Mary Katrantzou verzaubert die Modewelt mit ihren märchenhaften Visionen. Zu Besuch bei einer grossen Designerin mit der Seele eines Kindes.

Dieser Jupe – aber halt! – sieht der nicht aus wie ein Legostein? Bingo! Und diese Handtasche? Geschmückt mit ­einem aufblasbaren Walfisch, wie ihn die Kinder zum Spielen in der Badewanne lieben. Für ihre aktuelle Kollektion hat Mary Katrantzou aus dem Repertoire der Kind­­heit geschöpft: Entgegen des gegenwärtigen Trübsinns versprüht sie positive Energie. Einstimmig lobte die Fachpresse die Leistung der englischen Modeschöpferin mit griechischen Wurzeln. Sie entwirft Kleider, die gleichzeitig vergnüglich, prächtig, optimistisch und auch tragbar sind. Ihre Modeschau wurde zur besten der Saison ernannt.


Seit der Gründung ihres Modelabels vor zehn Jahren hat sich Katrantzou mit ihrer unterwarteten Mischung aus Traum und Realität einen Ruf gemacht. Die Kleider fallen gut, sind bequem zu tragen , frei von Schnickschnack. Dennoch trumpfen ihre Kreationen auf – mit exzentrischen Prints und umwerfenden Materialien, geschmückt mit Pfauenfedern oder einem Schneewittchen aus Strass auf der Brust. Ihr Markenzeichen? Prints, basierend auf Digitalfotografie, inspiriert von Alltagsgegenständen. 2010 erhielt Katrantzou den Swiss Textiles Award für eine Kollektion, für die sie sich von bourgeoisen Inneneinrichtungen mit Stuck und Sesseln im Stil von Louis XVI. hat inspirieren lassen und die Körperformen gekonnt in Szene setzen – spektakuläre Outfits mit richtig viel Pep.


In diesem Sinne hat die Designerin auch eine Schmuckkollektion für Atelier Swarovski erarbeitet, eine exklusive Linie der Marke, die gern mit prestigeträchtigen Partnern zusammenarbeitet, sei dies aus der Modewelt (Jason Wu, Iris Apfel), der Architektur (Daniel Libeskind, Zaha Hadid) oder dem Design (Ron Arad). Mary Katrantzou hat ein Universum aus farbintensiven Kristallen geschaffen, in dem sich jeder Stein gleichzeitig frei und doch im Rahmen seiner individuellen Form entfaltet.


Das Quartier Shoreditch im Norden Londons war bis vor einigen Jahren für seine stillgelegten Lagerhäuser bekannt. Heute gilt es mit seinen vielen Start-ups aus dem Technologiesektor und den alternativen Bars als einer der lebendigsten Stadtteile. Das Studio von Mary Katrantzou befindet sich etwas abseits vom emsigen Treiben in einem alten Industriekomplex aus Ziegelsteinen, das zum Business Center umgewandelt wurde und in dem ihre Ateliers, Büros und der Showroom zwischen den übrigen Unternehmen stockübergreifend mehr und mehr Platz einnehmen. Hier testen Textildesigner die neuen Farben, da wird massgeschneiderten Kreationen der letzte Schliff verpasst und dort werden an der Wand Stimmungsbilder für die nächste Kollektionen aufgehängt. Der Boden ist aus Holz, im Eingang stehen Velos und im Hof befindet sich ein improvisiertes Café unter freiem Himmel: Kreativität ohne Prunk. Willkommen in der Fabrik der Lebensfreude!

Wir sind im Jahr 2018. Welche Geschichte erzählt Ihre Frühlingskollektion?

Sie steht in einer engen Beziehung mit der Schmuckkollektion, die ich kurz vorher in Zusammenarbeit mit Atelier Swarovski entworfen habe. Wir haben uns dem Thema Nostalgie verschrieben, der Bedeutung des Zurückschauens und dem Wecken angenehmer Erinnerungen. Als ich den Katalog mit den Kristallen geöffnet habe und diese Farben, Formen und Grössen gesehen habe, wurde ich ­sofort in meine Kindheit zurückkatapultiert und wollte spielen und alles auszuprobieren. Diese Aktivitäten in ­unserer frühesten Kindheit sind das Fundament für die Kreativität im Erwachsenenalter. Daraus habe ich zuerst für den Schmuck geschöpft: einfache, geometrische Formen, wie Bauklötze – rund, würfelförmig und dreieckig – und dazu kamen die Farben des Regenbogens.

Laufstegreihenfolge aus der Prêt-à-porter Kollektion Frühling/Sommer 2018.

Ihre Nostalgie hat nichts Schwermütiges…

Überhaupt nicht! Es ist die Erinnerung an glückliche Momente. Es ist das erneute Erleben von Glücksmomenten beim Spielen, beim Entdecken des Möglichen, der Frische. Dieser Gemütszustand tut gut. So kamen wir zu den Begriffen, die danach auch die Prêt-à-porter-Kollektion geprägt haben.

Und so kam es zu Jupes aus Lego-Steinen.

So ist es! Ich bin ein Kind der 1980er-Jahre und meine Welt bestand aus aufblasbaren Spielsachen, Spirographen und Murmeln. Es geht jedoch nicht nur um eine persönliche Nostalgie, vielmehr um ein allgemeines Gefühl. Etwa den Moment, in dem auf dem Campingplatz das Zelt Form annimmt. Kann man diesen zur Inspiration einer Silhouette nutzen? Ja, daraus wurden die Jupes aus glänzendem Nylon, die an Heissluftballons erinnern. Und die Freundschaftsbänder, die wir uns gegenseitig geknüpft haben? Daraus wurde ein Kleid, das aussieht wie ein übergrosses Armband, ein riesiges geknüpftes Band, verziert mit einer Unmenge von Kristallen. Für die Realisierung dieser unglaublichen Handarbeit hatte ich die Hilfe einer Frauengruppe aus Kosovo, die ich über eine Wohltätigkeitsorganisation gefunden habe.

Ihre früheren Kollektionen waren von Technologie inspiriert. Haben Sie jetzt das Kunsthandwerk für sich entdeckt?

Seit einiger Zeit integriere ich handwerkliche Themen. Zu Beginn haben wir viel mit den technologischen Fortschritten gearbeitet, so etwa mit digital bearbeiteten Prints, und wir haben diese Technik an ihre Grenzen getrieben. Ich erinnere mich an die damalige Kritik, auf die ich noch heute stolz bin: 2012 nannte mich «Vogue» den «Leonardo da Vinci des Photoshops». Wow, das war einfach unglaublich! Doch dann kam der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass man nur noch den Print-Aspekt meiner Arbeit wahrnahm. Dabei sind Schnitte und Textilherstellung ebenso wichtig: Wir haben seit jeher unsere eigenen Stoffe entworfen und dabei mit Stickereien viel Wert auf die Struktur gelegt. Ich habe also das Bedürfnis verspürt, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, und drei Kollektionen entworfen, auf denen nicht die Spur eines Printmotivs zu finden war. Ich habe gewissermassen mit dem Feuer gespielt, zumal ich ganz offensichtlich Prints liebe und sie ein fester Bestandteil der DNA der Marke sind. Ich wollte mir aber beweisen, dass es auch noch anderes gibt.

Outfit aus Mary Katrantzous Siegerkollektion des Swiss Textiles Award 2010

Wie würden Sie diese DNA definieren?

Wir sind ganz klar ein Label, das sich an Bildlichem orientiert und die vorherrschende Technik ist die Collage. Unsere Identität beruht jedoch auf der Farbe, dem Motiv, der Fantasie und einer gewissen Tollkühnheit. Kleider für Frauen, die sich etwas getrauen.

Sie verwenden oft Glaskristalle in Ornamenten. Warum?

Ich bin in Griechenland aufgewachsen. Meine Vorstellung von Swarovski-Kristallen waren im Wesentlichen geprägt von kleinen schimmernden Tierchen, wie sie die Eltern meiner Freunde sammelten. Die Begeisterung war riesig: ein Schwan, ein kleiner Bär … Erst mit dem Umzug nach London habe ich realisiert, dass Kristalle auch einer innovativen Forschung und einer künstlerischen Zusammenarbeit dienen können. Heute liebe ich es, mich mit dieser Materie zu beschäftigen. Wir haben so vieles ausprobiert! Das Bedrucken von Kristallen, das Bemalen mit Sprühfarben, geflockte Kristalle … Es ist unglaublich, dass man so stark ausgearbeitete Details zu einem so erschwinglichen Preis anbieten kann.

Welche Rolle spielt Griechenland für Ihren Stil?

Meine Mutter war Innendekorateurin in Athen und ich war umgeben von Fachzeitschriften, die voll waren von prächtigen Häusern. Ich machte aus den Seiten meine ersten Collagen, und meine ersten Kollektionen waren eine Erweiterung dieses Spiels. Ich habe ­ausserdem festgestellt, dass ich von den griechischen Frauen der 1980er-Jahren beeinflusst bin, die tadellos gekleidet waren, mit Handtasche und dazu passenden Schuhen, Nagellack und Lippen­stift. Ich musste mich von diesem Konzept emanzipieren, doch die Bilder im Kopf bleiben. In England habe ich eine frechere Herangehensweise an den Stil entdeckt. Als auslän­dische Studentin habe ich meinen Blick auf die kulturellen Unterschiede gelenkt. Das mediterrane Ambiente unterscheidet sich sehr stark von dem in England! Nur schon durch die kräftigen Farben, die am Mittelmeer allgegenwärtig sind. Mir gefällt der Gedanke, dass das immer graue Wetter in London mich zur Farbe drängt.

Kamen Sie nach London, um von der Mode zu leben?

Überhaupt nicht! Ich kam eigentlich nur für ein Auslandssemester, da mein Freund damals hier Medizin studiert hat. Es hat mich also mehr durch Zufall hierher verschlagen. Doch dann gefiel mir die Stadt und meine Kurse in angewandtem Design waren so gut, dass die Mode nach und nach wichtiger wurde.

Wir erleben in der Modewelt eine spannende Zeit, fast eine Art Stillstand. Wie viele verschiedene Kleidungsstücke benötigt eine Person tatsächlich?

Es ist offensichtlich, dass es zurzeit zu viele Produkte zu kaufen gibt. Darüber hinaus stellt man eine Verlangsamung des Rhythmus fest, in dem neue Kollektionen entstehen. Die Herausforderung für jede Marke ist es, ein Universum zu schaffen, in das die Kunden eintauchen wollen. Wir haben mit spektakulären Abendkleidern angefangen – nun entwickeln wir uns in die Richtung des Alltäglichen: Schmuck, personalisierbare Grusskarten und vielleicht bald auch schon kleine Gegenstände. Nach der Liebe auf den ersten Blick wird die Beziehung zu einer Marke inniger und stützt sich auf eine gewisse Weltanschauung, auf ästhetische und manchmal auch soziale Werte im Zusammenhang mit der Herstellung. Der nächste Schritt wird eine Boutique mit eigenem Namen sein, die unser Universum verkörpern soll.

Was war rückblickend das Befriedigenste und was das Schwierigste, das Sie erlebt haben?

Ich habe es geliebt, die Marke wachsen zu sehen und mich von kreativen Ausflügen überraschen zu lassen. Der Swiss Textiles Award stellte 2010 einen Wendepunkt dar, insbesondere in Sachen Selbstvertrauen. Ich hatte nie zuvor einen Preis gewonnen und ein beschränktes Bild meiner Kapazitäten. Als ich nominiert wurde, war ich fast schon verzweifelt: Ich dachte, es sei noch zu früh und dass ich eine schlechte Figur machen würde. Als ich dann in Zürich zur Gewinnerin ernannt wurde, brach ich in Tränen aus – was mir so gar nicht ähnlich sieht. Wenn ich dies so erzähle, scheint es trivial, doch kaum jemand realisiert, wie sehr sich mein Leben in diesem Moment verändert hat. Eine Offenbarung! Zum ersten Mal habe ich verstanden, dass es für mich keine Grenzen gibt – dass es für niemanden Grenzen gibt, der ein waches Auge auf die Welt hat, nicht stehen bleibt und darin bestrebt ist, die Dinge immer besser zu machen. Ja, das Preisgeld hat es mir auch erlaubt, in mein Studio zu investieren, doch in symbolischer Hinsicht war dieser Preis für mich der Anfang von allem.

Waren Sie in London auf sich alleine gestellt?

Ich hatte nie Geschäftspartner. Aber mein Freund hat mich stark unterstützt. Er bot mir eine Sicht von aussen und er war die Stimme der Vernunft. Doch ich bin stets Leuten begegnet, die mir im richtigen Moment einen Schubs gegeben haben.

Sie verwenden immer den Plural, wenn Sie von Ihrer Arbeit sprechen. Ihr Team bedeutet Ihnen offensichtlich viel.

Selbstverständlich! Wir sind ein Team von 25 bis 30 Personen. Ur­sprünglich waren wir mehr, vor allem junge, nicht sehr erfahrene Menschen. Wenn heute jemand das Unternehmen verlässt, kann ich es mir erlauben, ihn oder sie durch erfahrene Fachleute zu ersetzen. Dank ihres Wissens können sie einen wichtigen Unterschied in Sachen Produktion und Verkauf machen. Ich lanciere zwar die Kollektionen, doch dann werden die Entwürfe im Team aufgeteilt. Ein Grossteil unserer Energie geht in die Entwicklung von Textilien. Glücklicherweise haben wir tolle Partner, die uns bei der Realisierung unserer Träume helfen, wie etwa das Stickerei-Unternehmen Forster Rohner in St. Gallen.

Sie tragen selten eine ihrer Schöpfungen, warum?

Ich trage meist Schwarz. Dies dient der Konzentration: Wenn man sich intensiv seiner Fantasie hingibt und Träume und Farben bearbeitet, dann will man als Person davon Abstand nehmen. Ich möchte meine Energie nicht damit verschwenden, jeden Morgen das perfekte Aussehen zu kreieren. Farben und meine eigene Marke trage ich lediglich in meinen Ferien.

Offene Schuhe aus der Prêt-à-porter Kollektion Frühling/Sommer 2018.

Und wie sieht es bei Ihnen Zuhause aus?

Ebenso total minimalistisch. Weisse Wände, hölzerne Fussböden, nichts Farbiges oder Dekoratives. Wenn ich nach Hause komme, ist dies, wie wenn ein Künstler seine Palette wäscht.

Die Ferien verbringen Sie in Griechenland?

Ja, um die Familie zu sehen. Ich habe dann immer das Gefühl, in die Vergangenheit zurückzukehren  … Es ist ein sanftes und unschuldiges Gefühl, da ich das Land mit 19 verlassen habe.

Was ist Ihr nächster Traum?

Noch zehn weitere Jahre leidenschaftlich kreativ sein zu können. Die Herausforderung für jeden Designer ist es, sich nicht der Selbstzufriedenheit hinzugeben und nicht abzustumpfen. Die Mode ist ein Anfang, doch ich sehe mich in meinem Beruf als Kuratorin für Schönheit. Ich weiss, dass ich sehr glücklich sein werde, solange ich dies tun kann. So fühle ich mich lebendig.

Kleid in Puppenoptik