Von Tooth Gems zu Grillz – was einst modebewussten Bronx-Dealern Credibility bescherte, sorgt heute bei Trendsettern für das ganz individuelle Million-Dollar-Lächeln. Ehrlich wahr: Der Zahnschmuck ist zurück!
Hüfthosen. Neonbikinis. Adiletten. Gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartet, feiert die Fashionwelt mit einer schier diabolischen Lust an der weichgespülten Provokation das Comeback der einst in Ungnade Gefallenen. Geprägt von wiederkehrenden Zyklen, hat die Mode derzeit die 1990er-Jahre am Wickel und erklärt im Rahmen dieses Comebacks nun auch den Zahnschmuck zurück. Dieses Mal allerdings sind blitzende Kauleisten (Grillz) und punktuelle Zahnveredelungen (Gems) nicht mehr nur Mitbegründern des Hip-Hop-Chics wie Rihanna, 50 Cent und Flavor Flav vorbehalten. Die Superstars hatten in den 1990er-Jahren den bei der afrikanischen Diaspora New Yorks der 1970er-Jahre populär gewordenen Goldzähnen zur Renaissance verholfen und sie in den verschiedensten Ausführungen zur Schau getragen.
1997
Der Film „Black American Princesses“ beleuchtet die schwarze Arbeiterklasse.
Inzwischen ist der einstige Mikrotrend mainstreamkompatibel geworden. Neuerdings hat er auch eine grosse weibliche Anhängerschaft, vornehmlich Frauen zwischen 20 und 30 Jahren. Social Media als Trendtreiber spielt eine entscheidende Rolle, und entsprechende Role Models tummeln sich auf Instagram und TikTok inzwischen wie Sandkörnchen in der Wüste Gobi. Um Likes zu ergattern, gilt es, kreativ hervorzustechen.
Influencerinnen wie etwa Model Adwoa Aboah oder Sängerin Katy Perry schmücken sich mit Verzierungen ihrer favorisierten Fashionbrands. Während Perry mit Nike-Swoosh glänzte, griff Aboah zu einem winzigen Chanel-Logo auf ihrem linken Frontzahn. Der stamme von «Tooth Candy» aus Los Angeles, wie die Britin verriet. Von güldenen Minischlagringen für 39 Franken über bunte Schmetterlinge hin zu Skeletten, Typ Bone Daddy, à 38 Franken gibt es bei dem It-Retailer alles, was Fashionistas den Mund schöner macht.
Doch ob monoverziert (Kendall Jenner) oder mit unzähligen bunten Akzenten auf gleich drei benachbarten Zähnen (Dua Lipa): Die Möglichkeit, Zahnschmuck als Ausdrucksform zu nutzen und den Mundraum zur Bühne zu stilisieren, findet naturgemäss gerade in der Welt der Kreativen und Extrovertierten Anklang. Ähnlich wie Tattoos demokratisiert und entskandalisiert wurden, ist vor allem der temporäre, akzentuelle Zahnschmuck salonfähig geworden. Die Onlinepinnwand Pinterest verzeichnete auf ihrem Trendbarometer der Suchanfragen bereits 2022 einen Anstieg von 85 Prozent zu «Tooth Gems».
2024
Eine Kreation der Juwelierin Dolly Cohen.
Dentalspezialisten frohlocken auch hierzulande. «Ich kann keine offiziellen landesweiten Zahlen liefern. Wenn ich aber von meiner eigenen Praxis ausgehe, lässt sich sagen, dass ich im ersten Quartal 2024 bereits mehr Steinchen geklebt habe als das gesamte vergangene Jahr über. Die Nachfrage ist hoch», sagt Zahnärztin Pascale Affolter, die auch im Vorstand der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft Solothurn sitzt. Besonders Tooth Gems, also mit kleinen Ornamenten verzierte Zähne, sind laut Affolter gefragt.
Das Prozedere selbst ist unkompliziert: Nach einer gründlichen Zahnreinigung werden die Gems auf die Zähne geklebt. Hierfür wird zunächst die Zahnoberfläche gereinigt und poliert, anschliessend wird der Zahnschmelz mit einem speziellen Haftvermittler behandelt, um die Haltbarkeit der Gems zu verbessern. Das entweder selbst mitgebrachte oder aus dem jeweiligen Sortiment ausgesuchte Steinchen wird dann mit flüssigem Kunststoff auf den vorbereiteten Zahn aufgetragen und mittels Lichthärtung fixiert. Die Kosten für das Anbringen der Tooth Gems variieren je nach Anbieter und Material, liegen aber etwa zwischen 40 und 100 Franken pro Zahn.
2023
Lil Nas X und Teyana im Buch Ice Cold, a hip hop jewelry history (Taschen).
Gesellschaftliche und religiöse Symbolik
Kein irreversibler Eingriff, im Gegenteil – dass sich eine solche Verzierung bei einem beherzten Biss ins Knäckebrot auch mal wieder lösen kann, muss einkalkuliert werden. Affolter sieht aber genau darin auch den Vorteil. «Es gibt ja auch die Möglichkeit, Steine in den Zahn einzuarbeiten, dafür aber wird gebohrt und Zahnhartsubstanz geopfert. Hat die Patientin genug, wird der Stein rausgefräst und der Zahn wieder aufgefüllt. Das ist deutlich aufwendiger.»
Von DIY-Kits, wie sie auch Onlinebilliganbieter wie Temu führen, gilt es, die Finger zu lassen. Allein wegen des mitgelieferten Klebstoffes, dessen Herkunft und Zusammensetzung oft nicht den hiesigen Sicherheitsbestimmungen entspricht und der irreversible Schäden am Zahnschmelz hinterlassen kann. Herausnehmbare Grillz, wie sie auch bei den Fashionshows von Balmain und Givenchy zu sehen waren und in den Mündern von Pharell Williams und Kim Kardashian, hat Affolter bislang noch nicht angefertigt. «Würde ich aber uh gerne», sagt die Schweizerin lachend.
2012
Mainstream: Der US-Schwimmer Ryan Lochte bei den Olympischen Spielen in London.
Wer nun denkt, Mundschmuck sei lediglich ein Relikt der Seventies respektive der 1990er- Jahre, der irrt. Schon die Etrusker, ihres Zeichens zur Eiszeit in der Toskana lebend, hatten ein Faible für blitzende Gebisse. So wurden in einigen etruskischen Gräbern menschliche Skelette mit Zahnschmuck entdeckt. 1999 veröffentlichte der Historiker Marshall Joseph Becker im «American Journal of Archaeology» einen Artikel zu den etruskischen Ursprüngen goldener Zahnapplikationen, die bereits Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. angesiedelt sind: «Diese Applikationen sind alle aus flachen Goldbändern gefertigt und dienen dazu, einen falschen Zahn oder Zähne an ihrem Platz zu halten», hiess es darin. Doch auch kleine befestigte Goldplatten wurden gefunden, und es wird allgemeinhin angenommen, dass diese Verzierungen neben dekorativen Zwecken auch einen symbolischen oder rituellen Wert hatten.
Von den Mayas (400 bis 900 n. Chr.) ist indes bekannt, dass sie ihre Zähne mit Obsidian, einem vulkanischen Glas, abschliffen und mit Jade- oder Pyrit-Einlagen verzierten. Nicht nur ästhetisch motiviert, sondern auch religiös, symbolisierte der neue Schliff den Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter und die Verbindung zu kosmischen Kräften.
700 V. CHR.
Schon die Etrusker trugen Zahnschmuck aus Gold.
Vom Mittelalter an hat sich der Zahnschmuck dann auch in Europa etabliert. Während die Herren schon damals eher zu auffälligen Goldzähnen griffen (Ludwig XIV. von Frankreich, Peter der Grosse von Russland), setzten die Damen von Anbeginn vermehrt auf funkelnde Akzente. Dass auch Kaiserin Elisabeth «Sisi» von Österreich-Ungarn (1837 – 1898) und Frida Kahlo (1907 – 1954) mit veredelten Beisserchen durch die Welt liefen, ist weniger bekannt. Kaiserin Elisabeth hielt ihren Zahnersatz – um ihre Zähne war es nicht gut bestellt – mit Goldringen zusammen. Die Malerin Kahlo indes begriff ihre farbenfroh verzierten Goldkronen als Zeichen ihrer kulturellen Identität und ihrer künstlerischen Ausdrucksmöglichkeit.
17. JHD
König Ludwig XIV. mit Goldzähnen.
Macht, Prestige, Ausdrucksform – die Motive, Zahnschmuck zu tragen, sind bis heute im Wesentlichen geblieben. Geschlechterkonform demonstrieren vor allem Männer über dental platzierte Edelmetalle und -steine Status. Wer den Mund gerne so richtig voll nimmt, geht dabei zur Juwelierin Dolly Cohen oder zum «Father of Diamond Dentistry», wie das «Rolling Stone Magazine» Dr. Thomas Connelly getauft hat. Dem volltätowierten Muskelprotz aus Beverly Hills ist es zu verdanken, dass Musiker Post Malone mit 18 Porzellanveneers, acht Platinkronen und zwei Diamanten statt oberer Eckzähne durch die Welt läuft. Kostenpunkt: 1,6 Millionen US-Dollar. Wie viel genau die Titanleiste von Ye, aka Kanye West, gekostet hat, ist indes ungewiss, klar ist nur, nur dass auch sie im sechsstelligen Bereich lag.
20. JHD.
In Vietnam lackierten Frauen ihre Zähne schwarz – ein Symbol für Schönheit.
Wer jetzt schon nach dem nächsten trendigen Eyecandy Ausschau hält, sollte aufhorchen. Seit Stylistin Pat McGrath bei Schiaparellis Modenschau für Spring/Summer 2024 die Models mit funkelnden Ohren auf den Laufsteg schickte, sind Crystallized Ears der neueste Schrei. Angesichts von Krieg, Klimawandel und Krisenstimmung ist der Hunger nach ein bisschen Sparkle im Leben ungebrochen gross.