rahmen verbindet, röhrt Bon Jovi aus dem Radio.

Darauf folgt eine Art Resilienz-Spa-Behandlung: Die Gestelle reisen nach Wollerau, wo sie bei etwa 400 Grad in Zink baden. Das macht sie wetterbeständig. Zurück in Rüti werden sie bespannt. Die neuen und die alten. Denn es warten hier auch fleckige Erb- oder Vintagestücke auf eine Überholung mit den 160 Meter langen «Spaghetti», die dafür sorgen, dass man auf der Liege quasi schwebt. Mantel steht vor einem mannshohen Kasten voller kunterbunter Spulen: «Wir helfen der Elastizität des Kunststoffs auf die Sprünge.» Auf 70 Grad wird er erwärmt. «Durch das Abkühlen entsteht die satte Spannung auf der Liegefläche», erklärt der Inhaber. Um die hohe Qualität zu gewährleisten, bespannen jeweils zwei Mitarbeiter die Liege. Mit Handschuhen, weil der Kunststoff noch warm sein muss. In Teamarbeit, mit ordentlich Zug. Zweimal wird ums Rohr gewickelt, dann ans Gegenüber abgegeben, mithilfe eines Schlagklotzes Schlinge an Schlinge zusammengehämmert. Für den optimalen Sitzkomfort überkreuzen sich die Schnüre. Was meditativ anmutet, erfordert viel Kraft. Der Klassiker soll schliesslich zuverlässig ein Leben lang halten.

Neu stehen 180 an Tramsitze erinnernde «Marchand Chairs» in der Bullingerkirche, dem Provisorium des Zürcher Parlaments. «Man gestaltet mit, wie die Zukunft aussehen soll», sagt Mantel, während er die Villa Fortuna aufschliesst und damit die Brücke zur Vergangenheit schlägt: Sie beherbergt neu ein Museum, das Archivstücke aus der Schweizer Moderne und dem Bauhaus zeigt. In Rüti hat man einige Eisen im Feuer. Wortwörtlich.

Andreas Mantel

Nach einem Generationensprung ist Andreas Mantel, Jahrgang 1985, seit 2020 Inhaber der lokal produzierenden Embru-Werke. Er absolvierte ein BWL-Studium und unterstützte das Familienunternehmen zuerst im Verkauf
und dann im Marketing, das er auch heute noch leitet. Sein Erfolgs-geheimnis? «Gut zuhören. Offenheit gegenüber sich immer wieder verändernden Marktbedürfnissen», weiss Mantel.
«Es ist toll, zu sehen, in welchen unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen unsere Produkte eingesetzt werden.»