Der mongolische Kaschmir ist einer der wertvollsten der Welt. Doch er ist durch die Klimaveränderungen und die Überweidung bedroht. Ein Besuch im Reich der Langhaarziegen.
An einem kalten Frühlingsmorgen wacht der 37-jährige Ganbaatar Davaasuren auf, als die Sonne ihre ersten Strahlen über die Hügel entlang des Flusses Mukhdag wirft. Nachdem er eine Schüssel Tsuivan – ein traditionelles Gericht aus Nudeln, Kartoffeln und Trockenfleisch – verschlungen hat, nimmt er sich ein paar Minuten Zeit, um mit seiner zweijährigen Tochter Ariunbileg zu spielen. Bald jedoch muss er dem eisigen Wind trotzen und zu Pferd über den gefrorenen Fluss reiten, um sich um das Vieh zu kümmern.
Davaasuren, der nach seinem ersten Laut als Baby Bukhuu genannt wird, hat sein ganzes Leben in der Provinz Uvurkhangai in der Zentralmongolei verbracht. Er ist Viehzüchter wie sein Vater, sein Grossvater und alle seine Vorfahren: Seine Familie besitzt etwa hundert Tiere, darunter Schafe, Ziegen, Kühe, Yaks und Pferde. «Ich liebe meinen Beruf», sagt er, während er seine Tochter an sich drückt. «Es gibt keine schönere Befriedigung für mich, als meine Tiere gemeinsam mit meinen Kindern zu versorgen.»
Nachdem er kontrolliert hat, wo genau sein Vieh heute weidet, wird Bukhuu im nahe gelegenen Wald Holz holen und dann seiner Frau helfen, die Ziegen zusammenzutreiben. Sie produzieren eine der teuersten und begehrtesten Fasern der Welt: Kaschmir.
40 Prozent des weltweiten Kaschmirs kommen von diesen unberührten, windgepeitschten Hochebenen. Die Faser stammt aus dem Unterhaar der Ziegen. In der kalten Jahreszeit wächst es in dichten Büscheln, im Frühjahr, wenn die Temperaturen steigen, wird es mit Metallbürsten entfernt. Die einheimischen Ziegen entwickeln ein besonders dichtes Fell, um die sehr harten Winter mit Temperaturen von bis zu –40 Grad Celsius zu überleben. Dies macht den mongolischen Kaschmir zu einem der besten der Welt.
Das Bürsten ist harte Arbeit, die je nach Grösse des Viehbestands ganze Hirtenfamilien wochenlang beschäftigen kann. Anschliessend wird der Rohkaschmir an Zwischenhändler verkauft und in die Hauptstadt Ulaanbataar transportiert, wo er gewaschen und von Unreinheiten befreit wird. Der weitaus grösste Teil des mongolischen Kaschmirs wird dann als Rohstoff in das benachbarte China verkauft, von wo aus er auf dem Weltmarkt vertrieben wird.
In den letzten Jahrzehnten ist der Kaschmir zum Lebenselixir der örtlichen Züchter geworden. Er sichert den Lebensunterhalt von über 170 000 Familien und ist für ein Drittel der mongolischen Bevölkerung zur Haupteinnahmequelle geworden. «Ohne Kaschmir hätten wir nicht so viele Ziegen und würden sicherlich viel weniger verdienen», bestätigt Bukhuu, dessen Familie jährlich etwa 1000 US-Dollar mit den Tieren einnimmt. Mit diesem Geld konnte sich die Familie einige «Luxusgüter» leisten – ein Solarpanel, ein Motorrad – und ihren Lebensstandard knapp über das Existenzminimum anheben.
Seit Jahrtausenden führen die mongolischen Hirten ein isoliertes und autarkes Leben, erwirtschaften ihr Einkommen von der Viehzucht und dem Verkauf von Fellen, Milchprodukten und Fleisch. Sie sind die letzten Hüter einer nomadischen Lebensweise, die weltweit langsam verschwindet. Viehzüchter ziehen mehrmals im Jahr auf der Suche nach saftigen Weiden umher und entfernen sich dabei manchmal mehrere hundert Kilometer von ihrer Heimat. Sie führen ein karges Leben, ihre einzigen materiellen Besitztümer sind ein Schlafsofa, ein Metallofen und zwei oder drei Möbelstücke, die noch in ihre Ger passen, die Jurten aus Holz- und Leinwand, in denen sie leben. Das mobile Zuhause kann innerhalb weniger Stunden an jedem beliebigen Ort ab- und wieder aufgebaut werden.
Der Klimawandel ist deutlich spürbar
In einem Land, das so kalt und trocken ist, dass Landwirtschaft fast unmöglich ist, ist das Vieh die einzige Lebensgrundlage der Viehzüchter. Die mongolischen Nomaden behandeln ihre Tiere mit Liebe und Respekt. Dies rührt aus dem gegenseitigen Bedürfnis heraus, in einer der feindlichsten natürlichen Umgebungen der Erde zu überleben. Pferde werden von den Viehzüchtern am meisten verehrt und repräsentieren wie kein anderes Tier das Nomadenleben. Einst waren sie das wichtigste Transportmittel, doch mit der Zeit wurden sie zu einem Statussymbol. Jede Ger hat eine Ecke, die den Medaillen gewidmet ist, die beim Naadam gewonnen wurden, einem traditionellen Sommerfest, bei dem die Viehzüchter im Ringen, Bogenschiessen und Pferderennen gegeneinander antreten.
Die Aufzucht des Viehs in einer solch rauen Umgebung ist alles andere als eine leichte Aufgabe. Ohne die Vorteile der modernen Viehzucht kann jede Veränderung der klimatischen Bedingungen schwerwiegende Folgen für die Herden haben. Wenn die Weiden im Sommer aufgrund von Regenmangel nicht ausreichend Wasser erhalten, ist das Vieh nicht in der Lage, das Fett zu produzieren, das es zum Überleben in der kalten Jahreszeit benötigt. Eine Dürre, auf die ein besonders strenger Winter folgt, kann so verheerende Auswirkungen auf das Vieh haben, dass die Mongolen für ein solches Ereignis einen eigenen Begriff haben: Dzud.
Tserennadmid Khaltarkhuu, ein 44-jähriger Viehzüchter aus der Region Gobi, erinnert sich noch an den Dzud im Jahr 2001, als wäre es gestern gewesen: «Meine Frau und ich hatten gerade erst geheiratet. Unsere Familien hatten uns rund 200 Tiere geschenkt, um unser gemeinsames Leben zu beginnen. Nach dem schrecklichen Winter waren es nur noch 30.» Die Gefahren des Dzud sind den Viehzüchtern immer präsent, aber in den vergangenen Jahrzehnten haben viele von ihnen auch die weniger extremen, aber subtilen Folgen des Klimawandels bemerkt: In der Mongolei sind die Temperaturen in den letzten 80 Jahren bereits um mehr als zwei Grad Celsius gestiegen, was weit über dem weltweiten Durchschnitt liegt.
Auf mildere Winter – die die Qualität des Kaschmirs beeinträchtigen können – folgen nun lange, trockene Frühlinge und kurze Sommer, in denen es nicht genug regnet, um die Weiden zu wässern. 70 Prozent der mongolischen Weiden gelten bereits als degradiert. Die damit einhergehende Wüstenbildung stellt eine existenzielle Bedrohung für ein Land dar, in dem Viehzüchter noch 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Als das Geld in Strömen floss
«Als ich jung war, fütterten die Hirten die Tiere nie mit gekauftem Heu. Wir stellten unser eigenes her. Ich mache mir grosse Sorgen um die Zukunft», sagt Gandiimaa Bayasgalan, eine 46-jährige Viehzüchterin aus der Provinz Uvurkhangai. Laut Umweltorganisationen und Klimaexperten können sich die Viehzüchter nur dann an den Klimawandel anpassen, wenn sie den Druck auf die Weiden verringern, indem sie die Anzahl der Tiere – und insbesondere der Kaschmirziegen – reduzieren.
Denn nicht nur der Klimawandel beeinflusst die Vegetation. Auch die Intensivierung der Viehzucht trägt Schuld daran. Die Kaschmirproduktion in der Mongolei begann nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Land unter einem kommunistischen Regime stand. Die Ziegen sowie andere Tiere wurden auf staatlichen Farmen gezüchtet und ihre Anzahl reglementiert. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus und der aufkommenden Marktwirtschaft wurden die Herden privatisiert und die Mongolei wurde von chinesischen Händlern und Geschäftsleuten überschwemmt, die auf der Suche nach dem grossen Geld waren.
«Wir erkannten, dass wir selbst Ziegen züchten und Kaschmir an China verkaufen konnten. Es war ein grosser und durstiger Markt», erinnert sich Ishbaljir Battulga, ein ehemaliger Züchter und heutiger Export- und Marketingmanager bei Bodio’s, einem lokalen Kaschmirunternehmen. Jeder wollte Ziegen haben. Zwischen 2000 und 2021 stieg ihre Zahl von 10,2 Millionen auf 26,5 Millionen, was zur Überweidung und Wüstenbildung führte. Die Züchter sind sich des Problems durchaus bewusst, aber viele zögern, sich von einem Teil ihrer Einnahmequelle zu trennen. Ein Teufelskreis.
Ein Ausweg wäre die Rückkehr zu traditionellen Praktiken der Weidewirtschaft. In den letzten Jahren sind zahlreiche Kooperativen gegründet worden, die die Rotation der Tiere auf den Weideflächen koordinieren, um der Natur die Möglichkeit zu geben, sich zu erholen. Bisher gibt es jedoch keine Alternative, die das Einkommen durch die Kaschmirproduktion ersetzen könnte. Die wertvolle Faser ist der wirtschaftliche Rettungsanker, der für das Überleben einer traditionellen Lebensweise, die vom Aussterben bedroht ist, notwendig ist. In den letzten Jahrzehnten haben hunderttausende von Hirten die weiten Landschaften verlassen. Die meisten von ihnen arbeiten schliesslich in niederen Berufen in der Hauptstadt, einer endlosen Ausdehnung von trist wirkenden Fabriken und Wohnhäusern, in der mittlerweile fast die Hälfte der mongolischen Bevölkerung lebt.
Dank der Einnahmen aus dem Kaschmirhandel konnte Bukhuu im nächsten Dorf ein kleines Haus bauen, damit seine Kinder zur Schule gehen können. Am Wochenende kehren sie zu ihrer Familie zurück, um beim Bürsten der Ziegen und bei Hausarbeiten mitzuhelfen. Bisher hat jedoch keines seiner Kinder den Wunsch geäussert, die Tätigkeit ihres Vaters fortzusetzen. «Meine Jungs scheinen die Schule dem Hüten vorzuziehen, das ist nicht schlimm», gibt er zu. «Ich möchte, dass sie vorerst weiter lernen. Sie werden entscheiden, was sie im Leben machen wollen, wenn sie erwachsen sind.»
Khaltarkhuu, der Züchter in der Gobi, der den Dzud im Jahr 2001 überlebt hat, stand vor dem gleichen Problem. Nach den ersten schwierigen Jahren war seine Herde auf über 700 Schafe und Ziegen angewachsen, aber er brauchte jemanden, der sich nach seiner Pensionierung um die Tiere kümmern würde. Glücklicherweise entschieden sich seine beiden ältesten Söhne, in seine Fussstapfen zu treten, und sicherten so den Fortbestand des Familienbetriebs für die nächste Generation. «Ich bin sehr glücklich darüber, aber ich weiss, dass meine Kinder eine Ausnahme sind», erklärt er. Das Hüten von Herden bedeutet ständiges Arbeiten, ohne Pause. Es ist auch eine körperliche Herausforderung. «Das Leben in der Stadt ist leichter. Vielleicht ist es das, was unsere jungen Leute anzieht.»
Ich werde mich bis zu meinem letzten Atemzug um meine Tiere kümmern.
Die Sonne geht langsam über der Steppe unter, schimmert über dem Fluss Mukhdag. Bukhuu hat gerade das Striegeln für den Tag beendet. Während seine Kinder die Ziegen zurück in den Stall treiben und seine Frau den frisch gebürsteten Kaschmir in Plastiktüten stapelt, schwingt sich Bukhuu wieder auf sein Pferd. Er muss noch die Tiere zusammentreiben und seine Pferde füttern, bevor das Tageslicht verschwunden ist.
Das Naadam-Festival nähert sich mit grosser Geschwindigkeit. Bukhuu freut sich darauf, seine Söhne antreten zu sehen und weitere Medaillen an die Wände der Ger zu hängen. «Ich habe das Gefühl, dass meine Pferde dieses Jahr gewinnen werden. Meine Söhne werden sie reiten», erklärt er stolz. «Ich hoffe nur, dass sie ihrer Leidenschaft so folgen können, wie ich es getan habe. Ich habe meine Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen. Ich weiss, dass ich mich bis zu meinem letzten Atemzug um meine Tiere kümmern werde, egal, was passiert.»