Die Luxusboutique der neuen Generation ist eher Universum für die Sinne: Häppchen, Ausstellungen, Screenings, Rundumbetreuung ... Wie Konsum zur Kunstform wurde.


Erst mal hoch in den ersten stock und an der Bar einen Campari Spritz bestellt. Ein Glas voll Italianità in der Hand, schlendert es sich doch angenehmer an den ausgestellten Uhren vorbei. Ab und zu stellt man seinen Drink kurz ab, um zu sehen, wie sich das eine oder andere Modell am Handgelenk macht; die Stücke liegen nicht in Vitrinen, man ist schliesslich «tra amici».

Das Konzept der Anfang Jahr in Genf eröffneten Boutique der Uhrenmarke Panerai – in-spiriert von der italienischen Marine, aber made in Neuchâtel – ist das perfekte Beispiel für das neue Einkaufserlebnis, bei dem man einen Brand erlebt. In ihn eintaucht. Die Wände der Boutique sind zugleich riesige, via Smartphone bedienbare Digitalbildschirme. Praktisch. Je nachdem, wer gerade den Laden betritt, wählt das Personal diskret den am besten passende Werbefilm an: Der muskelbepackte Sportlertyp wird mit einem digitalen Tiefseetauchgang begrüsst, die innovationsverliebte Grosstadtamazone mit einem Einblick ins manufaktureigene Materiallabor. Oder umgekehrt.

Jean-Marc Pontroué, CEO von Panerai, hat sichtlich Spass an seinem neuen Empfangssalon: «Es ist ein Ort, an dem man sich verabreden kann. Ein Ort, der lebt, der vibriert. Sehen Sie nur: Es sind mehr Flaschen im Blickfeld als Uhren!»

Bevor man sich in der neuen Boutique in Genf die passende Panerai aussucht, gibts erst mal einen Campari Spritz.


Klar – nach wie vor gehts primär darum, Umsatz zu machen. Aber im Jahr 2022 ist der Luxuskauf auch eine Art Verbindung, die man aus Liebe eingeht – und dazu gehört nun mal die richtige Atmosphäre, um sich kennenzulernen; das langsame Werben … Panerai bietet bereits einige Uhrenmodelle in limitierter Auflage an, in deren Preis ein Erlebnis (das Schlüsselwort für zeitgemässen Luxus!) inbegriffen ist, das wirklich nur dem exklusiven Käuferkreis vorbehalten ist: Ein Bootcamp mit der italienischen Marine, eine kleine Expedition mit Mike Horn …

Für ausgewählte Sammler wird zum Launch einer Neuheit auch mal ein privates Dinner serviert: Wie wärs zum Beispiel mit in Zitrusfrüchten marinierten roten Crevetten aus Mazara del Vallo an einer Creme aus sizilianischer Avocado und einseitig gegartem Filet vom Seebarsch? Alles schön maritim, alles stilecht italienisch. Und der Clou: Sogar das Geschirr wurde eigens für diesen Anlass entworfen – und trägt die Adresse – 21, rue du Rhône – in stilisierter Form als Prägung. Oder, um es mit den Worten des CEOs zu sagen: «Unsere Kunden erwerben auch Zeit, die sie mit der Marke verbringen.»


Panerai mag das neue Konzept «con molto gusto» umsetzen. Die erste Uhrenmarke, die sich eine passende Erlebniswelt erschafft, ist sie aber nicht: Breitling verwandelt seine Boutiquen mithilfe von luftfahrt-inspirierter Deko und Ledermöbeln mit viel Patina gern in eine Art Gentlemen’s Club für Fliegerei-Fans. IWC lädt in Zürich zu einer virtuellen Testfahrt mit dem IWC Racing Mercedes 300 SL ein. Oris wiederum empfängt seine Zürcher Kundschaft schon länger in einer Hipsterbar mit handwerklich gebrauten Bieren und Gin aus der Region – und hat in der Manufaktur in Hölstein bei Basel unlängst nachgezogen. Nie zuvor barg eine frisch erstandene Armbanduhr so viele Anekdoten, die man seinen Freunden erzählen kann.

« By appointment only »

Eine äusserst exklusive Variante dieses Konzepts verfolgt Audemars Piguet, die 1875 im Vallée de Joux gegründete Uhrenmanufaktur, an der Zürcher Bahnhofstrasse. In ihrem unlängst eröffneten AP House – «by appointment only» – pflegt die älteste noch immer in Familienbesitz befindliche Schweizer Haute-Horlogerie-Marke eine Beziehung von Nähe (oder besser: Intimität) zu ihrer treuen Kundschaft. «From People to People», von Menschen für Menschen: Das vor ein paar Jahren ins Leben gerufene Credo spiegelt sich in deutlich weniger Verkaufsstellen, dafür solchen, die das Entdecken der Markenerzeugnisse zu einem unvergesslichen Erlebnis machen. Das AP House in Zürich ist das erste seiner Art in der Schweiz; weltweit gibt es insgesamt 13 davon, unter anderem in Mailand (das erste, 2017 eröffnet), Bangkok, München und Hongkong.

An der altehrwürdigen Zürcher Bahnhofstrasse, im altehrwürdigen, denkmalgeschützten Leuenhof, hat die altehrwürdige Uhrenmanufaktur Audemars Piguet ihr weltweit 13. AP House eröffnet.

Der neue Standort, der altehrwürdige Leuenhof aus dem Jahr 1916, war einst Sitz der Bank Leu. Spektakuläre Treppe, Marmorkolonnaden, Stuckdecken: kein Wunder, hatte der Denkmalschutz beim Umbau ein Wörtchen mitzureden. «Dieses historische Juwel ist (…) im Einklang mit den Werten unserer Marke. Für uns waren Bewahrung und Wertschätzung von lokal verwurzeltem Savoir-faire aus Vergangenheit und Gegenwart immer schon von grösster Bedeutung», schreibt David Pantillon, Country General Manager Switzerland. Mit anderen Worten: Es geht darum, die Kundschaft so zu empfangen, wie Jules-Louis Audemars und Edward-Auguste Piguet das im 21. Jahrhundert getan hätten. Grosszügig und mit viel Herz.

Laden? – Tempel! Museum!

Die Uhrenindustrie ist mit ihrer innovativen Verkaufsphilosophie in guter Gesellschaft. Wer im Luxussegment das Glück hat, seine Firmenzukunft auf ein starkes Erbe aufbauen zu können, setzt seine Geschichte und die daran beteiligte Handwerkstradition in Szene. Verkaufen wird immer mehr zu einer Kunstform an der Schnittstelle zwischen Gastfreundschaft und zeitgenössischer Museografie; Events, massgeschneiderte Betreuung und persönliche Begegnungen inklusive. Und der Kunde? Plant seinen Besuch im Geschäft wie anno dazumal den einer Sehenswürdigkeit.


Zum Beispiel in der im letzten Herbst in Genf eröffneten Cartier-Boutique: Man schlendert durch die verschiedenen Räume wie durch eine riesige Wohnung, in der jedes Zimmer eine andere Facette des Firmen-Know-hows illustriert. Die handwerkliche Virtuosität zeigt sich nicht nur in den Schmuckstücken in den Vitrinen; jeder Wandteppich, jedes Möbel, jedes Gemälde (und natürlich das fabelhafte Mosaik in der Eingangshalle!) ist eine Ode ans Kunsthandwerk. Auch hier gibts ein Apartment für private Feiern und VIPs, denen das Schmuckhaus im Zeichen des Panthers rund um den Globus als eine Art Zweitwohnung dient.

Die Cartier-Boutique in Genf wurde letztes Jahr komplett neu gestaltet – und rückt das Kunsthandwerk, auf welchem der Ruhm der Firma fusst, in den Fokus.


Das Konzept eines Verkaufsraums, der zugleich ein pulsierender Hotspot von Lebensfreude und Kreativität ist, hat durchaus historische Vorbilder. Man denke etwa an die legendären Adresse 30, avenue Montaigne, in Paris, wo Christian Dior 1946 mit seinem ersten Atelier einzog. Das Herrenhaus direkt gegenüber der Place Athénée war damals wie heute ein Pilgerort für Liebhaberinnen der Haute Couture. Wie viele Modenschauen fanden auf diesen Treppen statt? Wie viele Celebrities wurden hier fotografiert? Wie viele Hände stachen sich hier die Finger blutig, um die Stücke des Maestros rechtzeitig fertigzubekommen …


Diesen Frühling wurde die ikonische Adresse nach fast dreijähriger Bauzeit wiedereröffnet; für die Neugestaltung der 10 000 Quadrat-meter Luxus zeichnet der amerikanische Architekt Peter Marino verantwortlich. Das Resultat ist weniger eine Boutique als vielmehr ein Tempel: ein Pilgerort, an dem Dior-Aficionados problemlos einen ganzen Tag verbringen können. Erst gibts Kaffee in einem der drei blumengeschmückten Innengärten (ein Werk von Star-Landschaftsarchitekt Peter Wirtz), dann Shopping mit Multimedia-Unterstützung (wer will sich seine Dior Book Tote personalisieren lassen?), danach Lunch im vom Chefkoch Jean Imbert geführten Restaurant Monsieur Dior. Letzterer – der selbst ein grosser Gourmet war – wünscht vom Gemälde an der Wand herunter bon appétit, während ein Gang nach dem anderen auf dem herrlichen hauseigenen Porzellan serviert wird. Nachdem man sich ein paar Teller als Souvenir hat einpacken lassen, bleibt fast nicht mehr genug Zeit, um durchs Museum zu schlendern, das dem Couturier gewidmet ist. Zum Trost, dass man die verborgensten Winkel des Hauses verpasst hat, gibts ein Buch über diesen einzigartigen Ort: «Dior, the legendary 30, avenue Montaigne» (Rizzoli-Verlag).


Die Zeichen der Zeit stehen auf Konsumreduktion. Die Luxusmarken reagieren darauf, indem sie zu besserem – Himmel, so viel besserem! – Konsumieren einladen . Und jeden Einkauf zu einem unvergesslichen Erlebnis machen.