Lieber Erdbeeren mit Schlagrahm zu Champagner oder Landjäger zu Tee aus der Feldflasche? So oder so: Das gute alte Picknick erlebt eine Renaissance. Kleiner Rückblick auf die Geschichte des Dinierens unter freiem Himmel.

Kaum werden die Temperaturen milder, schwärmen sie wieder aus: die Picknicker. Am See, im Park oder am Berg werden liebevoll Decken ausgebreitet und Weidenkörbe ausgepackt (oder auch nur husch, husch Brot, Landjäger und Trinkflasche gezückt, manchmal ist das Einfache ja das Allerbeste). In den Corona-Sommern erlebte die Kunst der gepflegten Rudelverpflegung an der frischen Luft gar einen neuen Boom, wenn man sich – weils anders schlicht nicht erlaubt war – auf öffentlichen Bänkli verabredete und beim Aperölen brav 1,5 Meter Abstand hielt.


Für Yvan Schneider – Professor für Ernährungserziehung an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Waadt, ehemaliger Präsident von Slow Food Waadt und Autor des Büchleins «Petite Histoire de l’Alimentation en Suisse» (eine kleine Geschichte der Ernährung in der Schweiz, leider bisher nicht auf Deustch übersetzt) – ist das Picknick ein sozialer Schmelztigel: «In einer Gesellschaft, in welcher der Akt des Essens immer stärker individualisiert wird, bietet es Möglichkeiten, neue Kontakte zu knüpfen.» Und weil beim Picknicken alle Codes und Zwänge, die üblicherweise mit gemeinsamem Essen verbunden sind, wegfallen, könne es darüber hinaus soziale Unterschiede nivellieren: «Wer zu Hause Gäste empfängt, hat bisweilen Angst vor Vergleichen und dem Urteil des anderen. Sich beim Picknick auf neutralem Boden zu treffen und ein Mahl ohne Protokoll zu geniessen, macht die Sache entsprechend unverfänglicher.»


Und wem verdanken wir die Praxis, unter freiem Himmel zu schlemmen? Vermutlich den Franzosen: Zum ersten Mal taucht der Begriff «pique-nique» jedenfalls in der 1692 erschienenen Abhandlung «Origines de la Langue Française» von Tony Willis auf – als Zusammenzug der Wörter «piquer» (für «aufpicken») und «nique» (für «Kleinigkeit»).

Die ersten Zeugen des besagten kulinarischen Aufpickens sind aber natürlich viel älter, namentlich antik: Im 1. Jahrhundert v. Chr. schreibt Vergil in seinen «Bukoliken» von auf den Weiden eingenommenen Mahlzeiten «zu einer Tageszeit, wenn selbst Hirten Schatten und Kühle suchen». Für Laurent Tissot, Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Uni Neuenburg, ist es allerdings wichtig, zwischen zwei Sorten der Nahrungsaufnahme unter freiem Himmel zu unterscheiden: dem Imbiss in der Arbeitspause einerseits und dem Picknick, das in der Freizeit stattfindet, andererseits.

Während den Landknechten im Mittelalter nichts anderes übrigblieb, als ihre Äcker Tag für Tag zum Open-Air-Esszimmer zu machen, war für die Adligen während ihrer Jagdausflüge eine Mahlzeit ausserhalb ihrer Villenmauern eher eine unumgängliche Aussergewöhnlichkeit. In der Renaissance allerdings, als sich die Aristokratie gern von italienischen Gepflogenheiten inspirieren liess, verbreitete sich die Praxis auch in gehobenen Kreisen, weil man es amüsant fand, sich vor der Kulisse eines Schlaraffenlandgartens an den Früchten der Natur gütlich zu tun. Dabei sass man freilich noch nicht direkt am Boden: Von Katharina von Medici, Königin von Frankreich, weiss man etwa, dass sie gern Snacks genoss, die ihr, umgeben von der Pariser Haute-Volée, an einem gedeckten Tisch im Garten der Tuilerien serviert wurden.

Vom Adel zur Bourgeoisie

Runter auf den Boden ging es erst mit den Philosophen der Aufklärung und der von ihnen propagierten Rückkehr zur Natur. Jean-Jacques Rousseau berichtet in seinen «Bekenntnissen» von einem «dîner en pique-nique» mit dem Abbé de Condillac; und in Versailles gönnte man sich weit, weit weg vom Glanz des Spiegelsaals im kleinen Weiler der Königin Schäferstündchen samt veritablen Festessen.


Ein Jahrhundert später erlebte das Picknick sein goldenes Zeitalter. In den ehemaligen königlichen Parks, die sich mit der Französischen Revolution zur Spielwiese des Volkes gewandelt hatten, waren sonntägliche Zusammenkünfte, bei denen die Damen in Krinolinen und die Herren in Hüten fröhlich herumtollten und sich hie und da einen Happen zuführten, gewissermassen gesellschaftliches Pflichtprogramm. «Das Picknick», so Laurent Tissot von der Uni Neuenburg, «wurde zum Hobby der Bourgeoisie, welche die einstigen Zeitvertreibe des Adels lustvoll nachspielte und an die eignene Bedürfnisse anpasste.» Flaubert und Maupassant berichten ausführlich darüber; und Edouard Manet, der picknickende Damen in seinem berühmten «Déjeuner sur l’herbe» von 1863 im Evakostüm malte, bescherte dem Picknick sogar seinen ersten offiziellen Kunstskandal.


Mit dem Aufkommen der Eisenbahn kehrt das Picknick zu seinen volkstümlichen Wurzeln zurück. Reiseführer lotsen die durch den bezahlten Urlaub befreiten Massen aus den Städten aufs Land – und die Mahlzeit unterwegs wird zu einer unverzichtbaren Etappe der Reise. Der französische Lederwarenhersteller Moynat legt Weidenkörbe mit Guttapercha – einem natürlichen, wasserdichten Latex – aus; Louis Vuitton entwirft robuste Koffer, in denen jedes Utensil, von Porzellangeschirr bis hin zu Silberbesteck, seinen eigenen Platz findet. Nach dem Zweiten Weltkrieg säumen Klapptische, Kühlboxen und Thermosflasche die glücklichen Tage am Rand der Autobahn und auf den neuen Campingplätzen. «In der Schweiz wird das Picknick nicht zuletzt durch die Schulreisen populär. Wer als Kind mit seinen Gspänli unter freiem Himmel gegessen hat, erinnert sich als Erwachsener gern an diese sorglosen Tage», erklärt Tissot.


Und 2022? Da steht das Picknick einmal mehr hoch im Kurs. In den Bergen stellen Tourismusbüros (wie das von Gstaad) Gourmet-Rucksäcke mit den besten Produkten der Region zur Verfügung (sogar gern mal inklusive Fondue!). Die Westschweizer Firma Happy Picnic bietet sogar – very instagrammable – fixfertige, nachhaltige (da abfallfreie) Arrangements für zu Hause oder in einem Park an.

Barfuss in Wimbledon

In den Städten, hier wie anderswo, ist der Erfolg ungebrochen. In Lausanne lockt das Picknick, das jedes Jahr vom Verein Lausanne à Table veranstaltet wird (heuer am 27. August), Tausende von Menschen auf die Esplanade de Montbenon. Und die Seeufer ver-wandeln sich sowieso in riesige Picknickplätze, auf denen sich die Gerüche aller Küchen der Welt vermischen.


Wer indes mal ein wirklich stilvolles Picknick erleben möchte, fahre nach England. Im Land der Etikette, das sich standhaft weigert, zu weit von seinen edlen Wurzeln abzurücken, ist es bis heute ein Muss, in Wimbledon eine Tischdecke auszubreiten und Erdbeeren mit Schlagrahm zu essen, während man barfuss im Gras steht. Das berühmte Opernfestival in Glyndebourne ist ebenfalls ein Grund für ein Picknick – im Smoking beziehungsweise im Abendkleid. Dieses Jahr wird Puccinis «La Bohème» gespielt, und die Festivalbesucher reservieren ihre Körbe und freuen sich mindestens so sehr auf die 90-minütige Pause wie auf die Aufführung.


Ob luxuriös oder rustikal, Gourmet oder genügsam, in der Gruppe, zu zweit oder allein: Das Picknick passt sich Moden, Gesellschaften und Epochen an, ohne je den Reiz der Einfachheit zu verlieren.