Der Halbmond, das Markenzeichen von Designerin Marine Serre, symbolisiert den Aufbruch in ein neues Modezeitalter. Hallo, Öko-Futurismus!

Das 19. arrondissement hat nicht viel mit dem Postkarten-Paris zu tun, das viele Modedesigner heraufbeschwören. Das funktionale Industriegebäude, der Inkubator der Stadt für Startups, ist eingepfercht zwischen Bahngleisen, Sozialwohnungen und Grünflächen, auf denen Migranten campieren. Es ist der Arbeitsplatz der 30-jährigen Marine Serre – und ihre Inspiration. Alles, was die Pariserin vor den Fenstern sieht, setzt sich zu ihrer «regenerated fashion» zusammen: die Schleier der Frauen, die bunten Decken und die übereinandergelegten Kleidungsstücke, die die Obdachlosen wärmen.


Selbst die Möbel in ihrem ganz in Weiss gehaltenen Showroom funktionieren nach dem Prinzip «aus Alt mach Neu»: Pneus, Sackkarren und Benzinkanister werden mit alten Tischplatten und Stuhlbeinen aus Grossmutters Zeiten zu neuen Designhybriden. Eine Frage scheint allgegenwärtig: Wie werden die Menschen in der Postapokalypse leben? Marines Antwort: mit den Überresten der heutigen Zivilisation. Upcycling ist das Thema, für das sie die renommiertesten Auszeichnungen der Branche erhalten hat: den LVMH Prize 2017 und den ANDAM Award 2020. Ursprünglich wollte Marine Serre professionelle Tennisspielerin werden, ein Autounfall machte ihre Hoffnung zunichte. Mode zu studieren war lediglich Plan B. Die Anleihen an Sportswear sind in ihrer Kleidung für Frauen und Männer oft erkennbar, die Präsentation ihrer Frühjahr/Sommer-Kollektion 2023 fand auf einem Sportplatz statt. Mit 1500 geladenen Gästen und vielen VIPs, die über den Laufsteg stolzierten, war ihre Show eine der meistbesuchten der Pariser Männermodewoche.

Sie haben Ihre Karriere einmal so beschrieben: „Sie begann wie ein Sprint, ohne das Startsignal gehört zu haben.“ Was empfanden Sie bei Ihrer letzten Modenschau anlässlich des sechsten Geburtstags Ihres Hauses?

Grosse Freude! Ich habe erst vor sechs Jahren angefangen und das Tempo, mit dem wir uns entwickelt haben, war nicht freiwillig gewählt. Nach sechs Jahren Sprint war es sehr bewegend, zurückzublicken und zu sehen, was wir alle zusammen erreicht haben – mein Team, meine Mitarbeiter und die Gemeinschaft, die uns unterstützt. Deshalb hatten wir, abgesehen von den Profis, fast 1000 Leute zu Gast, die normalerweise nie zu Modenschauen eingeladen werden. Der Kollektionstitel «State of Soul» war nicht nur eine Show, sondern ein Ereignis zum Feiern, das wir teilen wollten. In der Tat vergisst man in der Mode oft, den Moment bewusst zu erleben, weil man gedanklich schon in der nächsten Saison ist.

Für ein junges, unabhängiges Haus wie das Ihre haben Sie für dieses Spektakel recht viel Geld ausgegeben.

Ja, das ist so, ganz bewusst. Natürlich gehört Mut dazu, aber ich glaube an das, was ich tue. Man vergisst oft, dass es nicht nur die Industrie ist, die die Mode formt, sondern vor allem die Menschen, die sie tragen und tatsächlich kaufen. Ich bin nicht für Fantasy-Mode, sondern stehe für eine Lebensweise, für eine Denkweise, bei der man sich selbst hinterfragt und bereit ist, die Welt von morgen zu verändern. Ich finde es extrem wichtig, dass die Branche ehrlicher wird. Die Mode hat uns immer zum Träumen gebracht, aber sie hat uns auch betrogen.

Unter Ihren wie immer sehr diversen Models befanden sich auch VIPs wie Madonnas Tochter Lourdes Leon, Bad Boy Joey Starr oder der Fussballer Djibril Cissé. Eine neue Marketingstrategie von Ihnen?

Es waren viele extrem talentierte Leute dabei. Ungefähr die Hälfte der Models bestand aus Profisportlern oder Musikern, die schon lange mit uns verbunden sind, aber keine VIPs im klassischen Sinne. Sie sind für mich wie eine Familie. Ich möchte die Perspektive der Modebranche ändern: Kunstschaffende dürfen nicht ausgenutzt werden. Ich betrachte mich selbst als eine Künstlerin. Die Menschen, die mit mir zusammenarbeiten, tun dies nicht aus Marketinggründen.

Mit nur 30 Jahren stehen Sie an der Spitze eines florierenden Modehauses: Ihr Umsatz hat sich in den Jahren der Pandemie fast verdopptelt auf beträgt inzwischen 15 Millionen Euro. Ihr Team besteht jetzt aus 67 Personen, 81 Prozent Ihrer Manager sind Frauen. Sind Sie eine ebenso gute Unternehmerin wie Designerin?

Das müssen Sie mein Team fragen. Letztendlich hat es sicher geholfen, eine Unternehmerin zu sein, die sowohl kreativ ist als auch umsichtig zu managen weiss. Heute bin ich nicht mehr auf mich allein gestellt, sondern werde von meiner Schwester als Finanzdirektorin und anderen talentierten Frauen unterstützt. Wir haben uns stark weiterentwickelt. Aber das Label wurde nicht mit dem Ziel gegründet, schnell zu wachsen oder riesige Gewinne abzuwerfen. Das Ziel war immer, uns selbst zu hinterfragen, unsere Lebensweise zu ändern und unserem Beruf wieder einen Sinn zu geben. Und langsam aber sicher kommen wir diesem näher.

Der Erfolg dürfte das Interesse von Investoren wecken. Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?

Es kommt darauf an, mit wem man kooperiert und wie die Zusammenarbeit aussieht. Rückblickend denke ich, dass unsere Unabhängigkeit das Haus extrem flexibel gemacht hat. Wir sind so in der Lage, uns ständig anzupassen, sind widerstandsfähiger und besitzen eine enorme kreative Freiheit. Natürlich könnten wir uns einen Investor ins Boot holen, aber die sind in der Regel auf Profit aus. Wenn ich einen finde, der sagt: Es geht mir nicht darum, Gewinne zu machen, und ich liebe, was du machst, warum nicht? Aber bis jetzt habe ich so ein Angebot noch nicht erhalten (lächelt).

Recycling ist ein zentraler Bestandteil Ihrer Marke. Sie haben sogar Ihre eigene Lieferkette entwickelt. Ihre Hard-Drive-Kollektion, die derzeit in den Geschäften erhältlich ist, besteht zu 92 Prozent aus nachhaltigen Materialien, von denen 70 Prozent wiederverwertet sind. Warum ist Ihnen dies so ein Anliegen?

Ich bin in einem Weiler aufgewachsen, in dem fünf Menschen lebten, mitten im Wald. Das macht dich sensibel für deine Umwelt. Du möchtest ihr keinen Schaden zufügen. Ausserdem habe ich sehr früh nähen gelernt und war von Menschen umgeben, die geschneidert haben. Mode war für mich lange Zeit ein Synonym fürs Brockenhaus, wo ich alte Fetzen fand, die ich nach meinem Geschmack umgestaltet habe. Dadurch erkennt man die Arbeit, die hinter jedem Stück steht. Der übermässige Konsum der 1990er- und 2000er-Jahre hat uns das vergessen lassen. Ein T-Shirt für einen Euro produzieren? Das ist nicht möglich! Es muss jemanden geben, der darunter leidet. Als ich den LVMH-Preis gewann, war ich bereits fest entschlossen, nicht nur neue Klamotten zu entwerfen, sondern das Modesystem zu verändern.

Ihre Lagerräume sehen aus wie eine Sammelstelle für Altkleider.

Wir sind mit der traurigen Realität konfrontiert, dass Tonnen von Jeans, Kissenbezügen, Leintüchern und Vorhängen im Abfall landen. Ich möchte daraus etwas Sinnvolles machen, das noch eine weitere Botschaft transportiert: Upcycling macht die Archäologie der Kleider sichtbar, das finde ich sehr schön. Man sieht Drucke und Muster, die man vor 10, 20 oder 50 Jahren getragen hat. Ihnen ein zweites Leben zu geben macht Lust auf mehr.

Ist Mode für Sie eine ökologisches Manifest?

Die Herausforderung besteht darin, den komplexen Prozess dahinter vergessen zu machen. Kleidung sollte nicht kompliziert sein. Sie müssen sich nicht jeden Morgen zig Fragen stellen, wenn Sie sich anziehen. Ich betrachte Mode als eine Art beste Freundin. Sich anzuziehen ist etwas Natürliches. Der gesamte Produktions- und Verarbeitungsprozess tritt in den Hintergrund, sobald ein Kleidungsstück hergestellt ist.

Ihre Masken wurden zu Bestsellern, sie kamen passenderweise zu Beginn der Pandemie in die Läden. Beyoncé tanzte in ihrem Film „Black Is King“ in einem Anzug mit dem Halbmond-Logo, Adele zeigte sich damit – was Ihre Marke zu einer der meist gegoogelten des Jahres 2020 machte.

Immer mehr Menschen sahen und likten unsere Videos. Ich erhielt Nachrichten wie: «Ich liebe dieses Video, das du über den Herstellungsprozess und Recycling gemacht hast.» Ich hatte zuvor gar nicht über das Thema Nachhaltigkeit kommuniziert. Aber während der Corona-Pandemie habe ich gespürt, dass in unserer Gemeinschaft ein neues Bewusstsein entstanden ist.

Angesichts der zurückgewonnenen Freiheit scheint die Mode wieder in ihr altes Hamsterrad zurückzukehren, jagt in einem halsbrecherischen Rennen um die Welt. Verzweifeln Sie manchmal an diesem System?

Natürlich ist es enttäuschend. Es gibt eine Menge Greenwashing. Es existiert nicht einmal ein Zertifikat, das definiert, was Upcycling bedeutet. Das führt zu einer Unschärfe, die es jedem ermöglicht, auf den grünen Modezug aufzuspringen. Ich möchte mich morgens nach dem Aufstehen mit einem guten Gewissen im Spiegel anschauen können. Für mich ist es nicht nur ein Geschäft, das ich aufbaue. Es ist hoffentlich auch eine Inspiration für die nächsten Generationen von Modedesignern. Während der Pandemie haben wir es geschafft, Türen zu öffnen. Wenn die anderen Häuser sie wieder schliessen, okay. Ich selbst weiss, dass mich mehr Geld nicht glücklicher macht. Offen gesagt: Ich habe mir schon gedacht, dass es so kommen würde.

Die Herausforderung ist, Einzelstücke aus recycelten Materialien bezahlbar zu machen.

Was ist mit den Konsumenten?

Zumindest ein Teil von ihnen hat seine Ansichten radikal verändert, das spürt man ganz deutlich. Es gibt viele Menschen, die sich anders ernähren, die aus den Grossstädten wegziehen und sich nach einem ruhigeren Leben sehnen. Es ist ein erster Schritt hin zu einem Umdenken.

Ihre Modenschauen beschwören oft eine ziemlich düstere Zukunft herauf, eine postapokalyptische Welt, die von Ölpesten und Verstrahlung heimgesucht wird. Sind Sie eine Pessimistin?

Ich bin einfach realistisch. Jeder interpretiert das als Pessimismus. Aber was die Menschen auf dem Planeten angerichtet haben, ist unsere Realität. Es geht darum, der Wahrheit ins Auge zu blicken und dann in der Lage zu sein, Dinge so gut wie möglich zu ändern.