Jahrtausendealtes Handwerk neu interpretiert: Keramik wird zu modernen Designobjekten und Kunstwerken in Galerien.

Lange Zeit galt Töpfern als Zeitvertreib für gelangweilte Hausfrauen. Zum Glück verabschieden wir uns langsam von solchen Klischees. Und auch das Material hat sich emanzipiert: Längst wird Ton, aus dem seit Jahrtausenden schlichte Keramiktassen und -teller gefertigt werden, nicht mehr als minderwertige Erde betrachtet, haftet ihm kein Öko-Touch mehr an. Immer mehr Designer machen sich das mineralhaltige Material zu Eigen und nutzen seine Vielseitigkeit. Die Kollektion von Cristina Celestino für Giovanni De Maio veredelt Innenräume und bietet eine neue Art der Oberflächengestaltung mit wunderschönen grafischen und geometrischen Mustern, die vom Meer inspiriert sind. Weniger ornamental ist die japanische Marke Tajimi Custom Tiles unterwegs, die in Zusammenarbeit mit dem englischen Designer Max Lamb ein geniales Set aus dreidimensionalen modularen Plättchen entworfen hat. Sie lassen sich zu unzähligen Formen und Objekten zusammensetzen – Vasen, Sofas, Tischen, Bänken und sogar Trennwänden. Aufgrund seiner antibakteriellen Eigenschaften wird Keramik im Designbereich häufig für Wand- und Bodenbeläge verwendet. Doch es geht nicht nur um die Funktionalität. Für Ronan Bouroullec ist Keramik «Verlangen, Sinnlichkeit. Ich liebe Keramik, das Feuer, das die Erde erhärtet, und die Glasur, die gleitet und die Form umhüllt.»

Neu Interpretationen

Der Designer und Künstler entwarf für Flos – für einmal ohne seinen Bruder Erwan – eine aus einem Stück gefertigte Lampe in drei Farben mit dem schlichten Titel «Céramique». Ihre bleifreie Lackierung hebt die handwerkliche Fertigung hervor. Für Mutina, einen Hersteller hochwertiger Plättchen, entwickelte Bouroullec ausserdem «Adagio», eine modulare Wandinstallation. Die gitterartige Struktur erinnert an Stoff, dessen Dreidimensionalität durch die Überlappung der Elemente betont wird.


Keramik hat in den letzten zehn Jahren einen wahren Boom erlebt. Die Genfer Künstlerin Caroline Andrin ist Leiterin des Fachbereichs Keramik an der Schule La Cambre in Brüssel und bestätigt: «Die zeitgenössische Keramik war lange Zeit nur einem kleinen Kreis von Kennern und spezialisierten Galerien vorbehalten, doch heute werden immer mehr Ausstellungen zu diesem Thema veranstaltet. Diese zunehmende Sichtbarkeit hat wesentlich zu der allgemeinen Begeisterung beigetragen.» An den Kunstschulen gibt es immer mehr interessierte Studierende, obwohl viele Studiengänge Anfang der 2000er-Jahre geschlossen wurden.


Junge Designschaffende eignen sich traditionelle Fertigkeiten an und interpretieren sie auf eine transdisziplinärere Art und Weise. Andrin betont: «Nur weil das Werkzeug althergebracht ist, heisst es nicht, dass die Überlegungen nicht zeitgemäss und in der Realität der heutigen Welt verankert sein können. Und das ist vielleicht die erfreulichste Entwicklung.»


Christian  Gonzenbach,    Künstler und Lehrer am CERCOO (Centre d’expérimentation et de recherche en céramique contemporaine de la HEAD-Genève), verkörpert die neue künstlerische Beziehung zu Terrakotta. Seine Experimente bringen die Dualität zwischen Zufall und Kontrolle zum Ausdruck. Für die Serie «Hanabi», Werke aus Porzellan und Aluminium, vergräbt der Künstler jeweils Vasen in Sand und giesst dann geschmolzenes, auf 800 Grad Celsius erhitztes Aluminium in den Hohlraum. «Unter der Hitzeeinwirkung zerspringt die Vase und das Aluminium tritt durch die Risse aus. Beim Abkühlen werden Gefäss und Inhalt eins. Das ist fast ein poetischer Vorgang. Das flüssige Metall wird zu einer Art Wolke, einer Blume, die aus der Vase herausragt und kristallisiert. Jedes Stück reagiert anders.»

Die Unvorhersehbarkeit als Reiz

Die Anziehungskraft von Keramik erschliesst sich auch durch diese Unvorhersehbarkeit. Nitsa Meletopoulos und Victor Alarçon von Duo Vertigo repräsentieren ebenfalls eine neue Generation von Designern, die wagemutig verschiedene Techniken kombinieren und sich nicht vor Fehlschlägen fürchten. Die beiden veredeln Stücke mit Rissen durch einen Goldbrand. Verspielte Werke, die weder vor Verrücktheiten noch vor Exzessen zurückschrecken. Sie zeigen die mystische Seite der Keramik, die Transformation von Erde durch Feuer, die zu den Grundlagen des menschlichen Handwerks zurückführt. Die aber trotz ihrer langen Geschichte auch auf den Prüfstand gestellt wird. Caroline Andrin bemerkt: «Die neue Generation hinterfragt auch die Verwendung von Rohstoffen, die Herkunft der Ressourcen, ihre Toxizität, die Bedingungen, unter denen das Material gewonnen wurde, oder den Energieverbrauch.» Ewiges Beschreiten von neuen Wegen als Antwort auf die Herausforderungen von morgen.

Das Duo Vertigo verwendet verschiedene Techniken, um aussergewöhnliche, manchmal verrückte Objekte zu formen.