Neues Fingerspitzengefühl: Die Maniküre ist so beliebt wie nie – bei Frauen und Männern! Dabei färbten sich schon die alten Ägypter die Nägel.

Rund ein Jahr ist vergangen, seitdem «Watermelon»-Sänger Harry Styles nach diversen Andeutungen das Geheimnis lüftete: Die Lancierung seiner eigenen Kosmetikmarke. «Ich habe Pleasing gegründet, um mit Menschen zusammenzuarbeiten, die mich inspirieren (…) Ich hoffe, ihr liebt es so sehr wie ich», schrieb der Brite auf Social Media. Neben Gesichtspflegen und limitierten Make-up-Produkten fokussiert das Beauty-Label auf ein breites Angebot an Nagellacken und Gels: Orange, Anisfarben, Rosatöne, Apricot. Ein wenig erinnert das Ganze an einen Bastelkurs in der zweiten Primarschulkasse – inklusive guter Laune. Styles‘ Ankündigung hatte einen sofortigen Effekt: Die Schlagwörter «Männer und Nagellack» verzeichneten einen Anstieg von angeblich mehr als 450 Prozent bei den Suchmaschinen.


Ein neuer Trend also? Nur zum Teil. «In der Rockszene sieht man seit Jahrzehnten Männer mit lackierten Nägeln», sagt Kim Petri, Mitbegründerin der Schönheitssalon-Kette Schminkbar. «Ich erinnere mich noch gut daran, wie ein dunkelgrauer Nagellack plötzlich ausverkauft war, nachdem Sänger Seal die Farbe für Fotoaufnahmen trug.»


Was vor zwanzig Jahren noch als stilistische Extravaganz ein paar weniger Paradiesvögel abgetan wurde, ist längst nicht mehr Superstars vorbehalten. Ein Verkäufer im Supermarkt oder Concierge im Hotel mit lackierten Nägeln? Lösen längst keine hochgezogenen Augenbrauen mehr aus. Vielleicht sind Banker und Anwälte die Letzten, die Widerstand leisten. «Wir bieten ganz bewusst keine Farben mehr ausschliesslich für Frauen oder Männer oder geschlechtsspezifische Behandlungen an», so Petri.

Eine logische Entwicklung, kannte die Maniküre zu ihren Anfängen doch weder Geschlecht noch Ethnie. «Archäologen entdeckten ägyptische Mumien von 5000 v. Chr. mit vergoldeten Nägeln und mit Henna gefärbten Fingerspitzen. Etwa zur gleichen Zeit färbten auch indische Frauen ihre Nägel mit Henna, während altbabylonische Männer Kajal zum Färben ihrer Nägel verwendeten», schreibt Beauty-Journalistin Funmi Fetto in «The Guardian».


Schon im alten China galt um 3000 v. Chr. die Farbe der Fingernägel als Indiz für den sozialen Status einer Person. Haltbar gemacht wurden die verschiedenen Schattierungen mit einer Mischung aus Bienenwachs, Gummi arabicum, Eiweiss und Farbstoffen aus Blütenblättern – wobei stark pigmentierte Rottöne jeweils den Mitgliedern des herrschenden Regimes vorbehalten waren.


In Europa wurde die Maniküre ab ungefähr 1800 salonfähig. Damals wurden die Nägel vorrangig in Form gefeilt und auf Hochglanz poliert. Farbe kam erst später ins Spiel, in den späten 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mit dem Aufkommen der Automobilindustrie experimentierte man mit neuen, deckenden Farben für Fahrzeuge. Basierend auf dieser Technik wurden die ersten modernen Nagellacke entwickelt, die allerdings nicht sehr lange hielten und zunächst fast nur in Hollywood-Produktionen auf den Nägeln von Stars wie Gloria Swanson oder Rita Hayworth zu sehen waren. Den Durchbruch vom elitären Nischen- zum erschwinglichen Beauty-Produkt für die Massen schaffte der Nagellack im Jahre 1932, als die Gebrüder Charles und Joseph Revson in Zusammenarbeit mit dem Chemiker Charles Lachman auf der Basis von Autolacken den ersten deckenden Nagellack entwickelten. Sie vertrieben ihn unter dem Firmennamen Revlon.

Ein Zahnarzt erfindet die künstlichen Nägel

Laut des Statistikportals Statista beträgt der aktuelle Jahresumsatz im Segment Nägel in der Schweiz rund 40,72 Millionen Euro. Bis 2026 wird das Marktvolumen voraussichtlich auf 47,60 Millionen anwachsen. Weltweit wird ein jährliches Umsatzwachstum von knapp fünf Prozent erwartet. Zurückzuführen ist dies vor allem auf die Entwicklung im Bereich Gelnägel und künstliche Nägel. Überraschenderweise war es ein Zahnarzt, der Letztere 1957 erfand. Während der Arbeit brach Frederick Slack sich einen Nagel ab und verwendete Alufolie und Dentalacryl aus dem Labor, um ihn zu reparieren. Dienen unsere Fingernägel doch nicht nur dem Schutz der sensiblen Fingerkuppen, sie sind auch ein wichtiger Bestandteil des Tastsinns.


In den 1960er-Jahren folgte ein weiterer Meilenstein: Jeff Pink, Make-up-Artist und Gründer der Marke Orly, erfand die «French Manicure». Ein zartes Rosa, das mit einem eleganten weissen Schwung auf der Nagelspitze endet. Ein Stil, der Chic und Sauberkeit verkörpert und den Schauspielerinnen das Leben am Filmset erleichterte, da die Farbe des Nagellacks nicht mehr an das Kostüm angepasst werden musste. Intensives Rot hingegen kultiviert eine hohe sinnliche Kraft. Das erkannten auch die grossen Modehäuser und brachten ihre eigenen Farbpaletten auf den Markt. Zuerst Dior, gefolgt von Chanel, das 1995 mit «Rouge noir» – in den USA ursprünglich «Vamp» genannt – einen weltweiten Hype auslöste. Auch das Traditionshaus Hermès, berühmt für seine Lederwaren und Seidenfoulards, hat seit vergangenem Jahr eine eigene Nagellacklinie. Die Produkte von «Les Mains Hermès» wurden den Verkäuferinnen und Verkäufern passenderweise aus den Händen gerissen

Gegen Konventionen und Klassendenken

Der grösste Stilbruch geht auf die 1980er- Jahre zurück, als eine alternative Ästhetik zum «bon chic bon genre» der westlichen Kultur entstand – was frei übersetzt so viel bedeutet wie: guter Stil, viel Klasse. Schwarze Frauen wurden zu Vorbildern einer aggressiveren, wilderen Weiblichkeit mit endlos langen Fingernägeln, die wie Krallen aussahen. Von Donyale Luna, der ersten Afro-amerikanerin auf dem Cover der US-«Vogue» in den 1960er-Jahren, über Janet Jackson bis hin zur dreifachen Goldmedaillengewinnerin und Leichtathletin Florence Griffith Joyner trugen diese Frauen eine besonders grosse Portion Extravaganz, Freiheit und Stolz nach aussen. Ein Stil, der heute so häufig kopiert wird, dass der kämperische Gedanke und die gesellschaftskritische Aussage dahinter oftmals vergessen gehen.


Zumindest die Geschlechtergrenzen sind dabei, sich aufzulösen. Die Zeit ist reif für allerhand Nailart-Verrücktheiten. Jene besonders anspruchsvolle Form der Maniküre, die den Ehrgeiz hat, ein Kunstwerk auf fünf Quadratzentimetern unterzubringen. Man denke an Miniaturlandschaften mit Kirschblüten, wie man sie in Asien trägt, an die mit Schmucksteinen besetzten Nägel einer Kardashian, an geometrische Spiele und andere bunte Kompositionen, die in den sozialen Netzwerken zu bestaunen sind. Vor allem seit Corona für maskierte Gesichter gesorgt und sich die Aufmerksamkeit auf andere Körperpartien verlagert hat. Dieses Stück Keratin, das an unsere wilde, ja tierische Vergangenheit erinnert, ist mehr denn je ein Sinnbild für Freiheit: für Klassik und Rebellion, für Chic oder die Liebe zum Kitsch