Die Belle Province, die lange Zeit als Feinschmeckerziel ignoriert wurde, steckt voller Überraschungen. Montreal profiliert sich als ihre gastronomische Hauptstadt.

Wenn man darüber nachdenkt: Es ist schon ein bisschen ungerecht! Während die meisten Metropolen der Welt eine Sehenswürdigkeit haben, anhand deren man sie auf den ersten Blick identifiziert (die Oper in Sydney! Die Elbphilharmonie in Hamburg!), ist Montreal ein Waisenkind. Keine Brücke, keine Statue, nicht einmal ein Gebäude, bei dessen Anblick eine Glühbirne über unseren Köpfen aufleuchtet: Klaro befinden wir uns in Montreal! Es gibt zwar das Olympiastadion mit seinem seltsamen schiefen Turm, aber die vielen Pleiten und Pannen rund um seine Entstehung sind nichts, worauf die Einheimischen unbedingt stolz sind.

Doch was der Hauptstadt der Provinz Québec an Architektur fehlt, wird glücklicherweise durch ein anderes Element wettgemacht, das unserer Meinung nach viel wertvoller ist: eine Gastronomieszene, die blubbert und brodelt. Aufstrebende Küchenchefs reichen engagierten Winzern die Hand – nicht nur in Paris werden die nächsten Geschmacksüberraschungen vorbereitet. Hier, 6000 Kilometer vom alten Kontinent entfernt, werden stille Revolutionen in Gang gesetzt, ohne Pauken und Trompeten, sondern mit Bescheidenheit und Widerstandsfähigkeit.

Das Erste, was Sie tun sollten, bevor Sie eine kulinarische Entdeckungsreise durch die Region unternehmen, ist recht einfach: Räumen Sie mit vorgefassten Meinungen auf! Wie zum Beispiel: «Wirst du Poutine essen?» Auch wenn einige Köche mit ihren Neuinterpretationen dieses legendären, kalorienreichen Gerichts für Aufsehen sorgten und sorgen, wie zum Beispiel der Chefkoch Martin Picard mit seiner Poutine au foie gras (Restaurant «Au pied de cochon»), besteht die Gastronomie der Provinz Québec, die 37-Mal so gross ist wie die Schweiz, nicht nur aus Pommes frites, körnigem Käse und brauner Sauce.

Um den Gourmetpuls einer Stadt zu fühlen und ganz nebenbei ihre Bewohner besser kennenzulernen, geht nichts über einen Spaziergang über ihre Märkte. Montreal, die grösste Stadt der Provinz, ist da keine Ausnahme. Der Markt Jean-Talon liegt im Herzen des Viertels Petite Italie an der Kreuzung zweier U-Bahn-Linien und ist das ganze Jahr über gut besucht – trotz der polaren Kälte, die hier im Winter oftmals herrscht. Je nach Jahreszeit kann man die Liebe der Einheimischen zu Wassermelonen oder zu Mais, die Vielfalt der Tomaten und Peperoni entdecken. Im Herbst sind es Berge von Kürbissen, die uns daran erinnern, dass Halloween auch in Kanada ausgiebig gefeiert wird. Und dann wäre da noch die Neugierde auf Gewürze aus aller Welt, die man im Epices de cru befriedigen kann. Der Laden wird von einer lokalen Berühmtheit geführt: Ethné de Vienne hat mehrere Kochbücher verfasst. 

Ein Paradies für Feinschmecker

Rundherum haben sich Läden und Bistros eingerichtet, die nach und nach das ganze Viertel gentrifizieren. Der legendäre Lebensmittelladen Milano auf dem Boulevard Saint-Laurent – wo jeder Liebhaber der italienischen Küche sein Glück findet  –
wurde vergrössert, im Laufe der Jahre kamen zahlreiche weitere Feinschmeckerläden hinzu, um den neuen Hunger nach hervorragenden lokalen Produkten zu stillen. Liebhaber von Naturweinen oder Mikrobrauereien könnten angesichts der riesigen Auswahl bei Peluso (ach, die Schönheit und die Originalität der Etiketten von den Weinen und Bieren aus Québec!) ein Stendhal-Syndrom bekommen, während Zuckerschnuten bei Eclats de Choc aufpassen müssen, nicht das Limit ihrer Kreditkarte zu überschreiten. Inmitten der grossen Auswahl an kanadischen und internationalen Süssigkeiten findet sich auch ein helvetisches Etikett: L’Esterre 80 aus dem Hause Orfève – Jahrgang 2022, um genau zu sein. Eine dunkle Schokolade mit Bohnen aus Grenada.

Gwenaëlle Reyt, die im Café Saint-Henri gegenüber dem Markt Jean Talon sitzt, ist gebürtige Lausannerin, die nach Montreal ausgewandert ist. In ihrer Doktorarbeit befasste sie sich mit Restaurants in Montreal zwischen 1960 und heute, untersuchte ihre Rolle bei der Konstruktion kulinarischer Identitäten in Québec. Inzwischen unterrichtet sie an der Universität den Kurs «Tourismus und Freizeitgestaltung für Feinschmecker». Sie erklärt: «Nur in Vancouver und Toronto gibt es seit 2022 Sternerestaurants. In Montreal und in ganz Québec gibt es Köche, die den Guide Michelin gerne in der Provinz sehen würden. Aber auch ohne Guide ist die lokale Gastronomieszene sehr innovativ und dynamisch.» Urbane Bauernhöfe, begrünte Dächer, Weinberge und Bienenstöcke – die Stadt entdeckt die Regionalität wieder. «Seit den 2000er-Jahren findet in Québec eine Renaissance lokaler Produkte statt. Das sieht man auch auf den Speisekarten der Restaurants in Montreal. Die Stadt versucht, sich als neue gastronomische Hauptstadt Nordamerikas zu etablieren.»

Ahorn, der Superstar

Bei all den Köstlichkeiten darf man natürlich eine nicht vergessen – den lokalen Star, den Ahornsirup. Auch er erfährt, nicht zuletzt dank junger Generationen, die die Ahornplantagen übernehmen, ein Revival. Nur auf Pancakes? Mitnichten! Auf der Türschwelle des kleinen Ladenateliers in der Domaine des 15 lots im Stadtteil Maisonneuve empfängt Nathalie Simoneau ihre Besucher mit einem Lächeln. Jeden Frühling – solange es nachts noch friert – zapfen sie und ihr kleines Team das Ahornwasser von den 4500 Bäumen ihrer Domäne. Ob golden, bernsteinfarben oder dunkel, man lernt, dass Ahornsirup wie ein Wein verkostet werden kann. Die gelernte Konditorin, die für grosse Hotels und Restaurants arbeitete, hat ihren Store 2019 eröffnet. «Ich habe Ahornsirup an meine Freunde verkauft. Sie meinten, wir würden den besten produzieren, den sie je gekostet hätten. Also beschloss ich, ihn zu vermarkten!» Zudem bietet Simoneau Backwaren an, bei denen der Zucker vollständig durch den wertvollen Nektar ersetzt wird. Hat dieser doch einen günstigeren glykämischen Index. «In der Ahornplantage und hinter dem Herd bewahre ich die Traditionen, während ich versuche, unseren ökologischen Fussabdruck so klein wie möglich zu halten.»

Im nur eine Autostunde entfernten Rigaud heissen die berühmte Bergzuckerfabrik und ihr bärtiger Patriarch Pierre Faucher die Besucher willkommen, um sie in die Geheimnisse des Ahorns einzuweihen. Aber auch, wer die ultratypischen Gerichte der Region kennenlernen möchte, ist hier richtig. Wie eine Zeitkapsel, die das Postkarten-Québec heraufbeschwört, das aus grossen Kupfertöpfen, Blockhütten und karierten Hemden besteht. Hier gibt es Erbsensuppe, Schinken mit Zucker, Omelette und Akkordeonmusik. Und die Garantie, mit vollem Magen nach Hause zu gehen. 

Man muss nicht stundenlang unterwegs sein, um einen guten Einblick in den Reichtum des Terroirs von Québec zu erhalten. Weiter östlich, im Cantons-de-L’Est, reihen sich Obstplantagen, Mikrobrauereien und Käsereien nebeneinander. Wir halten im kleinen Dorf Sutton, um ein Pint IPA in der wunderschönen Sutton Brouërie und einen Naturwein bei La Réserve Naturelle zu kosten. Denn ja, die Trauben wachsen gut – sogar immer besser – im Süden Québecs, genauso wie in der Montérégie. Also zögert man nicht, autochthone Rebsorten zu testen, wie den komplexen Frontenac noir oder den delikaten Seyval.

Vielleicht ist man hier weit genug entfernt von den Weinbergen in Bordeaux oder im Burgund, um sich nicht zu schämen, etwas zu wagen. Geschmack, Methoden, Flaschendesign – der Wein made in Québec versucht, sich vom französischen «Klassizismus» abzuheben. Vielleicht ist das sogar die Besonderheit der Gastronomie: Sie musste lernen, sich von der Fastfood-Küche der angrenzenden USA zu distanzieren (und gleichzeitig eine gewisse Kühnheit zu übernehmen), ohne zu versuchen, das zu kopieren, was in Frankreich gemacht wird. Ein Balanceakt also. Aber mit denen kennt man sich aus: Stammt doch auch der berühmte Cirque du Soleil aus Montreal. 

Unsere Adressen

Unterkunft

Das Hotel Fairmont Reine Elizabeth liegt ideal in der Innenstadt von Montreal und ist mit dem Hauptbahnhof verbunden. Ausserdem beherbergt es das Restaurant Rosélys, das Café Krema und einen Kunsthandwerkermarkt (Marché des Artisans).

Restaurants

Foxy in Montreal: Eine schicke Rotisserie-Atmosphäre ist garantiert! Hier wird alles über  dem offenem Feuer gegart, das Teil der Einrichtung ist. Die Kellner erzählen Ihnen gerne die Geschichte jedes Gemüses, Käses oder Fleischstücks (alles aus der Region).


Annette:
Die Weinbar in Montreal liegt im Viertel Rosemont, dem nächsten Stadtteil Montreals, der sich gentrifizieren wird, und ist das neueste Bistro von  Küchenchef Marc-André Jetté und seiner Partnerin Mila Rishkova, die bereits für ihr Restaurant «Hoogan & Beaufort» und ihre Metzgerei Edouard et Léo bekannt sind. Entenpastete im Teig, eingelegtes Gemüse oder gebratene Pilze (besondere Erwähnung) – alles ist delikat und stammt aus der Region.


Espace Old Mill
in der Region Cantons-de-l’Est: 

Der TV-Star Jean-Martin Fortier setzt sich unermüdlich für eine nachhaltigere Landwirtschaft ein. Hier stammt das meiste Gemüse aus dem angrenzenden Garten, das Team stellt über 30 Erzeuger aus der Region vor. 


Coureur des Bois
in Beloeil: Die Küche von Jean-Sébastien Giguère ist unbedingt einen Besuch wert, da sie saisonale lokale Produkte hervorhebt. Das Sahnehäubchen: Das Lokal verfügt über einen der schönsten Weinkeller in Québec. 

Geheimtipps

Crew Café: Mitten in Downtown Montreal ist dies der spektakulärste Ort, um sich einen Koffeinschub zu holen. Das majestätische Gebäude beherbergte einst eine Bank. Fast nichts hat sich verändert, Macchiatos und Espressos haben einfach die Goldbarren ersetzt. Wunderschön!


Abbaye de Saint-Benoît-du-Lac:
Das 1912 erbaute Kloster, das den Memphrémagog-See überblickt, ist wegen seiner erstaunlich modernen Architektur und seines Ladens, in dem verschiedene von den Mönchen hergestellte Produkte angeboten werden, einen Besuch wert: Apfelwein, Apfelmus – und vor allem vorzüglicher Käse. Egal ob Fontina, Blauschimmelkäse oder «Schweizer Käse» made in Québec. 


Weingut Côte de Vaudreuil:
Frontenac, Marquette, Seyval: Man ist überrascht angesichts der autochthonen Rebsorten. Während Naturwein in Québec in Mode ist, hat sich Winzer Serge Primi für einen klassischeren Weg entschieden. Versuchen Sie den Côte Rouge Réserve!