Seit 50 Jahren prägt Philippe Starck die internationale Designszene. Doch der Tausendsassa erkundet auch gerne neue Spielfelder, derzeit das der künstlichen Intelligenz.

Ihn vorstellen? überflüssig. Philippe Starck, 75, ist seit den frühen 1980er-Jahren der wohl berühmteste und bis heute produktivste Designer der Welt: von der Alessi-Zitronenpresse bis zu einer preiswerten Zahnbürste, von Steve Jobs’ Superyacht über Hotels und Möbel bis zu den Wohnmodulen der privat entwickelten Raumstation Axiom, die die NASA auch für die Internationale Raumstation (ISS) nutzen will. Über 10  000 Projekten, Objekten und Orten hat Starck seinen Stempel aufgedrückt und das Design demokratisiert. So international die Wohnsitze des Franzosen sind, so sind es auch seine mannigfaltigen Projekte: Gerade war er in Doha, wo er Architektur und Design der Qatar Preparatory School, der ersten lokalen Berufsschule für die Kreativbranche, übernommen hat.

Morgen fliegt er nach London, wo er für die noch geheime Kampagne einer Modemarke als Model posiert. Auf der diesjährigen Mailänder Möbelmesse tanzt er gleich auf mehreren Hochzeiten: Für die Ausstellung über Alessandro Mendini im Triennale-Museum wird er einen immersiven Raum schaffen, in dem er eine imaginäre Reise in den Kopf des italienischen Kollegen unternimmt. Für Kartell stellt er neue Objekte vor, ebenso für Glas Italia und Driade und blickt auf drei Jahrzehnte Zusammenarbeit mit Cassina zurück. Wir treffen Starck im Hotel «Brach» in Paris, das er 2018 gestaltete und wo der deutsche Armaturenhersteller Axor seine 30-jährige Partnerschaft mit ihm feiert. 1994 kam die erste Badkollektion von Starck für Axor heraus – seither hat der Franzose viele der Bestseller der Designlinie des Sanitärunternehmens Hansgrohe entworfen.

Wie hat die Zusammenarbeit mit Axor begonnen?

Auf Formentera. Ich lag dösend auf meiner Terrasse – es war ein brütend heisser August, und plötzlich sprach mich ein kleiner, durchtrainierter, bärtiger Mann auf dem Fahrrad an, total verschwitzt. Er stellte sich als Klaus Grohe vor, er stelle Armaturen her und würde gern mit mir arbeiten. Damit rannte er bei mir offene Türen ein. Ich habe eine geradezu libidinöse Beziehung zu Wasser, ich liebe es! Aus dem Wasser kommen wir, aus Wasser sind wir gemacht. Doch unser täglicher Kontakt damit im Badezimmer war zu dem Zeitpunkt sehr technisch, so hässlich. Allein das Wort Nasszelle sagte schon alles. Ich lud ihn zu einem Glas Wasser ein, und wir begannen in der Küche sofort, Ideen auszutauschen. Sie sprudelten nur so – es war ein wunderbarer Anfangsmoment einer langen, fruchtbaren und kreativen Beziehung.

Sie entwarfen immer schon sehr unterschiedliche Dinge. Wie nähern Sie sich neuen Aufgaben und unbekannten Disziplinen?

Immer auf dieselbe Art: Ich arbeite nur mit meinem Hirn, Papier und Stift, ganz organisch. Im akademischen Sinne des Wortes bin ich nicht mal intelligent. Ich kann nicht rechnen, kann mir keine Namen merken, ich bin neurodivergent (Starck diagnostiziert sich selbst eine leichte Form von Autismus, das Asperger-Syndrom, A. d. R.). Mein Kopf ist aber einer der schnellsten, kreativsten und intuitivsten Computer, die es gibt. Jeden Tag erschaffe ich extrem einfache oder komplizierte Dinge, ohne grosses Fachwissen darüber zu haben. Manchmal gelingt mir das sogar besser als den Ingenieuren. Ich liebe die Wissenschaft und die Menschen, die sie betreiben. Ich verstehe nicht alles, aber ich verstehe ihre Musik.

Und wie war es bei Ihrer ersten Badkollektion für Axor?

Ich dachte an unsere Beziehung zu Wasser. Als es noch keine Leitungen gab, transportierten wir Wasser in Kesseln – daher kam mir spontan die Idee eines Waschbeckens in Kesselform. Dann erfand der Mensch Brunnen, später Pumpen. All diese Assoziationen flossen auch in meine späteren Designs ein. Es gibt für mich zwei bewährte Strategien der Annäherung: entweder sehr komplizierte Dinge erst einfach zu denken – oder einfache Dinge kompliziert.

Eine schlichte Dusche, eine der neuesten Kreationen des Designers für das Haus Axor.

Trotz Ihrer analogen Arbeitsweise waren Sie einer der ersten Designer, die ein Produkt mit künstlicher Intelligenz entwickelten. Bereits 2019 stellten Sie auf der Mailänder Möbelmesse einen AI-Stuhl für Kartell vor.

Fasziniert vom Schachweltmeister Garri Kasparow, der schon 1997 gegen den Supercomputer Deep Blue verlor, wollte ich mich mit dem Stuhl A.I. in Position bringen. Zusammen mit den grossartigen Leuten von Autodesk stellte ich dem Programm die Frage: AI, kannst du mir helfen, meinen Körper auf einem Minimum an Materie und Energie auszuruhen? Eine kalte, knappe Frage. Ich wollte, dass es keine sentimentale oder kulturelle Einmischung des Menschen gibt. Die Maschine war völlig verloren. Zwei Jahre lang rechnete und rechnete sie. Es gibt darüber einen sehr schönen Film. Man sieht ihr Zögern: wie sie Fehler macht, wieder zum Anfangspunkt zurückkehrt und es aufs Neue versucht. So oft, dass ich fast aufgeben wollte.

Wie haben Sie die Spirale durchbrochen?

Ein Freund, ein Wissenschaftler, erinnerte mich daran, wie erstaunt ich mal war über die Entdeckung, dass sich die Hand eines Fötus entwickelt, indem sich die Handfläche langsam aushöhlt und so die Finger formt. Nicht die Finger wachsen, die Leere wächst! Ich war sehr beeindruckt von diesem umgekehrten Prozess, und so kamen wir auf die Idee, der Maschine zu sagen, für ihre Aufgabe anders vorzugehen: nämlich eine Form zu zerstören, anstatt eine zu konstruieren. Dann ging alles ganz schnell: Sie lieferte uns den gewünschten Stuhl, für mich der beste der Welt. Mit einem Minimum an Energie und Material, nun sogar aus recyceltem Ökoplastik.

Die Maschine hat Sie also geschlagen?

Ja, genau wie Kasparow. Alle denken, es war ein PR-Gag. Das Lustige daran ist, dass mein eigener Stil mit nur meiner Frage und der Logik des KI-Programms reproduziert wurde. Tatsächlich haben die Maschine und ich dieselbe Herangehensweise beim Stuhl eingesetzt: das Minimum als höchstes Ideal.

Fasziniert von den Fähigkeiten von AI, bat er sie, sich eine typische «starcksche» Konsole für das Haus Kartell auszudenken. Das Ergebnis ist verblüffend.

Dennoch sieht der Stuhl erstaunlich organisch, fast pflanzlich aus …

Das ist der zweite interessante Aspekt! Die Maschine hat aus sich selbst heraus zu demselben Gestaltungsprinzip gefunden wie die Natur. Jeder Biologe weiss, dass die Natur ein guter Ökonom ist: Jede Pflanze wächst mit einem Minimum an Wasser und Energie.

Haben Sie neue Designprojekte mit künstlicher Intelligenz?

Ich werde die AI-Programme bitten, Starck zu machen! Wir füttern sie mit meinen Designs aus über 40 Jahren und sagen dann: Entwirf mir einen Starck-Wasserhahn, ein Starck-Waschbecken, eine Starck-Lampe, was auch immer. Die ersten Tests sind schon unglaublich! Auf gewisse Weise macht die AI Starck teils besser als Starck selbst!

Sie wollen sich als Designer also quasi auslöschen?

Philosophisch habe ich damit kein Problem. Ich mache mir nur Sorgen in Bezug auf das Urheberrecht und weiss noch nicht, was da auf uns Kreative zukommt. Denn mein Haupteinkommen heute besteht aus meinen Urheberrechten. Aber in Zukunft? Sie werden dem gehören, der der Maschine sagt: Mach mir ein Starck-Design. Und der auf den Knopf drückt. Seit Jahren spreche ich über das zukünftige Verschwinden von Designern. Über die Dematerialisierung. Ich hätte nur nicht geglaubt, dass es so schnell geht. Heute können sich die AI selbst generieren, sie reden autark miteinander. Es gibt keine Autoren und Programmierer mehr. Nur Abermilliarden von Bits.

Noch sind Sie aber hyperaktiv…

Die AI kam zu mir in einem Moment, als ich mich mit mir selbst zu langweilen begann. Langeweile führt zu Faulheit, und Faulheit macht mich rasend! Wir Menschen haben die Pflicht, uns immer wieder neu anzustrengen, neue Lösungen zu finden, um die Welt besser zu machen, der Evolution zu dienen.

Philippe Starck hat auch das Hotel Lily of the Valley, das an eine kalifornische Villa erinnert, in den Hügeln nahe Saint-Tropez entworfen.

Wissenschaftlicher haben mit dem umgekehrten Flynn-Effekt festgestellt, dass die Intelligenz seit den 1990er-Jahren zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit abnimmt. Zeitgleich werden Maschinen immer intelligenter.

Unsere einzige Legitimation, als Menschen zu existieren, sind unsere Intelligenz und unsere Kreativität. Wenn wir faul werden und aufhören, nach Intelligenz und Wissen zu streben, entwickeln wir uns zurück zu Amöben. Bildung wird immer wichtiger, wir dürfen auf keinen Fall dümmer als unsere Maschinen werden.

Was schlagen Sie vor?

Sehr wachsam bleiben und sich beim Umgang mit ihnen so weit wie möglich zurückhalten, den Big-Tech-Unternehmen so wenig Daten wie möglich schenken, um den Zeitpunkt so lange wie möglich hinauszuzögern, an dem die Maschinen die Kontrolle übernehmen.

Und wenn Sie einen Algorithmus in alle AI einpflanzen könnten, eine feste Handlungsmaxime, an der sie alle zukünftigen Entscheidungen messen: Welche wäre das?

Ich habe meine Tochter Justice, Gerechtigkeit, genannt. Ich denke, es wäre Gerechtigkeit. Der Begriff ist leider so abstrakt geworden, dass viele Menschen nicht mehr wissen, wie wichtig sie ist.

Einer seiner jüngsten Entwürfe für Kartell, der am Salone del Mobile 2024 in Mailand präsentiert wird.

Sie blicken auf ein enorm umfangreiches Werk als Designer zurück. Woher kommt Ihre Produktivität?

Ich habe diese psychische Erkrankung, die sich Kreativität nennt – und ich habe diese unglaublichen Träume nachts. Meine Frau träumt immer von realen Personen oder Situationen, aber ich? Ich wandle im Schlaf durch Welten, die es nicht gibt. Ich sehe unglaubliche Erfindungen, die es nicht gibt. Ohne Scherz, ich frage mich oft, was eigentlich mein echtes Leben ist. Das am Tag oder das in der Nacht? Ist es meine Neurodivergenz, die mich so übermässig träumen lässt und mir diese Kreativität verleiht, oder ist es umgekehrt?

Une tagsüber – wie stimulieren Sie da Ihre Kreativität?

Durch Wechselduschen zum Beispiel! Die können im Gehirn echte Wunder bewirken. Ansonsten kann ich dank meiner wunderbaren Frau Jasmine das Leben eines kreativen Mönches führen. Seit 18 Jahren nun schon, für jedes neue Ehejahr lasse ich mir einen Punkt auf den Arm tätowieren. Ich habe kein Smartphone. All diese Technik beschwert lediglich. Ich träume nur – und bin frei.

Feuille vierge

Was sind die Werkzeuge von Philippe Starck? Ganz einfach: sein Gehirn, ein Bleistift oder Filzstift und ein Blatt Papier. Ob er sich nun einen Wasserhahn für das Axor-Haus (Foto) oder eine Raumkapsel ausdenkt.